Leistungsträger. Stützen unserer Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Sie sind in aller Munde, ihre Arbeit soll sich wieder lohnen, und Guido Westerwelle will mehr davon: die Leistungsträger. Werden auch Sie einer, zum Beispiel im neuen Jahr! Die folgenden Orientierungshilfen und Vorbilder geben wir Ihnen an die Hand, damit Sie dabei nichts falsch machen.

Eine bedrohte Spezies

In Deutschland herrscht der Schlendrian. Beweise? Wer etwa das wohlklingende Wort »Leistungsbereitschaft« als Suchbegriff bei Google eingibt, erhält nur 428 000 Treffer. Der garstige Ausdruck »Faulenzen« hingegen ergibt 584 000 Ergebnisse. Das abscheuliche Wort »Freizeit«? 57 Millionen Treffer – bestürzend!
Dass der Begriff »Leistungsträger« zumindest 772 000 Einträge vorweisen kann, tröstet da weniger als die Tatsache, dass sich unter den Ergebnissen der Verweis auf den »Aktionskreis Leistungsträger« (AKL) findet. Dieser Zusammenschluss »wichtiger Stützen unserer Gesellschaft« hat sich Revolutionäres zum Ziel gesetzt: »Sicherzustellen, dass gute Leistung sich lohnt und weiter möglich bleibt.«
Das ist eine schier übermenschliche Aufgabe. »Kollektivistische Organisationen, die sich in unserem Land z.B. als gewerkschaftliche Interessenvertretung tarnen«, reden »einer leistungsfeindlichen Gleichmacherei« das Wort. Ginge es mit rechten Dingen zu, erhielten die Leistungsträger nicht nur »Aufmerksamkeit«, sondern auch einen »entsprechenden politischen Einfluss«. Und wäre es nicht angemessen, dass sie, »die Stärkeren in unserer Gesellschaft, vor einer Überforderung geschützt« würden?
Doch stattdessen sind sie eine »zunehmend bedrohte Spezies«. Denn »zahllose Sozialbürokraten« verteilen »so schön die Steuergelder«, dass den Leistungsträgern nur noch »durch staatliche Abschöpfungen übermäßig geminderte Einkommen« bleiben. Die bittere Wahrheit ist: »Das deutsche Steuersystem korrumpiert den Leistungswillen der Bürger.« Wie das aussieht, weiß man: Während die Unterschicht Steuergelder versäuft oder in Flachbildschirme steckt, reicht das Einkommen so mancher Leistungsträger nicht einmal mehr dazu aus, den zweiten Mercedes mit ordentlichen Ledersitzen auszustatten.
Solch schreiendes Unrecht zu beenden, ist der AKL angetreten. Was er bisher erreicht hat, macht Mut. Das von ihm erarbeitete »ABC der Steuerreform« wäre als Gesetz imstande zu verhindern, dass Sozialbürokraten den Leistungsträgern »noch tiefer in die Taschen greifen«. In Auf-sehen erregenden Veranstaltungen konnte der AKL politische Entscheidungsträger für sich gewinnen, so zum Beispiel in dem mit der Friedrich-Naumann-Stiftung veranstalteten Seminar »Leistungsträger – Auslaufmodell oder Garanten des Erfolgs?« (mit »einem – leider völlig verregneten – Grillabend«) oder dem mit der Konrad-Adenauer-Stiftung abgehaltenen Workshop »Ethische Grundlagen der Unternehmens- und Personalführung«.
In der Tat handeln die Leistungsträger nach höchsten ethischen Prinzipien. Eigennutz ist ihnen fremd. Vielmehr gilt: »Wer die Leistungsstarken gut behandelt, nützt auch den Schwachen.« Und das nicht mit schnöden, materiellen Dingen. Nein, die Leistungsträger machen für alle Menschen Überstunden und sichern so »die Zukunft Deutschlands«. Und wozu sollte die Unterschicht noch Alkohol und Flachbildschirme brauchen, wenn ihr doch dank der Leistungsträger die Zukunft gehört?
Markus Ströhlein

