Abdruck aus »In Cuxhaven«

Besser als Ficken

Wie ich einmal mit meinem Bonanzarad die Tour de France gewann.
Von

1974 war ich König für einen Sommer. Im Januar hatte ich meinen achten Geburtstag gefeiert, und im Juni bekam ich als erstes Kind aus der Nachbarschaft ein Dreigang-Bonanzarad.
Ich glaube, ich bekam es deshalb, weil mein Großonkel zwischen Januar und Juni gestorben war. Der Bruder von meiner Oma. Mit dem hatte ich viel Zeit verbracht. Wir hatten zusammen eingekauft, waren auf den Fleckenmarkt gegangen oder hatten die Kanarienvögel in seinem Keller gefüttert. Eigentlich war mein Großonkel mein bester Freund gewesen, trotz des erheblichen Altersunterschieds. 57 Jahre, neun Monate und neun Tage, um genau zu sein. Als er starb, war er ungefähr acht Mal so alt wie ich. Er hatte keinen besseren Freund als mich. Er hatte gar keinen Freund. Manchmal stand er vor seinem Haus an der Straße und redete mit Leuten. Doch die nahmen ihn nicht ernst. Ich nahm ihn ernst. Obwohl er ziemlich dumm war. So riss er etwa den rechten Arm zur Begrüßung nach oben, genau so wie Adolf Hitler. Obwohl er immer SPD wählte. Seine Witze waren meistens besser als seine Gesten. Wenn wir durch die Stadt gingen, dann wusste er immer, was früher in den Häusern los war, vor zehn oder zwanzig Jahren oder als Adolf Hitler noch gelebt hat. Das fand ich toll. Wenn wir unterwegs waren, dann winkte mein Großonkel manchmal Leuten zu, die er kannte. Stehen blieben wir jedoch nie. Mein Großonkel plauderte mit niemandem. Mir war das recht. Mir waren die alten Leute, die meinen Großonkel seit zehn oder zwanzig Jahren oder seit Adolf Hitler kannten, immer unangenehm. Ich glaube, meinem Großonkel auch.
Als er tot war, saß ich vor allem in meinem Zimmer und las. Ab und zu kam meine Mutter herein – ohne anzuklopfen. Riss das Fenster auf und sagte, dass ich endlich raus an die Luft sollte. Und aufhören, in meiner Höhle zu hocken. Mein Großonkel wäre nun mal tot, den könne man nicht wieder hergrübeln.
Ich wusste nicht, was sie meinte. Gegrübelt hatte ich schon immer gern. Nicht zu Unrecht galt ich in unserer Cuxhavener Einfamilienhaus-Siedlung als der größte Intellektuelle in meiner Altersklasse. Ich konnte Schach spielen, mit allen Großmeistertricks – wie Rochade oder den Bauern beim ersten Zug zwei Felder vorstellen. Ich konnte das große Einmaleins. Ab und zu bauten sich die Kumpels provozierend vor mir auf, und einer von ihnen fragte: »Wie viel ist siebzehn mal siebzehn?« »Zweihundertneunundachtzig«, sagte ich dann, ohne mit der Wimper zu zucken, und sie schwiegen beeindruckt. Manchmal wusste ich die Antwort nicht. Dann sagte ich trotzdem »Zweihundertneunundachtzig«, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie schwiegen beeindruckt, weil sie es nicht nachrechnen konnten.
Meine Mutter brachte mich manchmal zur Bücherei. Sie hatte ihre sämtlichen Kinderbücher vom Dachboden geholt und in mein Zimmer gestellt. Darum besaß ich achtundzwanzig Bände Karl May. Ich konnte Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah auswendig sagen. Und ich kannte die feministischen Klassiker: Hanni und Nanni. Hilde die Wilde. Pippi Langstrumpf. Nesthäkchen kann brauchen, was es gelernt hat.
