Irres Fest. Silvester in der Psychiatrie

Sillivester

Es gibt Mineralwasser und ein Stück auf der Oboe. Draußen wird geknallt, drinnen fliegen kleine Engel durch den Raum. Über einen, der seinen Jahreswechsel in der Psychiatrie verbringt.

»Meine Ärztin hat gesagt, das bleibt jetzt so. Aber das wollte ich nicht akzeptieren. Die hat gemeint: Ich würde mal sagen, Sie sind etwas bipolar. Freuen Sie sich doch, Herr Kuschel! Sie sind das ganze Leben in der Pubertät.«
Der Arzt schaut Karl an. »Was ist denn, wenn Sie einfach erst mal hierbleiben?«
Karl überlegt kurz. Dass das bestimmt komisch wird, die nächsten Tage. So kurz vor Silvester, und dann das erste Mal in der Psychia­trie. Jetzt geht’s nur noch um Krisenbewältigung, hat die Allgemeinmedizinerin gesagt. Und dann Valium verschrieben.
Das ist Karl zu wenig, er hat starke Angstzustände, findet sich zurzeit selbst etwas belastend. Und befürchtet, er kann sich nicht mehr richtig kontrollieren: Deswegen ist er ins Krankenhaus gestapft, um beim Spezialisten vorstellig zu werden. Der hat sich gerade seinerseits vorgestellt – und da muss der Schwerkranke doch kurz lächeln, der Name war etwas komisch: »Guten Tag, mein Name ist Mitte-Rand.«
Haha, denkt Karl: Wie der Franzose. Begründung intern: Den Bindestrich hört man ja nicht.
Die Angst, sie ist seit ein paar Tagen da. Karl kann sie ganz genau sehen, auf der Rückseite der Augen, da ist sie aufgemalt. Sie ist aus schwarzer Götterspeise. Innendrin befinden sich rote, zottelige Haufen. Die sitzen auf einer Leiter, immer zwei auf einer Sprosse. Die Leiter lehnt an einer Wolke, ihr Ende verschwindet im Sonnenuntergang. Von irgendwoher kommt leise Hintergrundmusik, etwa so wie »Stairway to Heaven«, aber die Live-Version – Jimmy Page an der Doppelhalsgitarre, einmal zwölf und einmal sechs Saiten. Links daneben der Slayer-Sänger.
Die zotteligen Haufen sind aber immer noch der Main Act der Optik. Wie Krebszellen sehen die jetzt aus. Jede hat zehn Augen, die alle unabhängig voneinander blinzeln können, und sie hören auf Namen wie Brad Pizza und George »Orwell« Klon-Ei. Karl hat schon ganz blaue Flecken – von den ganzen Eindrücken. Eine imposante Aufführung, so eine Psychose. Als wäre das nicht genug, steht die ganze Suppe unter Hochspannung. »10 000 Volt, Minimum«, sagt Karl zu Doktor Mitte-Rand. »Jaja«, sagt der: »Nur Schmerz erweitert das Bewusstsein.«
Wahrscheinlich die Sebastian-Deisler- oder seit neuestem auch: Robert-Enke-Krankheit. Wahnhafte Depression mit erhöhter Suizidalität. »Komisch«, denkt Karl. »Es ist doch so lange gut gegangen. Aber jetzt hilft das Trinken nicht mehr.«
Eine andere Frau ist im Spiel, ach, vielleicht aber auch nicht, wer kann das schon sagen. An der Liebe geht man zugrunde. Die Arbeit ist prekär, die Eltern sind krank.
»Ich glaube, das ist okay«, sagt Karl zum französischen Staatspräsidenten außer Dienst.
Draußen muss er seine Freundin informieren, die Frau von Fleißmaus. »Mein Liebes, ich bleib’ hier.«
Die Arme wird kreidebleich.
»Bitte, bring mir ein paar Sachen vorbei«, sagt er noch.
Die Frau Fleißmaus ist ganz schön gebügelt. Jetzt muss sie allein Silvester feiern. Sie weint. Wird sie Karl noch mal wiederbekommen? Ist der jetzt amtlich getestet schizophren?
Mitte-Rand geht voraus, durch schmale Gänge, dann geht es in den Keller. An der Decke die Heizungsrohre, auf dem Boden Zylinderkopfdichtungsmasse.
»Sie werden überrascht sein«, sagt der Arzt, »willkommen in der Welt der Psychiatrie. Hier ist es sehr interessant.«
Naturgesetze gelten hier nur bedingt. Von der Wirklichkeit mal ganz zu schweigen.
Die Station ist ein Psychiatrie-Ableger. Nichts mit geschlossenen Türen und runden Löffeln, 30 Patienten auf zwei Pfleger. Dies hier ist die »Krisenintervention«: acht Betten, neun Kranke. Einer pennt auf der Liege. Aber morgen reist jemand ab, dann stimmt es wieder.
