Normalität voller Brüche. David Lynchs »Interview Project«

Straight Stories

David Lynch hat für ein Interviewprojekt über 100 Durchschnittsamerikaner getroffen und lässt sie ihre Lebensgeschichte erzählen. Es zeigt sich, dass die Normalität voller Brüche ist.

Auf der Website von David Lynch findet sich neben dem täglich höchstpersönlich angesagten Wetterbericht sowie der Werbung für Bio-Kaffee und kuriose Klingeltöne seit einigen Wochen auch der Link zu einer außergewöhnlichen Dokumentarserie: dem »Interview Project« (interviewproject.davidlynch.com). Lynchs Sohn Austin hat die kurzen, jeweils drei- bis vierminütigen Filme mit seinem Freund Jason S. gedreht. Das Projekt umfasst insgesamt 121 Interviews, die über einen Zeitraum von siebzig Tagen auf einem 20 000 Meilen langen »Road Trip« quer durch die Vereinigten Staaten entstanden sind. Alle drei Tage wird eine neue Episode online gestellt. Die Videos werden mit den Namen der Interviewten – Louis, Rey, Lynn, Diana, Joe Bratton, Mrs. Dennis etc. – getitelt. Jede Folge beginnt mit der Simulation einer Bildstörung, es flackert und rauscht, dann sieht man David Lynch in einem Atelierraum hinter einem Tisch sitzen und in die Kamera sprechen: »Hallo, Sie haben das Interview Project eingeschaltet. Heute treffen wir Kelly Eugene Guinn. Kelly lebt bis heute in dem Haus, in dem er geboren wurde. Viel Spaß bei dem Interview.« Ein ramponiert aussehender Mann mit zotteligen Haaren, Strohhut und einem klapprigen Fahrrad erzählt daraufhin von seiner Kindheit und davon, dass er in seinem Leben nie einen Freund hatte und er im Abfall nach Essensresten suchen muss. Beim Reden scheint er schlecht Luft zu bekommen, er röchelt, und für einen Moment lang sieht es so aus, als fange er gleich an zu weinen. Dann fährt er mit seinem Fahrrad davon.
Die Interviewten fand das kleine Filmteam irgendwo auf seinem Trip quer durch die USA, vor dem Haus, am Straßenrand, in einer Bar sitzend. Doch natürlich wurde hier ganz bewusst nach dem Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen gesucht, es sind eher gezielte als zufällige Begegnungen. So ist auch einmal zu lesen, das Team habe fast 100 Kilometer zurückgelegt, bis es endlich wieder jemanden für ein Interview gefunden habe.
Ein bisschen wirkt das »Interview Project« wie die Doku-Version von »The Straight Story« (1999), Lynchs untypischstem Film, einem Roadmovie, das von den wahren Erlebnissen des 73jährigen Rentners Alvin Straight erzählte. Auf einem Sitz-Rasenmäher tuckerte Straight sechs Wochen lang von Iowa nach Wisconsin, um dort seinen kranken Bruder zu besuchen, seine vielen Begegnungen auf der Reise bilden den eigentlichen Plot des Films. Das »Interview Project« ist im Grunde eine Reihe von Miniatur-Dokumentarfilmen, die Interviewten erzählen ihr Leben mal so eben »in a nutshell«. Dabei ergibt sich die Struktur der Interviews aus den immer gleichen Fragen: Wie würden Sie sich beschreiben? Was ist die wichtigste Sache in Ihrem Leben? Gibt es etwas, das Sie bereuen? Wie möchten Sie erinnert werden? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Gibt es etwas, auf das Sie stolz sind? »Ich bin auf nichts stolz, außer darauf, am Leben zu sein«, meint der Vietnam-Veteran Jess, dessen drogensüchtige Freundin mit den gemeinsamen Kindern abgehauen ist. Der 80jährige Dale Leach findet keine Antwort auf die Frage, als was er gerne erinnert werden möchte. Lynn, eine verwitterte Blondine, beschreibt sich ohne zu zögern als gebrochener Mensch, und Jim Carter steigen die Tränen in die Augen, als er von seiner fehlenden Bildung spricht, von seinem Gefühl, ein dummer Mensch zu sein. Er erinnert sich, wie er von zu Hause wegging, um sich die Welt anzusehen: » … es war kein guter Ort zum Leben. Es war ein schlechter Ort.« Am Ende zieht er schwerfällig mit seiner Gehhilfe weiter.