Eigentlich gab es bei mir nur eine einzige Schwachstelle: den Sport. Ich konnte lange Zeit weder Fahrradfahren noch Schlittschuhlaufen. Meine Beine waren ziemlich lang für mein Alter, und bevor ich sie beim Fangen oder Fußballspielen richtig in Bewegung kriegte, hatten mich die Kumpels schon längst umgetreten. Noch schlimmer war es, wenn ich über Gräben hüpfen oder über Zäune steigen sollte. Die Kumpels sprangen einfach drüber und sahen mir prustend zu, wie ich mir am Stacheldraht die Hose zerriss und mit dem Gesicht zuerst in den Uferschlamm klatschte. Wenn sie mich wirklich demütigen wollten, kletterten sie auf einen Baum. Ich hing immer am untersten Ast. Die Kumpels hockten oben im Wipfel und warfen mit Eicheln, Kastanien oder Bucheckern nach mir. Manchmal riefen sie dazu höhnisch: »Zweihundertneunundachtzig!«
Kein Wunder, dass ich mich bald wissenschaftlichen Studien zuwandte. Während die anderen Jungs marodierend durch die Siedlung zogen, um Fußball zu spielen oder kreischenden Mädchen die Zahnklammerdosen vom Hals zu reißen, zog ich mich in den Garten unseres Hauses zurück. Ich untersuchte, welche Beine man einem Schmetterling ausreißen musste, damit er nicht mehr vom Boden hochkam. Ich testete, wie viele Ameisen man mit dem bloßen Finger zerdrücken konnte, bis das Volk sich eine neue Straße suchte. Oder ich studierte die Verhaltensänderungen bei Grashüpfern unter den Bedingungen der Einzelhaft, indem ich sie in kleine Löcher neben dem Zaun sperrte und einen Kieselstein auf die Öffnung legte. Einmal vergaß ich einen, bevor ich mit meinen Eltern für zwei Wochen nach Österreich fuhr. Als wir zurück waren und ich ihn befreite, kam der Grashüpfer mit jedem Sprung nur noch drei Zentimeter weit. Außerdem knallte er mehrfach gegen einen Zaunpfahl. Wahrscheinlich hatte er sich noch nicht wieder an das Licht gewöhnt. Da kann man mal sehen, was Einzelhaft bei einem Lebewesen anrichtet.
Trotz meiner wissenschaftlichen Erfolge überkam mich jedes Mal ein seltsames Gefühl der Leere, wenn ich die Rufe meiner Altersgenossen von der Straße hörte. Oder wenn sie im Winter mit dem Schlitten am Haus vorbeizogen, während ich gerade ein Tipp-Kick-Turnier linke Hand gegen rechte Hand austrug.
Das machte ich ziemlich oft. Immer, wenn die Tage zu kalt für wissenschaftliche Experimente wurden, beschloss ich, ein gewaltiges Fußball-Turnier auszutragen. Keine armselige Veranstaltung wie offizielle Weltmeisterschaften, bei denen damals ja nur sechzehn Mannschaften teilnehmen durften. Da mir meine Mutter eine alte Reiseschreibmaschine geschenkt hatte, als ich viereinhalb war, konnte ich zunächst einen akribischen Turnierplan aufstellen. Aus dem Schulatlas suchte ich die Namen von einhundertachtundzwanzig Ländern, die sich dann in sechs K.O.-Runden bis zum Finale durchkämpfen sollten. Ich loste die Ansetzungen aus, tippte sie auf mehrere Blätter Luftpost-Papier und malte die Flaggen dahinter. Damals war ich wahrscheinlich der einzige Grundschüler Deutschlands, der die Flaggen von Malawi, Französisch Guayana oder der Mongolischen Volksrepublik auswendig kannte. Beim Losen schummelte ich, was das Zeug hielt. Ich sorgte dafür, dass meine Lieblingsmannschaften immer zuerst gezogen wurden. Das hieß, dass sie mit der rechten Hand spielen durften und deshalb einen großen Vorteil hatten. Schließlich war ich Rechtshänder. Leider kam ich nicht besonders weit mit meinen Turnieren. Weil ich das große Einmaleins beherrschte, hätte ich mir ausrechnen können, dass sich ein nach K.O.-Modus gespieltes Turnier bei einhundert­acht­undzwanzig Mannschaften auf einhundertsiebenundzwanzig Partien auswächst, was bei zwei Halbzeiten zu je sieben Minuten pro Partie eine Gesamtspielzeit von eintausendsiebenhundertachtundneunzig Minuten, also ein Turnier von mindestens sechs Tagen bedeutete, wenn ich fünf Stunden am Tag mit der einen Hand gegen die andere antrat. Doch so viel schlechtes Wetter hintereinander gibt es nicht einmal in Cuxhaven. Dennoch versuchte ich immer wieder, meinen Weltmeister zu ermitteln.