Morgens, mittags, abends Gruppen- und Einzelgespräche. Jeder bekommt einen Betreuer. Für Karl gibt’s Herrn Freitag-Samstag-Sonntag. »Tja, Depressionen und Alkohol, das hat in unserer Familie gewissermaßen Tradition«, meint Karl. »Ich fass’ es nicht, dass ich jetzt zu den Beknackten gehöre. Bin ich schizophren?«
»Nö, das hätten wir gemerkt«, sagt Herr Wochenende.
Dann eben sexsüchtig, glaubt Karl, wobei das Glauben so aussieht wie die Gedankenblasen im Comic. Oder schwul?
»Wir können«, sagt der Betreuer weise, »Sie nur aufs Gleis setzen. Fahren müssen Sie selber.«
Für die theoretische Führerscheinprüfung büffelt Karl mit einem Buch, das ihm Herr ­Fr–So auf das Kopfkissen gelegt hat: »Helmut Kolitzus: Ich befreie mich von deiner Sucht«, steht da drauf, und: »Hilfen für Angehörige von Suchtkranken, Köselverlag«.
Es könne durchaus und sehr gut sein, dass Karl eine psychische Krankheit habe, sagt der Fachmann: »Da müssen Sie aber erstmal mit der Sucht aufhören. Sonst sehen wir nicht, was sich darunter verbirgt.«
Das Trinken hat Karl schon vor zwei Tagen aufgegeben. Nach 14 Flaschen Bier immer noch keine Besserung. Da hatte er Krampfanfälle gehabt und sich zusammen mit der Matratze wie ein Embryo in Decken gewickelt. Aus physischer Entkräftung (Flaschen schleppen) ging das so nicht mehr weiter. Jetzt gibt es Paroxetin, 40 Milligramm. Antidepressivum, angstlösend. Das hat Karl früher schon mal genommen. Aber die Dosis war zu niedrig. »Ja, ich habe meine Tabletten genommen, Herr Arzt.«
Karl schaut sich um. Das schlimmste Scheißwetter seit Angedenken der Menschheit. Es ist bis elf Uhr morgens stockdunkel. Dann wird es etwas heller, bis es um zwei Uhr nachmittags schon wieder stockfinster ist. Der Himmel hängt wie Stahlgewitter von der Decke herab, verrostetes aber. Es gibt keinen Grund, vor die Tür zu gehen. Außer zum Rauchen.
In der Station gibt es eine Art Wohnzimmer. Alle Patientinnen und Patienten sind wegen einer Sache hier: Beziehungsschwierigkeiten. Frau Gürzmürz ist seit 30 Jahren verheiratet. Nun hat ihr Mann ihr das erste Mal eins in die Schnauze gehauen. Wo könnte sie hin? »Mit sowas hab ich nicht gerechnet«, sagt sie, durchaus unter trockenen Tränen, den wenigen.
Annesophie ist, oder besser: war Oboistin im großen Orchester. Sie hat viel Talent und bekommt mit 20 einen Zweijahresvertrag. Der wird einmal verlängert. Dann nicht mehr. Nun arbeitet sie im Call-Center einer Versicherung. Sie ist stark verängstigt, weiß nicht, was sie denken soll. »Die Ärzte tippen auf Psychose«, sagt sie, »aber das glaube ich nicht. Die sind hier selbst nicht mehr ganz dicht. Manchmal glaub’ ich: Die haben hier den Verstand verloren!«
Den letzten Satz spricht sie mit der gleichen Stimme, die der Teufel in Hollywood-Produk­tionen benutzt, so drei, vier Oktaven unter der Gürtellinie.
Ein Selbstmordversuch, ihr Partner hat Schluss gemacht. Sie ist stark übergewichtig. Wenn man sie nach Versicherungen fragt, spult sie so souverän ihr Verkaufsgespräch ab, dass man denkt: Mensch, das kann die bestimmt auf dem Friedhof noch.
Die junge Frau ist schon drei Wochen in der Station.
Eine andere junge Frau, Line, mit Nachnamen – nicht lachen jetzt – Hot lebt mit ihrer Mutter zusammen. Line sieht total scharf aus, 19 Jahre alt ist sie nach Eigenangaben. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, sagt sie. »Es denkt in mir.«
»Es« hat dann gedacht, sie solle sich umbringen. Mit ihrem Freund kann sie nicht gut darüber reden. »Freund, Freund«, was ist das für eine hirnrissige Einrichtung?« fragt sie. »Die Typen wollen dauernd bumsen, dann muss man die Pille nehmen, damit man nicht schwanger wird, dann will er wieder, ich vergess’ die Pille und muss zum Arzt und nehm’ die Pille danach … Wer hat sich diesen Scheiß nur ausgedacht?« schimpft sie.