Das »Interview Project« zeichnet ein Porträt des ländlichen Amerika, die urbanen Zentren sind in weiter Ferne, sie haben hier kaum Spuren hinterlassen, manchmal wirkt die Zeit wie stehen geblieben. Meist handeln die Geschichten von Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Raster herausgefallen sind, von kaputten Kindheiten und sexuellem Missbrauch, von Drogen und Alkohol, sozialem Elend, häuslicher Gewalt oder Kriminalität. Lebensschicksale, die auch manche eklige Nachmittagstalkshow füllen könnten, hier werden sie ohne den üblichen voyeuristischen Gestus und das damit verbundene Versprechen auf authentische Krassheit vorgestellt. Die Befragten erzählen ihre Geschichte selbst, sie behalten dabei ihre Würde und manchmal sogar eine erstaunliche Distanz zu sich selbst. Religion spielt oft eine Rolle, auch eine gewisse moralische Verpflichtung zum »Gut-Sein«, doch von Sozialromantik ist hier keine Spur, nur wenige flüchten sich in die beliebte Platitüde, dass schon alles »gut« werden wird.
Die Beiträge sind einfach und ohne Kunstgriffe gemacht, statische Einstellungen, wenig Schnitte, auf die Authentizität suggerierende Handkamera wird ganz verzichtet. Es gibt eine minimale dramaturgische Bearbeitung: ein bisschen Musik, ein paar Bilder, die die Atmosphäre des Ortes einfangen. Nur ein paar Mal ­erlaubt sich das Interview-Team den einen oder anderen Regie-Witz. Als etwa Tommie Holiday erzählt, dass seine Freundin ihren stalkenden Ex-Freund mit einem Maschinengewehr erschossen hat, wird der Sound von Gewehrfeuer eingespielt, und man sieht ein schwarzes Bild, das sich mit weißen Einschusslöchern füllt. Oder die Geschichte des Marine-Offiziers Palmer Black: Sie wird in Schwarzweiß gefilmt. Die Regel ist jedoch ein schlichter Dokumentarismus.
Das eigentlich Interessante am »Interview Project« jedoch ist, dass die Episoden durch die Anmoderation Lynchs ihr sozialdokumentarisches Format – und auch die dokumentarische »Korrektheit« – überschreiten. Denn die interviewten Personen werden durch diesen Kunstgriff ihrer meist deprimierenden sozialen Realität enthoben und zu Charakteren des »Lynchian Universe«. Dass die Beiträge mit dem eingeblendeten Logo von Lynchs Produktionsfirma Absurda enden (mit einem R, das sich zu schrägen Klängen umdreht), verleiht den Episoden zusätzlich den Charakter des Kuriosen. Auch der Vorspann, so knapp und trocken er zunächst auch erscheint, gewinnt mit jeder Wiederholung an Absurdität. Die Schrulligkeit liegt hier nicht im Extraordinären, sondern in der schematischen Wiederholung. Kameraeinstellung und Schnittfolge wirken wie automa­tisiert, immer verdeckt der Arbeitstisch Lynchs qualmende Zigarette, allein die grauen Haare sind mal mehr, mal weniger verwuschelt. Dieser Lynch’sche Verfremdungseffekt erzeugt eine eigentümliche Spannung zu der Authentizität der Personen und ihren Geschichten. In ­einem kurzen Clip, in dem das Projekt vorgestellt wird, gebraucht Lynch das Wort »Leute« so häufig und ausgestellt, dass es fast seine Bedeutung verliert: »Leute sollten das Interview Project ansehen, weil sie dadurch Hunderte Leute treffen ... Die Leute, die interviewt wurden, waren alle unterschiedlich … die Leute erzählten ihre eigene Geschichte. Es ist so faszinierend, Leute zu betrachten und ihnen zuzuhören.« Man gewinnt fast den Eindruck, bei »Leuten« handele es sich um eine besonders seltene, fremdartige Spezies.