Alles änderte sich an einem Tag in den Osterferien 1974. Mein Schulfreund Jan Wendt besuchte mich. Jan lebte weit weg, wie man in Cuxhaven sagt, er lebte weiter weg als die Schule, sogar noch weiter weg als die Bücherei. Er lebte in einem anderen Teil des Universums, in dem auch Österreich und Taka-Tuka-Land lagen, oder die Mongolische Volksrepublik. Wenn ich ihn besuchte, so nur unter Begleitschutz meiner Mutter, die mich mit dem Auto bis an seine Haustür brachte. Aber Jan Wendt war ein harter Hund, wahrhaft unerschrocken wie Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah oder vielleicht noch Pippi Langstrumpf. Er fuhr die ganze Strecke allein mit seinem Kinderfahrrad. Nicht einmal Stützräder brauchte dieser Draufgänger.
Als Jan nachmittags wieder zurückgefahren war, bekam meine Mutter einen Wutanfall. »Der kommt den ganzen Weg mit seinem Rad hierher«, schimpfte sie. »Und du kannst dich noch nicht mal draufsetzen.« Sie holte ein altes Kinderfahrrad aus der Garage. Sie setzte mich auf den Sattel und begann, mich auf dem Schotterweg vor unserem Haus hin- und herzuschieben. Irgendwann ließ sie los. Ich fiel hin und schlug mir ein Knie blutig. Meine Mutter hob mich sofort wieder aufs Rad und schob an. Wieder fiel ich, diesmal auf das andere Knie. Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Nachmittag aus dem Sattel gestürzt bin. Ich rutschte aufs Pflaster, rollte in Hecken, schlidderte in den Straßengraben und knallte gegen Zaunpfähle wie ein Grashüpfer nach gerade überstandener Einzelhaft. Als mir klar wurde, dass von meiner Mutter weder Trost noch Erbarmen zu erhoffen war, biss ich die Zähne zusammen. Ich glaube, das war der Moment, in dem ich selbst ein ganz schön harter Hund wurde. Als die Sonne beim Untergehen so rot wurde wie meine Knie und ich gerade mit dem Leben abschließen wollte, fiel ich nicht mehr.
Zwei Tage später kam mein Vater von Montage zurück. Als ich ihm auf dem Fahrrad etwas vorgefahren hatte, guckte er ganz stolz und schüttelte mich an den Schultern, wie es nur ein ziemlich harter Hund bei einem anderen ziemlich harten Hund tut. Ab sofort brauchte ich ihm an Samstagnachmittagen nicht mehr zu helfen, wenn er mit seinem quäkenden Transistorradio aus dem Haus kam, um während der Bundesligareportagen vor der Garage den Wagen zu waschen und Unkraut zu jäten. Ich fuhr einfach den Schotterweg am Haus hinauf und hinunter. Immer, wenn ich an ihm vorbeikam, guckte er stolz und sagte: »Hallo, Sir!« Oder er rief mir zu, wie es gerade bei Werder Bremen im Weserstadion stand. Werder verlor damals meistens. Mein Held war Torwart Dieter Burdenski, der oft genug von seiner unfähigen Abwehr im Stich gelassen wurde und sich auf seinen ziemlich langen Beinen den gegnerischen Stürmern allein entgegenwerfen musste. Das imponierte mir. Außerdem gibt es vom Schiedsrichter die Rote Karte, wenn man dem Torwart die Beine wegtritt.
