Joann Sfars Graphic Novel »Klezmer«

Klezmer as Klezmer can

Irgendwas zwischen Comic und Aquarell, Punk und Klezmer: Die aktuelle Graphic Novel des französischen Zeichners Joann Sfar zeigt die gefährdete Welt des jüdischen Schtetl zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Was soll ich im Jahr 2005 mit einem Kästchen Aquarellfarben anfangen?« fragt der französische Comiczeichner Joann Sfar im Nachwort zu »Alles Gute zum Geburtstag, Scylla!«, dem zweiten Band seiner Comic-Reihe »Klezmer«. »Gute Frage«, möchte man erwidern, ist Aquarellmalerei doch durch Volkshochschulkurse und Waldorfschulbasare vorbelastet und scheint zum Medium Comic nicht so richtig zu passen.
Doch Sfars aquarellierte Comics haben so gar nichts mit Kitsch zu tun. Im ersten Band, »Klezmer. Die Eroberung des Ostens«, wird man auf das Gebiet der heutigen Ukraine in die Welt der jüdischen Schtetl, der russischen Steppen und der kleinen-großen Abenteuer geführt. Im damaligen Zarenreich unter Nikolaus II. treffen der jüdische Klarinettist Noe Davidovitsch, dessen Orchester von einer konkurrierenden Klezmerband umgebracht wurde, und die junge Chava, die vor einer arrangierten Eheschließung aus ihrem Heimatdorf geflohen ist, auf­einander. Beide schlagen sich gemeinsam nach Odessa durch.
Währenddessen wird der junge Jaacov aus seiner Yeschiwa geworfen, weil er dem Rabbi den Mantel gestohlen hat. Er sagt sich von Gott los und trifft auf seiner Wanderschaft den gläubigen Juden Vincenco. Gemeinsam retten sie dem Roma Tchokola das Leben, der von Bauern an einem Baum aufgeknüpft wurde, und landen ebenfalls in Odessa, denn »dort gehen die Bauern nicht hin«. Beide Gruppen werden auf ihrem Weg ständig mit dem Argwohn der Landbevölkerung konfrontiert, und nicht selten entlädt sich der Antisemitismus der Bauern in tätlichen Angriffen.
In Odessa schließlich treffen die beiden Personengruppen aufeinander, musizieren gemeinsam und werden für die Geburtstagsfeier einer alten jüdischen Dame gebucht. So weit die Vorgeschichte des ersten Bandes.
»Meine Geschichte spielt zu einer Zeit, als die Juden kein Land, keine Polizei, keine Armee und wenig Aussicht haben, dass ein nichtjüdisches Gericht, in welcher Angelegenheit auch immer, zu ihren Gunsten entscheiden würde«, schreibt Sfar, dessen Großvater auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren wurde, in seinem Nachwort.
Im gerade auf Deutsch erschienenen zweiten Band der Reihe, »Alles Gute zum Geburtstag, Scylla!«, wird die nächtliche Geburtstagsfeier beschrieben, auf der sich Chava und Jaacov näherkommen. In »Klezmer« erzählt Sfar vom alltäglichen Antisemitismus in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die spätere Vernichtung mit vorbereitet hat. Es geht um die Entstehung des Zionismus im zaristischen Russland, die Verfolgung und Unterdrückung der Juden und Roma, um die Bedeutung von Musik damals wie heute, um die zentrale Stellung der Stadt Odessa für die Geschichte des europäischen Judentums und um das Leben derjenigen, die Isaak Babel, einer der berühmtesten Söhne Odessas, als »Luftmenschen« bezeichnet hat, um die gefährdete jüdische Existenz in der Moderne zu bebildern.
In Odessa lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 140 000 Juden, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung, und damit war die Stadt am Schwarzen Meer nach Warschau die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Zarenreich. Die Bedeutung des Judentums für die Stadt hat Isaak Babel hervorgehoben, den Joann Sfar in »Klezmer« zitiert: »Die Juden sind ein Volk, das ein paar sehr einfache Dinge sehr schön geprägt hat. Ihren Bemühungen ist es in bedeutendem Maße zu verdanken, dass in Odessa eine Atmosphäre von Helle und Leichtigkeit entstand.