Ihre Mutter sei Prostituierte, die mache auf jung und wolle immer »ihre beste Freundin« sein. »’Ne beste Freundin find’ ick ooch alleene, aber wo find’ ick ’ne Mutter?«
Ihr letzter Job: »Ich putze in dem Puff, in dem meine Mutter arbeitet.«
Karl: »Na hör mal, du hast sie ja wohl nicht alle.«
Line: »Exakt.«
Die nächste ist Prinzessin Anirul – die ist 17 und wiegt vielleicht noch 35 Kilo. Sie hat sich alles weggehungert. Der Grund: »Ich soll Shaddam heiraten. Ich mag ihn aber nicht.« Zur Info: Shaddam IV ist der Erbe des Throns von Caitain, dritter Planet rechts im System der Doppelsonne Helix, Bunny-Hill-Galaxie.
Die Familie komme jeden Tag vorbei, um zu schauen, ob sie ihre Meinung geändert hat. »Ich will Shaddam nicht heiraten«, sagt sie. Und zwar sehr oft. Uns. Vielleicht sollte sie es mal der Familie sagen.
Bei Anirul ist das Beziehungsproblem wenigstens handfest. Der junge Mann bietet für die Ehe mit ihr 35 999,99 Euro, bei Barzahlung gibt’s ein Prozent Skonto.
»Das möchte ich auch mal erleben, dass einer 35 639,9901 Euro für mich hinlegt – Barcode auf die Kralle.« – Es kommt dieser Tage nicht oft vor, dass Annesophie und Frau Gürzmürz wie im Chor sprechen. Wie denn auch, sie kennen sich ja kaum. Aber bei der Summe …
»Das muss Liebe sein«, sagen die beiden – schon wieder im Chor, ist es zu fassen. »Und wenn’s keine ist, dann ist immerhin Kawumm dahinter – das bedeutet: großes Gefühl.«
Die arme Anirul wird ganz schön von ihrer Familie belagert. Damit sie endlich mal laut sagt, dass sie den Bunny-Hill-Erben nicht heiraten will. Damit sie endlich mal laut sagt, dass sie den Bunny-Hill-Erben nicht heiraten will. Doppelt hält besser. Aber sie bekommt auch Besuch von ihren vielen Freundinnen, die sie bei Laune halten. Hihi, hehe, giggel, giggel. Die Mädchen tauschen Cristiano-Ronaldo-Klingeltöne aus.
Annesophie bekommt zwar auch Besuch. Aber da breiten die Eltern nur ein Picknick in Annesophies Zimmer aus. Jede Serviette wird ganz genau Kante gefaltet. Wie im Kleiderschrank vom Bund.
Karl staunt nicht schlecht, als sie in der Nacht drauf einen Bekannten einliefern. Fritze Gollum, der junge Mann, der sein Geld wie Karl unter anderem bei den McDoof’s KinoNews verdient, ist ganz aufgelöst. Sein Freund, der nun wirklich Frank Smiegel heißt, hat ihn verlassen. »Er hat gesagt, er hat einen anderen, dann ist er ins Hotel gezogen.« Wie soll es denn jetzt bloß weitergehen?
Gollum und Smiegel auseinander, na, das ist ja ein Ding, denkt Karl. Neulich war er noch in der Wohnung der beiden gewesen. Altbau, wunderschön. Mit Goldfarbe so Fantasy-Figuren auf die Wände gestrichen, fast so ein bisschen wie in »Herr der Ringe«; dann ein Himmelbett undsoweiter.
»Freunde haben mich ins Krankenhaus gebracht, weil sie dachten, ich bringe mich um. Die Ärzte dachten das auch, deshalb war ich jetzt eine Nacht auf der Geschlossenen. Alles Verrückte da, kein Vergnügen, ich sag’s dir«, sagt Fritz.
In der nächsten Zeit werden sich Karl und er aber etwas aus dem Weg gehen, zumal Fritze echt laut Selbstgespräche führt, deren Sinn dem nicht voreingenommenen Zuhörer ein ziemliches Rätsel sind.

Nacht wird’s. Karl geht zu Herrn Vollhorst, der Stationsaufsicht. Der junge Zivildienstleistende im sechsten Monat sitzt dort vor seinen E-Mails – mit offener Hose.
»Ich hätte gern eine Valium, ich kann nicht schlafen«, sagt Karl.
Der Krankenwart steht auf. »Oh, Entschuldigung«, sagt er mit Blick auf den offenen Hosenstall. »Ich hab’ gerade mit dem Rauchen aufgehört, Mensch, da hab’ ich doch zehn Kilo zugenommen. Nichts passt mehr. So ’ne Probleme ham’se wengstens nich’, wie bitte?«
Er gibt Karl die gewünschte Tablette. Hoffentlich bleibt da nichts zurück.