Irgendwann begannen die Sommerferien. Als ich vom letzten Schultag nach Hause kam, ließen sich meine Eltern das Zeugnis zeigen. Viele Einser und Zweier standen drauf. Sogar in Sport hatte ich eine Zwei. Das lag aber daran, dass meine Sportlehrerin auch meine Mathelehrerin war. Sie schaute bei den Leistungstests in der Turnhalle nicht so genau hin. Oder sie warf am Anfang der Stunde einen Basketball in die Mitte und ging zum Einkaufen. Dann durfte ich an der Seite stehen und die Punkte zählen. Meistens zog ich dem Team von Jan Wendt heimlich ein paar Punkte ab. Das ging ganz leicht, weil man im Basketball bei verschiedenen Würfen verschiedene Punktwertungen bekommt. Und wer will schon streiten mit einem, der erstens das große Einmaleins kann und zweitens von der Sportlehrerin an die Seite gestellt worden ist?
Jedenfalls guckten meine Eltern sich das Zeugnis lange an, und als sie damit fertig waren, gingen sie mit mir in die Garage. Meine Mutter versuchte geheimnisvoll zu tun. Doch mein Vater schüttelte mich auf dem Weg ganz doll an den Schultern und fragte stolz: »Na, Sir, darf ich dich jetzt noch ›Sir‹ nennen? Oder muss ich jetzt ›Professor‹ sagen?« Da wusste ich, dass es ein ganz großes Geschenk geben würde.
Es stand an der hinteren Wand. Ein Bonanzarad. Und zwar keines von diesen billigen orangefarbenen Dingern, die man bei Quelle bestellen oder bei Karstadt aus der Sportabteilung mitnehmen konnte. Sondern ein knallgelbes Luxusmodell aus dem Fachhandel, komplett mit Hirschgeweih-Lenker, Bananensattel und extra hohem Sitzbügel. Sogar eine Dreigang-Schaltung besaß es. Meine Eltern hatten sich in Unkosten gestürzt. Ich konnte nichts sagen. Es war ein Traum.
»Na, Sir, gefällt’s dir?«, fragte mein Vater. »Oma hat auch was dazugegeben.« Ich überlegte, wie ich ihm eine Freude machen konnte.
Immer wenn mein Vater etwas besonders toll fand, also wenn zum Beispiel kein Unkraut mehr im Beet war oder Dieter Burdenski im Weserstadion einen Elfmeter gehalten hatte, sagte er: »Besser als Ficken«. Ich wusste noch gar nicht genau, was Ficken überhaupt war. Nur, dass es mit den nackten Frauen auf den Titelseiten der Neuen Revue zusammenhing, die mein Vater immer unter dem Bett im Schlafzimmer versteckte, damit meine Mutter sie nicht sah.
Da ich ihm eine Freude machen wollte, sagte ich also: »Besser als Ficken.« Meine Mutter wurde rot und hätte mir das Bonanzarad beinahe wieder weggenommen. Aber mein Vater lachte nur und schüttelte mich derart an den Schultern, dass selbst so ein ziemlich harter Hund wie ich sich nur schwer auf den Beinen halten konnte.