Leistungsträger im Vergleich

Leistung lässt sich differenzieren nach Einsatz, Erfolg und Wert. »Einsatz« bezieht sich auf den körperlichen, geistigen oder finanziellen Aufwand, eine Leistung zu erbringen. »Erfolg« wirft die Frage auf, ob sich der Aufwand auch gelohnt hat, denn »I’ve worked so very hard« genügt nicht, wenn’s daneben geht. Mit »Wert« sind alle politischen, moralischen, symbolischen Nebeneffekte einer Leistung gemeint.
Als Verteidiger der »Leistungsträger« im Lande haben sich heuer Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk hervorgetan. Unterstützt wurden sie von Redakteuren der Lettre International und der FAZ. Fragen wir einmal, ob sie und ihre Unterstützer eine besondere Leistung erbracht haben.
Ihr Einsatz oder Aufwand lag, stellen wir es ruhig fest, bei exakt Null. Es gehört nichts dazu, die Ressentiments seines Milieus zu wiederholen. Heinz Buschkowsky oder Karl Heinz Bohrer können es ebenso gut, wenn nicht besser. Nächster Punkt, die Frage nach dem Erfolg. Sie ist kniffliger, weil sie von den Zielen der Genannten abhängt. Da sie allesamt notorische Wichtigtuer sind, dürfte Publicity ein oberes Ziel gewesen sein. Nun, das haben sie klar erreicht. Maximaler Erfolg bei null Aufwand, bravo. Doch es fehlt noch der Wert ihrer Leistung. Nach dem moralischen Wert einer Beschimpfung von Schwachen sollten wir gar nicht erst forschen. Doch fiel einigen ein Symbolwert auf: Sarrazin, Sloterdijk und ihre journalistischen Spießgesellen hätten den Boden bereitet für einen deutschen Thatcherismus. So scheint es aber nur. In Wahrheit waren sie lange nicht die ersten. Denken wir nur an die schon vor Zeiten eröffnete Jagd auf »Sozi-Abzocker«; die Propaganda, die die Neue Armut rechtfertigen sollte. Zu spät kommen Sarrazin & Co. also auch noch. Insgesamt: eine wertlose Gratisleistung, die so schlecht ist, dass sie gerade dadurch auffiel und also erfolgreich war. Ein Tiefpunkt.
Vergleichen wir nun diese traurigen Leistungsträger mit solchen in der Nachbarschaft. Meine türkische Kioskbesitzerin und ihre Familie öffnen ihren Laden morgens um 5 Uhr und halten ihn oft abends um 9 noch geöffnet. Da sich in Neukölln niemand von Zeitungen beschimpfen lassen will, wird wenig gelesen. Also hat man ganz auf Billigbier und neuerdings Glühwein umgestellt. Komme ich rein, ist der Laden zugeräuchert, gut gelaunte Männer um die 60 lärmen. Für die Besitzerin ist das harte Arbeit, dennoch schenkt sie jedem Kunden ein Lächeln. Einsatz: maximal, Erfolg: dürftig. Der soziale Wert ist allerdings enorm. Die, denen sogar Kneipen zu teuer sind, versammeln sich in der geheizten Stube, spotten der Hetzblätter, die ungelesen im Regal hängen, und wollen doch, wohl zum Glück, keine politische Notgemeinschaft bilden. Dieser Kiosk ist eine Oase. Die Besitzerin gehört zu den Leistungsträgern, die Sarrazin nur deshalb gedemütigt hat, weil er ihnen nicht das Wasser reichen kann.
Stefan Ripplinger