Als nächstes kommt der 31. Dezember, es ist 23 Uhr 45: Karl sitzt mit Hots Line, Frau Gürzmürz, Anirul und Annesophie im Wohnzimmer. Auf dem Tisch steht Mineralwasser, mit dem feiert die kleine Festgemeinschaft Silvester. »Ich wusste gar nicht, dass das geht«, sagt Karl. »Aber jetzt sitze ich hier mit freundlichen Menschen und muss gar keinen Schnaps nicht trinken.«
Es klopft an der Stationstür. Herr Vollhorst öffnet; herein stürzt ein junger Mann, der sofort in Karls Zimmer verschwindet. »Das ist Herr Krautwurst, der kommt jedes Jahr Silvester. Denn er erträgt die Knallerei nicht. Morgen früh geht er wieder«, sagt der Zivi.
Bimmbamm, beim Gong ist es genau null Uhr. »Sagt mal, wollt ihr zufällig ein Lied auf der Oboe hören?«, fragt Annesophie. – »Wieso, hast du die etwa hier?« – »Ja, hab’ ich. Ich hol’ sie mal.«
Annesophie kommt mit einem Kasten wieder. Er ist so groß wie ein Sarg. Sie öffnet den Deckel, es liegt ein Musikinstrument darin, das so schön ist, wie man es noch nie gesehen hat. Vor Weh werden Karls Augen feucht. Flüssiges Hirn.
»Die kostet 30 000 Euro«, sagt die junge Musikerin. »Wenn man berufsmäßig spielt, braucht man sowas.«
Annesophie legt das Instrument an ihren Körper. Es schmiegt sich sogleich an die junge Frau wie eine große verschmuste Boa Constrictor. Einmal, zweimal um den Körper rum, das Mundstück, es will küssen.
Annesophie legt den Mund an und beginnt zu spielen. Die Töne fliegen durchs Zimmer wie kleine Engel. Hierhin, dorthin ziehen sie eine Schleppe blinzelnder Zimmer-Sternschnuppen hinter sich her. Wie Annesophie so spielt, lösen sich die Personal-Konstruktionen sachte auf. »Zerbröselt die Subjekte, seid wieder Individuen«, singt die Oboe. Das Nichts nichtet, aber die Musik, liebe Fans, ist das Eisbärfell des Seins, und der Mensch ist darin eingewickelt.
Die kleine Silvester-Party wird ganz durchgerührt im Kopf und im Gekröse. Der Aufsichtsmann steht in der Tür mit seiner offenen Hose. Auch in den Menschen lösen sich Blockaden. Man darf nicht vergessen, dass es sich hier um recht stark verletzte und verletzliche Persönchen handelt.
Als Annesophie aufhört, bemühen vier von fünf Menschen ihre Augentücher, so schön war das. »Es ist offensichtlich ein Unterschied«, sagt Karl, »ob jemand Oboe spielt. Oder ob das jemand berufsmäßig macht.«
»Klapse ist geil«, sagt Line.
Danach rangeln alle um das Stationstelefon. Karl muss Frau Fleißmaus sprechen. Die ist jetzt auf der Feier bei den Freunden. Dort werfen sich die Nachbarn gerade die Knaller gegenseitig auf den Balkon.
Für Herrn Krautwurst wär das aber nichts. Karl hat auch nur die Mailbox dran. Er versucht es auf Lukas’ Telefon, vielleicht kriegt er die Fleißmaus ja so ans Phone. Hinterher kommt raus, dass sie das Ding vergessen hatte und untröstlich war. Auch Karl ist sehr, sehr traurig.
»Watt willste, wer is’n da?« brüllt Lukas.
Fest-Geschnatter, explodierende polnische Knaller (illegal), AC/DC. Im Hintergrund röhrt einer wie Vieh auf der Weide: »So schön wird’s nich’ mehr!«
»Ach je«, stöhnt Karl, »noch schöner wär’s, wenn man sich auf sein Gehirn auch mal verlassen könnte. Wo es so wenig feste Größen im Leben gibt.«
Wie jedes Jahr wird es auch diese Nacht schneien und tauen und wieder frieren: Eismatsch, Knallerpampe und Söhnlein Brillant werden eine einzigartige Melange bilden, die die Stadtreinigung erst im Mai unter Aufbietung aller Kräfte entfernen kann. So eine Sauerei. Ein Krach wie im Krieg.
»Wer is’n da, ick kann dir nicht höan«, brüllt Karls Saufkumpel in den Hörer. Plöpp.
»Ehemaliger Saufkumpel«, denkt Karl: »Ehemaliger.«