Gleich nachdem ich mein neues Bonanzarad geschenkt bekommen hatte, setzte ich mich drauf und fuhr los. Nicht nur den Schotterweg vor unserem Haus hin und her. Sondern auch die breite Straße entlang, in die der Weg mündete und die durch die ganze Nachbarschaft bis hin zu Harald Reimers Feinkostladen führte. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Die halblangen roten Haare flatterten im Fahrtwind. Ich war frei. Fast hätte ich meine Zahnklammer ausgespuckt und wäre auf die Bundesstraße hinter dem Laden eingebogen. Zur Bücherei gefahren oder weiter in Richtung Österreich und Taka-Tuka-Land. Aber ich war kein Desperado. Also kehrte ich um und fuhr die breite Straße zurück. Und wieder hin. Und noch Mal zurück.
Der Nachmittag war noch nicht vorbei, als die Kumpels vor der Tür standen. »Lässt du mich mal fahren?« bettelte einer von ihnen. Und dann alle: »Lässt du uns mal fahren?« Da ich nur stumm den Kopf schüttelte, fragte einer: »Na gut, aber kommst du mit uns Fußballspielen?« Ich kam mit. Es wurde ein Triumphzug. Mit meinem Bonanzarad fuhr ich in der Mitte der Kumpels, und sie gingen neben mir her und berührten ab und zu scheu das Gestänge. Auf dem Bolzplatz legten sie mir den Ball zum Anstoß hin. Doch ich wollte gar nicht stürmen. Ich wollte ins Tor. Wie Dieter Burdenski. Ich glaube, ich bin der einzige Junge, der immer nur ins Tor wollte. Sogar Dieter Burdenski hat einmal im Interview gestanden, dass er in seiner Jugend im Feld spielte. Trotzdem: ich wollte immer nur in den Kasten. Dorthin, wo der Strafraum matschig ist, wo die Bälle mit mörderischer Geschwindigkeit kommen und man sich allein den gegnerischen Stürmern entgegenwerfen muss, wenn einen die Abwehr im Stich lässt. Wo ein Mann noch ein Mann ist. Obwohl ich ziemlich viele Tore kassierte, wurde ich während des gesamten Spiels nicht ausgewechselt. Am Abend suchte ich mir willkürlich zwei von den Kumpels aus und ließ sie eine Runde auf meinem Bonanzarad drehen. Alle anderen schimpften und schrien, verfluchten mich und drohten mir Prügel an. Und kamen am nächsten Nachmittag wieder, um mich abzuholen.
Das mit dem Fußballspielen wurde ihre Masche. Sie stellten mich ins Tor und schossen absichtlich schwach, um mich gnädig zu stimmen. Ich brauchte nur kurz die Augen zu schließen, um im ausverkauften Weserstadion zu sein. Sechsunddreißigtausend Fans jubelten mir zu, als sie sahen, wie ich mich den Stürmern entgegenwarf. Der Jubel hallte noch in meinen Ohren, wenn ich mich hinkniete, um die kullernden Bälle abzufangen. Bald durften alle auf meinem Rad fahren.
Das Problem dabei war, dass ich langsam besser wurde. Mit der Zeit lernte ich alle Großmeistertricks, wie Winkel verkürzen und in die Ecken hechten und dem Schützen beim Elfmeter eine Seite anbieten. Die Kumpels nahmen immer weniger Rücksicht, aber ich hatte sechsunddreißigtausend Fans im ausverkauften Weserstadion hinter mir.
Am Ende der Ferien hielt ich fast alles. Da traten sie mich wieder von meinen ziemlich langen Beinen. Einen Schiedsrichter, der ihnen dafür die Rote Karte gezeigt hätte, gab es auf dem Bolzplatz nicht. Also fuhr ich eines Nachmittags nach Hause und kam nicht wieder zu ihnen. Meine Regentschaft endete bereits nach sechs Wochen.
