Ein Gespräch über Westberlin und seine Dissidenten

»Die Sechziger waren eine Kudamm-Kultur«

Der gelernte Betonbauer Michael »Bommi« Baumann war Kommunarde, »Umherschweifender Haschrebell«, Mitbegründer der »Bewegung 2. Juni«, an Banküberfällen und militanten Aktionen in Westberlin beteiligt. Bei der Flucht durch die DDR 1974 wurde er von der Stasi verhört und machte dabei umfangreiche Aus­sagen über Genossen. Sein erstes Buch über die Stadtguerilla »Wie alles anfing« wurde 1975 von der Polizei beschlagnahmt. Insgesamt saß Baumann sieben Jahre im Gefängnis. 25 Jahre lang war er heroinabhängig, zwei Mal klinisch tot. Voriges Jahr erschien im Rotbuchverlag sein Buch »Rausch und Terror«. Baumann ist heute 62 Jahre alt.
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Ich wollte Sie eigentlich als Westberlin-Experten interviewen, aber dann habe ich gesehen, dass Sie ja Ostberliner sind!
Ich bin ein Mann beider Welten. Ich bin in Kaulsdorf geboren, das gehörte zu Lichtenberg. Dort bin ich auch groß geworden. 1960, also vor dem Bau der Mauer, sind wir dann rüber nach Westberlin.
Sie und Ihre Familie?
Ja. Mein Alter war Grenzgänger. In Westberlin gab’s lauter kleine Krauterbuden, Hinterhoffabriken. Die haben in den fünfziger Jahren davon gelebt, dass sie Ostler für sich haben arbeiten lassen. Die wurden bezahlt in ein Viertel Westgeld und den Rest in Ostgeld. In allen größeren Umsteigebahnhöfen im Westen gab es Wechselstuben. Also für eine Mark West hast du 4,50 Mark Ost gekriegt. Als Ostberliner hast du für eine Rückfahrkarte 40 Pfennig Ost bezahlt, die galt den ganzen Tag. Mein Vater hat im Westen in so einer Asphalt-Bude gearbeitet, und er hat auch im Westen eingekauft, was es im Osten nicht gab, also Zigaretten, Kaffee. Und im Osten hast du wiederum weniger Miete gezahlt, und Grundnahrungsmittel wie Butter, Brot waren ja weitaus billiger. Also wer im Osten gewohnt und im Westen gearbeitet hat, dem ging’s eigentlich prächtig. Und denn sind wir rüber in den Westen, da haben wir uns wirtschaftlich verschlechtert.
Jetzt besuche ich Sie in Ihrer Wohnung – und Sie sind wieder im Ostteil der Stadt. Hatten Sie Heimweh?
Na, die ham doch immer jesacht, jeht doch rüber in’ Osten, wenn’s euch nich’ jefällt … Nee, kiek ma, dit war ja so: Ich hatte ja mein Leben lang nie eine Wohnung gehabt bis ich 50 war. All mein Besitz hat in eine Reisetasche gepasst. Den Stil habe bis zum 50. Lebensjahr gehalten. Dann hatte ich hier um die Ecke im Friedrichshain einen Job als Bauleiter, da bin ich einfach hier geblieben.
Würden Sie der These zustimmen, dass es diese ganze Kommune-, Blues-Szene und auch die Entstehung des militanten Milieus nur in Westberlin geben konnte?
Ja. Als die Mauer gebaut wurde, haben die ganzen kleinen Klitschen, gerade in Kreuzberg, pleite gemacht, weil denen plötzlich die Arbeitskräfte fehlten. Jetzt standen diese ganzen Fabriketagen leer. Und in der gleichen Zeit hatte man ja schon angefangen, Hochhaussiedlungen wie Gropiusstadt und das Märkische Viertel hochzuziehen. Drum standen plötzlich ganze Viertel zur Hälfte leer, und die Wohnungen waren also arschbillig. Drum waren die Besitzer später froh, wenn dort überhaupt jemand einziehen wollte.