Der Kapuzenmann

Wenn mich Bekannte aus anderen Städten hier im Berliner Wedding besuchen, wirken sie oft etwas irritiert, wenn sie nach ihren Streifzügen wieder zurück in die Wohnung kommen.
Dann ist ihnen der seltsame Kapuzenmann begegnet, ein bezirksbekannter Wahnsinniger schwer zu ermittelnden Alters zwischen 50 und 70, dessen Kopf gut unter einer weiten Kapuze verborgen ist und der mit fast unmenschlich scheinender Kraft den ganzen Tag durch die Straßen läuft und dabei in beeindruckender Lautstärke vor sich hin schimpft. Man kann es nicht verstehen, es ist, nach allem, was man so hört, ein seltsames Gemisch aus Deutsch, Türkisch und seiner ganz eigenen Paranoia-Sprache, aber es ist laut und klingt bedrohlich und zornig. So zornig, dass jeder neue Hassprediger in den Gebetsräumen ringsum vor Schreck erbleicht, wenn er ihn zum ersten Mal hört, so laut, dass selbst die Volltrunkenen auf ihren Bänken am Leopoldplatz kurz aus ihrem Dämmerschlaf aufschrecken und hochgucken, so bedrohlich, dass kein Taxifahrer es wagt, aus dem Fenster zu pöbeln, wenn der Kapuzenmann, ohne den Verkehr eines Blickes zu würdigen, zeternd quer über die Straße schreitet. Obwohl man bald weiß, dass er niemals stehen bleibt, dass er nie jemanden direkt anspricht, wechselt man stumm die Straßenseite oder drückt sich ganz an den Rand des Bürgersteigs. Jeder kennt ihn, aber niemand weiß etwas über ihn. Die Leute nehmen sein regelmäßiges Auftreten hin, so wie man es hinnimmt, dass es regnet oder ein Flugzeug im Landeanflug auf Tegel über die Müllerstraße donnert. Man ist froh, wenn es vorbei ist, aber man regt sich nicht groß auf. Und so zieht der Kapuzenmann schreiend und rasend und tobend weiter seiner unergründlichen Wege.
Sein Auftauchen hat stets eine rätselhafte Wirkung: Er macht die Menschen friedlich. Niemand, selbst der notorischste Islamisierungsphobiker, selbst der migrationshintergründigste Testosterontanker nicht, ja, nicht einmal ein eingeborener Berliner wagt es, nach einer Begegnung mit dem Kapuzenmann seine eigenen chronischen Schimpftiraden fortzusetzen. Man wagt es nicht mal, weiter so grimmig zu gucken, wie es hier Brauch und Anforderung ist. Manche lächeln sogar plötzlich, womöglich zum ersten Mal seit Wochen. Zu unbedeutend, geradezu absurd erscheint die eigene Übellaunigkeit, nachdem man einen kurzen Blick unter die Kapuze erhascht hat, zu groß die Erleichterung, dass der mysteriöse Mann folgenlos an einem vorbeigezogen ist, zu offensichtlich, dass man selbst einen Moment nicht der coole Großstädter war, sondern ein furchtsames, gar im Rahmen des Möglichen sensibles Wesen. Danach schimpft man nicht selbst einfach weiter, zumal in der Ausdruckskraft zwei Ligen darunter, danach wird man zurückhaltend, still oder gar freundlich, und sei es auch nur für kurze Zeit. So schlägt der Kapuzenmann eine seltene Bresche des Friedens durch den Wedding. Ihn wird das nicht stören. Jedenfalls nicht mehr als alles andere. Vielleicht stört ihn in Wirklichkeit aber auch überhaupt nichts. Vielleicht ist das sogar seine Mission. Wer weiß das schon.
Heiko Werning