Ich kehrte allerdings auch nicht zu meinen wissenschaftlichen Experimenten zurück. Stattdessen widmete ich mich einem neuen Hobby. Seitdem ich nämlich das Bonanzarad hatte, sah ich im Fernsehen immer die Liveübertragungen von Radrennen: Lüttich-Bastogne-Lüttich. Die Flandern-Rundfahrt. Paris-Rubaix, das man auch »Hölle des Nordens » nennt. Und natürlich die Tour de France. Da mir die Torwart-Karriere verbaut worden war, wollte ich jetzt Radprofi werden. Deshalb stellte ich mein Plastik-India­nerzelt in den Garten und mein Rad daneben. Das war mein Fahrerlager. Ich wusste, dass viele von den Kumpels auch ein Plastik-Indianerzelt im Garten hatten und ihr erbärmliches Fahrrad daneben stellten. Das hatte aber andere Gründe. Diese Tölpel stellten sich ernsthaft vor, ihr Indianerzelt sei ein Indianerzelt und ihr erbärmliches Fahrrad ein Pferd. Dann spielten sie Cowboys und Indianer oder Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah. Mit anderen Worten: Sie machten Kinkerlitzchen. Ich betrieb Leistungssport.
Jeden Tag nach der Schule unterzog ich mich einem knallharten Training. Für das Aufwärmprogramm nahm ich eine Mark aus meiner Spardose. Mit der fuhr ich dann so schnell ich konnte zu Harald Reimers Feinkostladen. Da das Geld für den ganzen Nachmittag ausreichen sollte, musste Harald Reimer zunächst hinter seinem Tresen hervorkommen und auf die Leiter steigen, um die Schachtel mit den Karamellen für zwei Pfennig das Stück zu holen. »Na, Mutters Geld versaufen?« fragte er jovial, während er ächzend die Sprossen hochkletter­te. Das nahm ich ihm nicht übel. Woher sollte er wissen, dass er es mit einem Leistungssportler zu tun hatte? Er war ein einfacher Mann. Wahrscheinlich konnte er noch nicht einmal Schach spielen. Mit den Bonbons in der Tasche fuhr ich zurück. Am Fahrerlager war ich von der rasanten Fahrt meist so erhitzt, dass ich gleich wieder umkehrte und Harald Reimer an seine Eistruhe im Lagerraum schickte, um mir ein Capri für dreißig Pfennig zu bringen. »Du kannst heute wieder gar nicht genug kriegen, was?« fragte er leutselig. Wieder am Lager aß ich die Karamellen, was mich zu einer erneuten Umkehr zwang. Schließlich brauchte ich Verpflegung, damit beim anschließenden Rennen mein Blutzuckerspiegel nicht zusammenbrach. Harald Reimer musste also wieder auf die Leiter. Manchmal gelang es mir, meine Mark auf fünf Einkäufe zu strecken. Da er schon über sechzig und stark übergewichtig war, kam es vor, dass der Kaufmann mich beim letzten Mal nicht mehr ganz so jovial und leutselig begrüßte.
Das Rennen begann gegen halb fünf. Ich brauchte mich nur mit meinem Rad auf den Schotterweg zu stellen und kurz die Augen zu schließen. Wenn ich sie wieder öffnete, befand ich mich mitten unter meinen Gegnern. Die Ausgangssituation war immer dieselbe. Wir starteten am achten Tag der Tour de France. Zur letzten Flachetappe, elende zweihundertneunundachtzig Kilometer lang, bevor es in die mörderischen Pässe der Pyrenäen gehen würde. Gleichzeitig meine letzte Chance, mir wenigstens für einen Tag das Gelbe Trikot zu erobern. Ich war Realist, und ich hatte unzählige Stunden vor dem Fernseher verbracht, um meine Gegner zu studieren. In den Bergen gäbe es für mich keine Möglichkeit, meine Spitzenposition zu verteidigen. Ich war zu groß und zu schwer und musste mit meinen ziemlich langen Beinen eine viel zu große Übersetzung fahren, um die Angriffe der wieselflinken Kletterspezialisten aus Italien, aus der Schweiz oder Südamerika parieren zu können. Also musste es heute sein. Eine Woche lang hatte ich mich im Feld versteckt, war nur mitgerollt und hatte einzig darauf geachtet, dass mein Abstand zu den Führenden in der Gesamtwertung nicht zu groß würde. Er betrug zwei Minuten und siebenundfünfzig Sekunden. Jetzt wollte ich zuschlagen. Und ich hatte einen Plan. Vor Aufregung war mir ganz schlecht. Vielleicht auch von den vielen Süßigkeiten. Dann fiel der Startschuss.