Aber die ganze Westberliner Apo spielte sich zunächst nicht in Kreuzberg, sondern in Charlottenburg rund um den Kudamm ab: Kommune 1, Wielandkommune, Schlüterstraße, das SDS-Hauptquartier, Republikanischer Club …
Ja, das war alles da in der Gegend. In der Wielandkommune war Otto Schily der Hauptmieter. Die Wohnung hatte er für uns gemietet. Und der SDS saß in der Ruine eines NS-Ministeriums, da war der Hauptmieter Horst Mahler. Drum wurden auch die Kneipen ringsum von unsereins besucht. Und dort in der Gegend gab es große Wohnungen, von denen viele dem Herrn Kirschbaum gehörten, und der hat als einer der wenigen an Leute wie uns, an Langhaarige und Studenten, vermietet. In Kreuzberg saßen in den meist kleineren Wohnungen anfangs eher einzelne Studenten und vor allem Künstler, wie Friedrich Schröder-Sonnenstern, der Meister. Erst nach dem Mauerbau gingen die ersten Kommunen nach Kreuzberg, sind da in leere Fabriken gezogen, wie etwa die Wrangelkommune, das war so ’ne Sex-Truppe.
Diese ganzen Kommunen, »Umherschweifende Haschrebellen« – inwiefern waren das typisch Westberliner Erscheinungen?
Die Mischung hier war speziell. Hierher kamen ja nur Bundeswehrverweigerer, politisch oppositionelle Studenten, Abenteurer – während gleichzeitig viele Leute von hier weggezogen sind, weil sie dachten, die Russen kommen. Selbst die Nazis hatten es ja nicht geschafft, in Berlin alle Feinde ihres Systems zu beseitigen. Es gab hier immer auch viele Schwule. Berlin war die einzige Stadt in den fünfziger Jahren, in der es schwulen Männern erlaubt war, miteinander zu tanzen. Das war ein Biotop, in das wir da reingewachsen sind.
Welche Ecke der Stadt ist für Sie am meisten »typisch Westberlin«?
Schon der Kudamm. Die Gegend wurde nach dem Krieg am schnellsten wieder aufgebaut. Die sechziger Jahre waren irgendwie eine Kudamm-Kultur. Die Touristen kamen dahin, die Reichen kamen dahin, und auch die Armen kamen am Wochenende, um dort auszugehen. Dort waren ja die Kinos, Kneipen, das ganze Nachtleben. Also von Freitagabend bis Sonntag kam die gesamte Bevölkerung dort zusammen.
Dazu wollten wir eigentlich Rolf Eden interviewen …
Ja, der olle Shimon (der 1956 aus Israel eingewanderte »Ur-Playboy« Rolf Eden heißt eigentlich Shimon mit Vornamen; die Red. )! Der is ja ooch so’n Westberliner Klassiker. Das alte »Eden« in der Damaschkestraße war so eine Kneipe, wo du Samstagnacht Hinz und Kunz quer durchs Beet getroffen hast. So was gibt’s ja gar nicht mehr. Da gab es viele verschiedene Räume: In einem hat Peter Brötzmann Free-Jazz gespielt, im Raum daneben hat eine alte Dame Zwanziger-Jahre-Chansons geträllert, und im nächsten Raum liefen Micky-Maus-Filme. So in der Art.
Haschrebellen, Tupamaros Westberlin, Bewegung 2. Juni, RAF – ab wann war das alles keine Subkultur mehr, sondern militärische Organisierung?
Die Subkultur war in Berlin besonders stark, und da haben auch die Arbeiterkinder wie wir mitgemacht. Die Haschrebellen waren der Versuch, diese subkulturelle Szenerie, die Kommunen usw. einzubinden, zu politisieren und zu militanten Aktionen zu bewegen. 1969 sind viele zu dem Knastcamp nach Ebrach gefahren, da versammelten sich die ganzen Militanten aus Deutschland, auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader, einige von denen sind weitergefahren nach Amman zu den Palästinensern von der al-Fatah. Und als die wiederkamen nach Berlin, sagten sie, es muss jetzt noch militanter werden. Und dann kam am 9. November 1969 dieser total irre Anschlag aufs Jüdische Gemeindehaus, am Jahrestag der Po­gromnacht. Wir von der Wielandstraße hatten ja diese Bomben von Peter Urbach gesammelt, wir hatten die bei so einem vollkommen harmlosen Kunststudenten versteckt. Die lagen da schon über ein halbes Jahr. Dann kamen die Genossen und sagten, gebt uns doch diese Bomben. Ohne uns zu sagen wofür.
Und Sie haben auch nicht nachgefragt?