Activity International

Menschen, die lieber heute als morgen »Beschäftigungshürden abbauen« und »mutige Reformen« durchführen wollen, sich von Zombies allein anhand ihres gebügelten Oberhemdes unterscheiden und dem Irrglauben anheimgefallen sind, Glück bestünde darin, laut in ein Mobil­telefon oder eine Fernsehkamera zu sprechen, nennt man in diesem Land gerne »Leistungs­träger«.
Einigkeit dürfte unter einigermaßen aufgeklärten Zeitgenossen darüber zu erzielen sein, wie der Begriff »Leistungsträger« in die Welt kam: Die aus den üblichen Schwammköpfen und Sparflammedenkern bestehende Blase, die in Werbeagenturen, Redaktionen oder Public-Relations-Abteilungen (so genau kann man diese drei heutzutage auch beim besten Willen nicht mehr unterscheiden) und anderen Institutionen der Verdummungsindustrie sitzt, hat dringend ein neues Wort gebraucht, um den Eindruck zu erwecken, auch bei Funktionsträgern der FDP handle es sich um ehrenwerte Menschen, die Respekt verdienen.
Doch wie bei allen Begriffen, die sich die oben genannte Bande ausgedacht hat, muss man auch das Wort »Leistungsträger« gewissermaßen aus dem Dummdeutschen in eine allgemeinverständliche Sprache zurückübersetzen: Was heute »Wertstoffsammelbehälter« heißt, wurde früher Mülltonne genannt, und wer heute einen »Bestattungsdienstleister« braucht, bediente sich früher der Dienste eines Totengräbers. Auch die Berliner Boulevard- und Deppenillustrierte Zitty, ein als Zeitschrift getarnter Reklameanzeigenkatalog, nennt sich »Hauptstadtmagazin«. Als würde man einer Tüte Küchenabfälle ein goldenes Schleifchen umbinden, um sie auf dem Wochenmarkt als »Organic Wundertüte« zu verkaufen. So ist das überall in diesem Land.
Wer etwa glaubt, »Leistungsträger« wie Dieter Hundt oder Hartmut Mehdorn (Umfragen unter einigen Bekannten zufolge die Personen, die sich am ehesten dazu eignen, um an ihrem Beispiel auf höchst anregende Weise über Pazifismus und das Gewaltmonopol des Staates zu diskutieren) vollbrächten außerordentliche Wohltaten an der Menschheit und hätten deshalb besondere Anerkennung verdient, dem kann man auch sonst einiges vormachen, der hält auch einen Vollzeitphrasenautomaten wie die Talkshowgast-Attrappe Sloterdijk für einen Philosophen und glaubt vielleicht sogar, die Erde sei eine Scheibe oder der Focus ein Nachrichtenmagazin. Es ist mit den »Leistungsträgern« und »Leistungsempfängern« so wie mit den Rentnern: Die Rentner, die Geld haben, nennt man »Generation 50 plus«, und die, die keines haben, nennt man »Rentnerschwemme«.
Leute, deren Leistung darin besteht, sich 16 Stunden am Tag am Tun anderer zu bereichern und dabei den Eindruck zu erwecken, es handle sich beim Kapitalismus um eine weltweit tätige Menschenrechtsorganisation, nennt man »Leistungsträger«. Leute, deren Leistung darin besteht, 16 Stunden am Tag vor U-Bahn-Stationen gebrauchte Fahrscheine zu erbetteln, um sie an andere »finanzschwache« (früher: arme) Menschen weiterzuverkaufen, nennt man Schmarotzer und Gesindel.
Thomas Blum