Ich überraschte meine Gegner während der ersten Zwischenwertung bei Kilometer einundzwanzig, also etwa am Ende des Schotterwegs. Zusammen mit den Sprintern ging ich aus dem Sattel und preschte nach vorn. Drei von ihnen fuhren vor mir über die Markierung, so dass ich keine Zeitgutschrift bekam. Aber das war egal. Bevor irgendjemand etwas ahnen konnte, hatte mein Angriff begonnen. Denn während sich die anderen wieder ins Feld zurückfallen ließen, hielt ich das Tempo hoch. Wenige Kilometer später, als ich Harald Reimers Feinkostladen passierte und zum ersten Mal wendete, hatte ich bereits dreißig, fünfunddreißig Sekunden Vorsprung. Im Fahrerfeld war man sich uneins, wie man reagieren sollte. Der Führende in der Gesamtwertung zögerte, ob er seinen Adjutanten den Befehl geben sollte, mir nachzusetzen. Ich hatte im Klassement fast drei Minuten Rückstand. Es waren noch zweihundertsechzig Kilometer zu fahren. Er nahm mich nicht ernst. Das war der Fehler, der ihn sein Gelbes Trikot kosten würde. Denn meine Mannschaftskollegen reagierten hervorragend. Sie setzten sich an die Spitze des Feldes und begannen kaum merklich, das Tempo zu verschleppen. Mein Vorsprung wuchs. Drei Minuten. Sechs Minuten. Elf Minuten. Die anderen Fahrer sah ich schon lange nicht mehr. Schräg hinter mir fuhr der Materialwagen mit meinem Teamchef, der mir von Zeit zu Zeit aufmunternde Worte und Karamellen für zwei Pfennig das Stück zuwarf. Über mir kreiste der Hubschrauber des französischen Fernsehens. Die längste Alleinfahrt in der Geschichte der Tour de France nahm ihren Lauf. Als ich bei der dritten Wende vor Harald Reimers Feinkostladen Kilometer neunzig passierte und fast eine Viertelstunde Vorsprung hatte, wurden die ersten Journalisten nervös. Sie begannen, fieberhaft Sonderberichte in ihre Redaktionen zu telefonieren.
Etwa zur Hälfte der Strecke – wenn ich zum neunten oder zehnten Mal wendete – begann es schlimm zu werden. Eine Alleinfahrt ist schließlich eine herausragende sportliche Leistung, die nur die wenigsten Athleten auf Dauer durchstehen. Meine Oberschenkel begannen zu schmerzen. Die Stimme meines Teamchefs aus dem Materialwagen nahm ich kaum noch wahr. Der Wind schien ständig von vorn zu kommen. Außerdem hatten sich meine Mannschaftskollegen, lauter junge, unerfahrene Leute, an der Spitze des Feldes verschlissen. Der Führende in der Gesamtwertung beorderte sein gesamtes Team nach vorne, um Tempo zu machen. Seine Adjutanten wechselten sich beständig ab. Er selbst fuhr nur im Windschatten. Ich war Realist, und ich hatte unzählige Stunden vor dem Fernseher verbracht. Ein Fahrer, der sich im Windschatten mitziehen lässt, verbraucht nur siebzig Prozent der Energie eines Fahrers, der allein fährt, das wusste ich. Acht von zehn Ausreißversuchen scheitern, weil ein jagendes Feld bei jeweils zehn Kilometern bis zu einer Minute auf den Führenden gutmachen kann. Jetzt hieß es, die Zähne zusammenzubeißen. Ich gab mein Letztes. Trotzdem schmolz der Vorsprung. Vierzehn Minuten. Elf Minuten. Neun Minuten.