« Doch trotz dieser Bemühungen war Odessa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schauplatz zahlreicher antijüdischer Pogrome, bei dem verheerendsten kamen 1905 allein 300 ­Juden ums Leben. Daher ist es wenig verwunderlich, dass die Stadt nicht nur das osteuro­päische Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung, sondern auch ein wichtiger Ort des politischen Zionismus wurde, Jahre bevor Theodor Herzl seine ersten Schriften verfasste. Leon Pinsker, der Autor des zionistischen Pamphlets »Auto-Emancipation« von 1881, versuchte, auswanderungswillige Juden zu einer politischen Bewegung zusammenzuschließen.
So ist Odessa, das als Hafen- und Handelsstadt auch die am stärksten von der westlichen Kultur beeinflusste Stadt des Zarenreichs war, von Sfar bewusst zum Ort der Handlung auserkoren, denn hier treffen alle für das Judentum des beginnenden 20. Jahrhunderts wichtigen Strömungen an einem Ort aufeinander. Wegen dieser Vielschichtigkeit wird Odessa für die Protagonisten von »Klezmer« zu einem utopischen Ort, der sie den Antisemitismus vergessen und ihr Leben so leben lässt, wie sie es sich erträumen. Sfar zeigt auch die Gefährdung dieser Idylle: Der Comic endet mit der von der der israelischen Nationalhymne Hatikva begleiteten Abreise der alten Dame Richtung Israel und verweist so bereits auf das Ende der Utopie Odessa. Denn dieser Ort ist ebenso zerstört worden wie die gesamte jüdische Kultur Osteuropas. Im Nachwort schreibt Sfar: »Wenn ich heute ›Klezmer‹ zeichne, dann zweifellos aus dem Grund, dass ich nach Auschwitz geboren wurde, und dass ich mit dieser beunruhigenden Vorstellung aufgewachsen bin: Die humanistischen Ideale und die republikanischen Utopien sind jederzeit widerrufbar.« Der Comic ist durchzogen von der Trauer darüber, dass die Welten, die er erschafft, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sind, und fragt: »Kann man eine Heimat besingen, die nicht mehr existiert?« Sfar gibt sich selbst die Antwort und schreibt: »Wenn man sich bewusst macht, dass diese Welt nicht mehr existiert, kann man den Klezmerliedern zweifellos einen Wert geben, der über Folklore hinausgeht.«
Sfar knüpft an eine Tradition an, die mit der heutigen »verwestlichten« Version von Klezmer wenig gemein hat. Die Ästhetik von Sfars Zeichnungen erinnert an die Bilder des litauisch-französischen Malers Chaim Soutine oder auch an Marc Chagall. Im zweiten »Klezmer«-Band, der eine ausführliche Reflexion über die Aquarelltechnik enthält, hat Sfar seine Technik noch einmal enorm verfeinert; er komponiert in seiner Farbgebung den Comic geradezu und vergleicht im Nachwort das Kolorieren mit dem Einsatz von Filmmusik: Beides seien künstlerische Techniken, um die Emotionen des Zuschauers zu steuern. Die Tradition jüdischer Kultur in Osteuropa wurde unterbrochen und zerstört durch die deutsche Vernichtungspolitik, und von diesem Verlust handelt Sfars Comic.
Wenn Sfar an die Ästhetik Chagalls anknüpft, so tut er dies mit dem Wissen, dass dessen Bildersprache des Fliegens und Schwebens nicht in erster Linie so etwas wie »ostjüdische Lebensfreude« metaphorisch zu fassen versucht, sondern, wie Nicolas Berg in seinem Buch »Luftmenschen« schreibt, vor allem ganz unmetaphorisch das Verweigern von Zugehörigkeit zu einem Boden und die stetige Möglichkeit umschreibt, regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. Sfars Strategie gegen das Vergessen ist es, an diese osteuropäische jüdische Kultur anzuknüpfen, sie »lebendig« zu machen und im gleichen Atemzug über ihren Verlust zu trauern.

Joann Sfar:
Klezmer, Bd. 1: Die Eroberung des Ostens. Avant, Berlin 2007, 148 Seiten, 19,95 Euro
Klezmer, Bd. 2: Alles Gute zum Geburtstag, Scylla! Avant, Berlin 2009, 128 Seiten, 17,95 Euro