Gefühlte Leistungsträger

Es gibt sie, diese Tage, an denen man sich selbst mit Fug und Recht zu den Leistungsträgern des Landes zählen kann. Weil man nämlich nicht im Bett geblieben ist, obwohl es draußen kalt und grau ist, obwohl der Anrufbeantworter äußerst alarmierend rot blinkt und dazu noch in einem enervierend aggressiven Takt, was nur den Schluss zulässt: Da hat jemand eine Botschaft hinterlassen, die nicht von Liebe, Geld oder »heute Abend um acht in der Bar 11« handelt, sondern von fiesen Sachen wie verpassten Deadlines oder bevorstehenden doofen Terminen.
Hat man sich dann aus dem kuschelig-warmen Bett gequält und noch vor dem ersten Kaffee und der ersten Zigarette dieses zweifelsfrei besonders miesen Tages den Anrufbeantworter abgehört, dann ist es plötzlich da, dieses Leistungsträgergefühl. Natürlich nicht im Sinne der triumphalen Erkenntnis, dass man zu denjenigen gehört, die die Geschicke der Republik bestimmen oder wenigstens in irgendeine Richtung lenken, sondern mehr so im Sinne von Mitleid. Denn in diesen wenigen Momenten, bevor man sich daran macht, das zu tun, was eben getan werden muss – oder was gestern hätte getan werden müssen –, da weiß man plötzlich, wie sich so ein Leistungsträger jeden Morgen fühlen muss, außer unausgeschlafen. Zu dem Horror, bloß nichts Wichtiges zu vergessen, mag zwar noch das Gefühl kommen, dass man extrem Relevantes tut und entsprechend auch selber ganz enorm wichtig ist, aber, machen wir uns nichts vor, so sehr hilft das vermutlich auch nicht, wenn man noch vor Sonnenaufgang in dieses kalte, graue Draußen muss.
Natürlich gibt es das Leistungsträgergefühl auch mit Ausschlafgarantie. Oder jedenfalls mit der Möglichkeit, meistens im Bett zu bleiben, wenn man das möchte. Man bringt zwar das Land weder wirtschaftlich noch sonst irgendwie voran, aber dafür geht man anderen Leuten nicht auf die Nerven. Man trägt nicht zur morgendlichen Staubildung bei, verstopft auch abends weder Straßen noch öffentliche Verkehrsmittel, muss nicht ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil es beim Business Lunch irgendwas mit Salmonellen gegeben hat, beschert dem fürs Konto zuständigen Banker ein aufregendes Berufsleben (wird am Ende des nächstens Monats mal ein Plus übrigbleiben?), sorgt für gute Einschaltquoten bei den Frühnachmittagssendungen im Fernsehen und kümmert sich im Großen und Ganzen um seinen eigenen Kram.
Der musikalische Arm der gefühlten Leistungsträger heißt »Das Oberkreuzberger Nasenflöten-Orchester« und besteht aus rund zehn prekären Existenzen, die hin und wieder vorzeitig aufstehen, zum Beispiel dann, wenn es gilt, sich auf Konzerte vorzubereiten oder mit der Bahn zu Auftritten außerhalb Berlins zu fahren.
Seit die berühmt-berüchtigte Neuköllner Kneipe »Zum blauen Affen«, lange Zeit Homebase der Band, dichtgemacht hat – das Lokal wird ganz sicher demnächst eine todschicke Galerie –, sind die Flöten kurzfristig heimatlos. Derzeit sucht man einen neuen blauen Affen und ist zunächst im tieferen Neukölln fündig geworden. Der Auftritt im »Heinzelmann« wurde zum Erfolg, obwohl ein Nachbar, zweifellos ein echter Leistungsträger, sich bereits gegen 21 Uhr über die unerträgliche Ruhestörung beschwerte. Gegen die logistisch ausgeklügelte Zusammenarbeit von Band und Kneipengästen hatte der Querulant allerdings keine Chance: Immer, wenn die Polizei anrollte, gaben die Späher an den Fensterplätzen Zeichen, woraufhin die Nasenflöten den Gig abbrachen und in fröhliches Herumstehen verfielen. Kaum waren die Ordnungshüter wieder weg, wurde weiter die Ruhe gestört. Und während eine zweifellos sehr unausgeschlafene Neuköllner Stütze der Gesellschaft am nächsten Morgen ihr Tagewerk begann, lagen die, die am Abend zuvor viel Spaß hatten, noch äußerst vergnügt in ihren Betten.
Elke Wittich