Plötzlich begannen Störmanöver. Links und rechts der Straße tauchten Leute auf, die aussahen wie meine Kumpels auf ihren erbärmlichen Fahrrädern. Ich allein wusste, dass es in Wirklichkeit Cowboys mit ihren Pferden waren. Und Indianer. Manchmal auch Hadschi Halef Omar ben Hadschi Abul Abbas ibn Hadschi Dawud al Gossarah. Sie riefen mir zu. Einige ritten sogar quer über die Fahrbahn, um mich zum Stehen zu bringen. Ich fuhr einfach an ihnen vorbei und beachtete sie nicht. Jede Unsicherheit in meinem Gesicht würde der Hubschrauber des französischen Fernsehens über mir in Millionen von Haushalte übertragen. Das wollte ich nicht. Nachdem ich zwei oder drei Mal an ihnen vorbeigefahren war, verschwanden sie.
Am Ende wurde es knapp. Noch sechs Minuten Vorsprung. Noch vier, noch dreieinhalb. Dabei hatte ich zwei Minuten und siebenundfünfzig Sekunden gegen den Führenden in der Gesamtwertung zu verteidigen. Auf den letzten Kilometern, nachdem ich wieder in unseren Schotterweg eingebogen war, ging ich zum Spurt aus dem Sattel. Vor unserem Haus stieg ich auf zitternden Beinen ab. Ich brauchte nur kurz die Augen zu schließen, um mich selbst noch einmal durch die dichten Zuschauerreihen spurten zu sehen. Gleich nach dem Zielstrich brach ich zusammen. Sanitäter rannten herbei und drängten die Reporter beiseite. Sie stopften mir das Mundstück einer Sauerstoffflasche ins Gesicht.
Obwohl ich gerade die längste Alleinfahrt in der Geschichte der Tour de France erfolgreich beendet hatte, jubelte das Publikum nicht, sondern starrte gebannt auf die Straße. Alle wussten, dass noch eine zweite Sensation in der Luft lag. Würde es mir gelingen, auch noch dem Führenden in der Gesamtwertung das Gelbe Trikot zu entreißen?
Eine Minute verging. Eine zweite. Dann ging ein Raunen durch die Menge. Am Ende der Straße tauchte der Führende der Gesamtwertung auf. Er hatte alle anderen abgeschüttelt und versuchte allein, sein Trikot zu retten. Bis hierher konnte man sein dunkelrot verzerrtes Gesicht sehen. Auf der Uhr über dem Zielstrich tickten die Sekunden. Zwei Minuten fünfundfünfzig. Zwei Minuten sechsundfünfzig. Der Mann in Gelb drückte verzweifelt den Lenker nach vorn, um sein Vorderrad schneller ins Ziel zu bekommen. Vergebens. Die Uhr blieb bei zwei Minuten und achtundfünfzig Sekunden stehen. Ich hatte gesiegt. Mit einer lausigen Sekunde nach zweihundertneunundachtzig Kilometern. Die Zuschauer tobten. Die Stimmen der Reporter überschlugen sich. Mit letzter Kraft schob ich meine Faust aus dem Sauerstoffzelt.
Dann stand ich wieder vor unserem Haus. Wie jeden Abend stellte ich mein Fahrrad in die Garage, ganz hinten an die Wand. Wenn ich klingelte und meine Mutter die Tür öffnete, sagte sie immer: »Junge, hast du dich wieder so abgehetzt? Du bist ja ganz blau angelaufen! Und den ganzen Mund voll Karamell hast du auch.« Mütter verstehen eben nichts vom Radrennen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Knud Kohr: In Cuxhaven. Verbrecher-Verlag, Berlin 2009. 200 Seiten, 13 Euro. Der Roman ist soeben erschienen.