Nein, aber wir haben tatsächlich einen Karton mit Bomben vorbeigebracht. Wir hatten keine Ahnung, was die damit vorhatten. Da gab es diesen Folkclub »Dennis Pan« in der Fasanenstraße, gleich neben der Synagoge. Wir haben da an dem Abend vorher sogar noch gestanden und geraucht. Unfassbar, dass die da wenig später diese Bomben hochgehen lassen wollten. Mich haben dann alle Leute angemacht, weil die dachten, ich wäre dabei gewesen. Ich hab’ denen gesagt: Habt ihr ’ne Meise?! Es war ja nicht so, dass die Leute aus unserem Umfeld das alle gut fanden. Die meisten sind vor Entsetzen fast in Ohnmacht gefallen. Ich kam nach Kreuzberg in so eine Wohnung, in der LSD hergestellt wurde, die hätten mich fast zusammengeschlagen. Ich musste denen erst klarmachen, dass ich absolut nichts davon gewusst habe.
Ihr letztes Buch heißt »Rausch und Terror« …
Den Titel hat sich der Verlag ausgedacht.
Das klingt, als seien Sie der Harald Juhnke der Terrorszene oder eher deren Christiane F.. Sie haben ja schon als Haschrebell gedrückt.
Damals haben viele gedrückt. Es gab hier eine Droge, die hieß Berliner Tinke. Die Türken waren damals Rohstofflieferant für die French Connection in Marseille. Wenn du in Istanbul nach Opiaten gefragt hast, haben die Türken dir Morphin-Base verkauft. Die war sehr billig. Das haben Hippies, die nach Afghanistan und Asien gereist sind, auf dem Rückweg nach Berlin mitgebracht. Es gab so zwei, drei Kommunen, da stand das Zeug literweise herum. Und das ist ja ein Naturprodukt, das schimmelt nach einer Weile. Das wurde in Johnny-Walker- oder Fanta-Flaschen abgefüllt und dann bildete sich oben drauf so eine Schimmelschicht. Und dann kam ein Chemiestudent, der sagte: Ganz einfach, wir kochen das ­alles noch mal mit Essigsäure auf. Und das ist der erste Schritt zum Heroin. Das war dann die Ber­liner Tinke. Das Zeug hat fast jeder von uns ausprobiert. So ab 1967 gab es eine große Fixerszene rund um die Gedächtniskirche, so 100 Leute mindestens. Und dann erst kam das Heroin. Und unsere ganze Szenerie ist durch das Heroin kaputt gegangen. Die ganze Subkultur ging den Bach runter. In einem Zeitraum von nur zwei Jahren hatte sich die Szene derart verändert, dass plötzlich überall Opium-Bündel herumschlichen, die nur noch geguckt haben, dass sie ihren Stoff kriegen.
Wann haben Sie Entzug gemacht?
1993, nach 25 Jahren. Aber ich war davon auch zehn Jahre in Asien unterwegs, da drückt man ja nicht, sondern raucht. Sowieso habe ich immer eher geraucht als gedrückt.
Wie hat sich die Heroin-Szene in Berlin verändert mit den Jahren?
Am Anfang war das alles noch an einem Ort. In den Siebzigern etwa war das der Kudamm beim Athener Grill. Dann zog das in die TU Mensa, dann Bahnhof Zoo. Das war aber immer eine Szene. Inzwischen ist die übers ganze Stadtgebiet verteilt. Nicht einmal die Polizei und die Junkies blicken durch, auf welchen U-Bahnhöfen überall gedealt wird.
Nehmen wir mal an, die Maueröffnung hätte es nicht gegeben, was hätte das für Westberlin bedeutet?
Ich glaube, zu dem Zeitpunkt hatten sich die Leute schon eingerichtet. Die Hausbesetzer-Bewegung war zu Ende. Ich habe zu dem Zeitpunkt im Kuckucksei in der Wrangelstraße gearbeitet. Das war eins der letzten linken Kneipenkollektive. Eine Nische. Und solche Nischen hätten sich dann wohl erhalten. Die Leute darin wären immer älter geworden und gesetzter. Für Westberlin war aber der endgültige Todesstoß, dass die am Kudamm und drum herum in den Folgejahren nach dem Mauerfall die Mieten so erhöht haben. Am Kudamm gibt es ja kaum noch ein Geschäft, das es früher gab. Es gibt kaum noch einen Herrenausstatter, kaum noch eine Parfümerie; Kino, Restaurants und Cafés – alles weg. Wie kann man so bescheuert sein und die Mieten erhöhen, während im Osten gerade ein neues Zentrum entsteht, eine Konkurrenz?! Da hat sich der Kapitalismus selbst geschlagen. Die haben sich selbst abgeschafft, diese ganze alte Westberliner Szenerie. So wie Eberhard Diepgen auch. Von diesem alten Westberlin ist nur noch eine Institution übrig geblieben: die Abendschau auf RBB. Wenn man sich die anguckt, denkt man, die Mauer steht noch.