Über das Buch »Kommt herunter, reiht euch ein…«. Eine Geschichte der Protestformen

Wie aus der Latschdemo der Flashmob wurde

Fahnen, Spuckis und Katzenmusik: Das Buch »Kommt herunter, reiht euch ein …« beschreibt eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen.

Frankfurt am Main, Oktober 2009: Während der Normalbürger sich im Einkaufszentrum dem Shopping widmet, haben sich ein paar Jugendliche zu einer Aktion zusammengefunden. Mit Zeitungen bewaffnet, fahren sie die Rolltreppe im Zentrum »My Zeil« rauf und runter und lesen dabei ihren Mitmenschen laut etwas vor. »Orientiert euch wieder mehr auf Bildung, weg vom Konsum«, zitiert die Frankfurter Rundschau die Botschaft der 35 Gleichgesinnten, die sich über das Internet zusammengefunden haben.
Solche Flashmobs – also online verabredete, vermeintlich spontane Ansammlungen von Menschen, die sich nicht persönlich kennen – finden immer öfter an öffentlichen oder halb­öffentlichen Plätzen in deutschen Großstädten statt. Gewerkschafter stürmen den Supermarkt und lassen Wagen voller Billigprodukte einfach an der Kasse zurück, Menschen verharren spontan in Stille, andere verschaffen sich mit inszenierten Jubelrufen Aufmerksamkeit, wie zuletzt bei diversen öffentlichen Auftritten von Angela Merkel kurz vor der Bundestagswahl.
Obwohl ihre Ursprungsidee unpolitisch war und mehr den Eventcharakter betonte, schließen Flashmobs eine inhaltliche Positionierung nicht aus. Im Gegenteil: So genannte Smart Mobs, die witzig und politisch zugleich sein wollen, bieten die ideale Protestform zwischen Latschdemos, zu denen kaum einer mehr geht, und Online-Petitionen, die keinen interessieren. Dass sie außerdem an die Traditionen der Spontibewegung anknüpfen und die Aufmerksamkeit der Medien erregen, macht sie endgültig zum Erfolgsmodell.
Werden sie also bald das Flugblatt, den Infostand und die Solidaritätskundgebung ersetzen? Möglich wäre es, und Klaus Schönberger und Ove Sutter, die Herausgeber des Buchs »Kommt herunter, reiht euch ein … : Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen«, stehen dieser Entwicklung recht wohlwollend gegenüber. Die aufwändig gestaltete Aufsatzsammlung, die die Ergebnisse eines studentischen Projekts am Hamburger Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie zusammenfasst, beschreibt nicht nur die Geschichte von etablierten und institutionalisierten Protestformen – also Streik, Demonstration und Bürgerbewegung –, sondern kümmert sich besonders um die – Stichwort: Flashmob – unkontrollierten und humorvollen Formen des kollektiven Verhinderns und Dagegenseins, in der Vergangenheit und in der Gegenwart.
Für Schönberger, Sutter und die zahlreichen studentischen Autorinnen und Autoren zählen dazu Charivaris, also Katzenmusik, mit der man in vormodernen Zeiten seinem Protest vor dem Haus des Gutsherrn oder Fürsten Luft machte, Straßentheater, Happenings, Graffiti, Tortenschlachten, Reclaim-the-Streets-Partys und vieles mehr. Also sorgsam inszenierte Proteste, die das Spiel mit den Medien verstehen und dabei noch gut aussehen. Diese haben heute einfach eine größere Chance, dass ihre Botschaften von der Umgebung auch registriert werden. »In aktuellen Protesten versuchen soziale Bewegungen zwar immer noch, ihren Wert, ihre Einheit, ihre große Zahl und ihr Engagement unter Beweis zu stellen. In einer medialisierten Welt müssen sie dafür allerdings in verschärftem Maße versuchen, Formen zu finden, die genügend Aufmerksamkeit erregen, um wahrgenommen zu werden.«