Vita activa

Jahrelanges Scheißefinden geht an keinem Menschen spurlos vorbei. Wer etwa zu lange das linke Scheißefinden kultiviert hat, bekommt dies nach dem 30. Lebensjahr zu spüren: Die Mundwinkel lassen sich dauerhaft knapp über dem Kinn nieder, es schwinden der Glaube an den Sinn des eigenen Tuns, die Hoffnung, dass es besser werden könnte, aber auch die Fähigkeit zur aufrichtigen Empörung.
Einen Politaktivisten aber gibt es, 41 wird er bald, der sich wie am ersten Tag aus vollem Herzen empören kann. Über Schwarz-Gelb. Über die Abwicklung seines Lieblingssenders Radio Multikulti. Über Studiengebühren. Was eben so kommt. Nimmermüde sammelt er Unterschriften gegen irgendeine Schweinerei oder Geld für eine gute Sache (die schon mal eine eigene sein kann). Keine halbwegs wichtige linke Demo in Berlin, die in den vergangenen 25 Jahren ohne ihn stattgefunden hätte (und kein szeneöffentlich ausgetragener Knatsch, in dem er nicht zu vermitteln versucht hätte).
Christian Specht heißt der Mann, und ich bewundere ihn dafür, dass er permanent alles Erdenkliche scheiße findet und dabei nicht nur Zuversicht, sondern auch eine buddhagleiche innere Zufriedenheit ausstrahlt. Christian ist Analphabet, rigider Moralist und schelmisches Schlitzohr, empfindsam und humorvoll, überaktiv und stinkfaul, ein prinzipientreuer Individualist mit großem Sinn fürs Kollektive. Ein Leistungsträger? Mehr als das. Ein Beispiel dafür, was sich Hannah Arendt unter einer Vita activa vorgestellt haben muss, einem »tätigen Leben«, das der wahrhaft menschlichen Eigenschaft folgt, die nicht darin besteht, zu arbeiten oder etwas herzustellen, sondern im politischen Handeln, der Interaktion freier und gleicher Individuen im öffentlichen Raum.
Für seine Vita aktiva ist Christian in Berlin stadtbekannt. Mitte der achtziger Jahre tauchte er zuerst in U-Bahnen und dann auf Veranstaltungen der linken Szene mit holzgeschnitzter Kamera und Mikrofon auf. Sein »Holzjournalismus«, wie es sein Biograf Helmut Höge nennt, war genial: avantgardistische Medienkritik und subversive Mediennutzung zugleich. Später wurde Christian Volksmusik-DJ und wechselte dann in die Landespolitik, wo er nacheinander für die PDS und die Wasg kandierte. Engste Kontakte hatte er auch zum Landesverband der Grünen, ehe er sich mit der Partei wegen des Kosovo-Krieges überwarf. Zeitweise natürlich. Denn kaum ein Gut schätzt er so hoch wie die Bündnisfähigkeit der Linken, weshalb er folgerichtig den Grünen, der SPD und der Linkspartei angehört. Außerdem hat er eine Eigenkreation namens »Schildkrötenpartei« und ist Alleinerbe der früheren DDR-Bürgerrechtsgruppe Neues Forum. Mögen ihn manche als Maskottchen belächeln, gibt es (außer in der FDP, wo man blöd genug war, ihn rauszuwerfen) überall Leute, die den stets gut informierten Christian als Themen- und Stimmungsscout konsultieren. Das gilt auch für die Taz, in deren Konferenzraum Christians persönlicher Schreibtisch steht. Dass Telefon und Computer nicht angeschlossen sind, stört ihn nicht, er lässt sich seine Flugblätter und Unterschriftenlisten ohnehin von ausgewählten Kollegen schreiben, ehe er sie selbst mit Kleber, Schere und Tipp-Ex layoutet.
Ich wünschte, ich könnte die Welt einmal mit seinen Augen sehen.
Deniz Yücel