Der Trend geht also zum von den Medien vermittelten Protest. Doch wäre es vermessen, so zu tun, als würde sich Protest im 21. Jahrhundert völlig anders darstellen als in den sechziger Jahren oder sogar noch früher. Im Gegenteil: Die Formen, die soziale Bewegungen heute wählen, haben oft eine lange Geschichte, auch wenn diese den Aktivisten häufig nicht bewusst ist. Strategien erfahren zwar eine Angleichung, werden aber nicht grundlegend neu erfunden. Besonders überzeugend ist »Kommt herunter, reiht euch ein … « deshalb an den Stellen, wo aktu­elle Protestformen in einen historischen Kontext eingebettet werden und Kontinuitäten und Wandel so gleichermaßen in den Blick geraten.
Gegenwärtig gerne praktizierter Warenboykott und Versuche, bestimmte Images von Marken zu beschmutzen, etwa haben ihren Ursprung im irischen »Land War«, der ungefähr zwischen 1870 und 1890 tobte. Im Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen englischen Großgrundbesitzern und bäuerlichen irischen Landpächtern wurde der Fall des Verwalters James Cunningham Boycott bekannt, der für seine »rücksichtslose Strenge« gegenüber den Pächtern berüchtigt war. Da er eine Verbesserung der Pachtbedingungen strikt ablehnte, verweigerten die Bauern nicht nur ihre Arbeit, sondern bestraften Boycott auch damit, dass sie keine Waren mehr von ihm kauften. Sein Name wurde Programm.
Auch die immer wieder zu sehende einheitliche Bekleidung auf Straßendemonstrationen hat, so erfährt man in einem Text zur Geschichte derselben, eine lange Tradition. So warf sich die Arbeiterbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts konform in Schale und marschierte im Sonntagsanzug auf. Als »schwarze, undifferenzierte Masse« mit »dreisten und trotzigen Blicken« wirkte sie jedoch nicht schick ange­zogen, sondern bedrohlich auf Herrschende und Bürgertum. Wer fühlt sich da nicht an den »Schwarzen Block« der Gipfelproteste erinnert?
Und die Medien? »Soziale Bewegungen zeichnen sich immer wieder dadurch aus, sich neue Technologien, insbesondere Informations- und Kommunikationstechnik, für ihre eigenen Zwecke anzueignen und entweder zur Verbreitung ihrer Inhalte oder zum Zwecke der Mobilisierung und internen Kommunikation einzusetzen.« Mit anderen Worten: Was heute das Internet ist, war früher das Arbeiterradio oder die Bewegung der Amateurfunker, die, was den Aspekt der Partizipation betrifft, mindestens ebenso radikal waren wie ein Blog.
Kritisch anzumerken bleibt, dass auch dieses Buch, das sich ebenso gut liest wie es aussieht, in erster Linie eine Lektüre aus der Bewegung für die Bewegung ist. Doch auch das war früher nicht anders, denn seit ihrem Entstehen ist die Bewegungsforschung zugleich ein Forschen mit der Bewegung. Die entsprechenden Wissenschaftler der sechziger bis achtziger Jahre sympathisierten mit der Friedens-, Ökologie- und Frauenbewegung und verstanden sich als Sprachrohre ihrer Interessen. Heute sind es vor allem Globalisierungskritiker, Kommunikationsguerilleros und gendergetroublete Bewegte, denen das Wohlwollen der Autoren gilt. Dabei weichen Schönberger, Sutter und ihre Studenten jedoch der Frage nicht aus, ob soziale Bewegungen wirklich per se fortschrittlich und links sein müssen. Spätestens mit der Herausbildung einer aktivistischen rechtsextremistischen Szene, die oft die Aktionsformen und selbst die Symbole etwa der Arbeiterbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition oder der Neuen Sozialen Bewegungen übernommen hat, ist ihnen zumindest eins deutlich klar: Protest allein muss erst mal nichts heißen. Mindestens genauso wichtig wie das Medium ist immer noch die Message.

Klaus Schönberger, Ove Sutter (Hg.): Kommt herunter, reiht euch ein …: Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2009. 265 Seiten, 18 Euro