Über die deutsche Stabilitätspolitik

Immer schön stabil bleiben

Angesichts der drastischen Neuverschuldung stellt sich die Frage, wie es um die deutsche Stabilitätspolitik bestellt ist.

Dass im Geld die Abstraktion kapitalistischer Vergesellschaftung zu sich selbst kommt, ist nur zu offensichtlich angesichts der Zahlenkolonnen, die Regierungsvertreter gegenwärtig wie delirierend hin- und herschieben.
Mit den unter dem Etikett »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« vermarkteten Steuersenkungen verzichtet der Fiskus freiwillig auf rund 8,5 Milliarden Euro. Gleichzeitig offenbarte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) anlässlich der Vorstellung seines Haushaltsentwurfs für 2010, dass der Staat im kommenden Jahr weitere 100 Milliarden Euro an Schulden aufnehmen werde. Hinzu kommen 100 Milliarden aus den beiden »Konjunkturpaketen«; zu berücksichtigen ist ferner, dass für 2011 bereits über eine Reform der Einkommenssteuer nachgedacht wird, durch die der Staat auf weitere 20 Milliarden Euro an Einnahmen verzichten würde.

Hier stellt sich nicht nur demjenigen, der sich mit dem nicht allzu verlässlichen Instrumentarium des gesunden Menschenverstandes bescheiden muss, die Frage, wie dies denn alles gehen soll. Umso mehr, da dem Staat mit dem EU-Stabilitätspakt die Verpflichtung auferlegt wurde, die Neuverschuldung pro Jahr nicht drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BPI) übersteigen zu lassen.
Nun wird zwar angenommen, dass es Deutschland für 2009 gelungen sein dürfte, diese Vorgabe einzuhalten, aber schon 2010 wird die Neuverschuldung, ausgehend vom jetzigen Entwurf für den Bundeshaushalt, sechs Prozent des BPI entsprechen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht nach Angaben der Financial Times Deutschland davon aus, dass selbst bei einem günstigen Verlauf die Neuverschuldung auch 2011 um die sechs Prozent des BPI betragen dürfte. Aus diesem Grund ist im Oktober vorigen Jahres ein Defizitverfahren gegen Deutschland eröffnet worden, welches beinhaltet, dass bis 2013 das jährliche Defizit wieder auf höchstens drei Prozent des BPI zu senken ist. Schäuble bekannte sich bei der Vorstellung des Entwurfs für den Bundeshaushalt pflichtschuldig zu diesen Auflagen, ließ aber offen, wie er diese zu erfüllen gedenke, und lediglich vernehmen, dass »herkömmliche haushälterische Methoden« dazu nicht ausreichen werden.
Nun ist das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis und dementsprechend seine Reproduktion nicht planbar. Nichtsdestotrotz ist die Frage angebracht, ob der Staat, verstanden als Resultat und Voraussetzung dieses gesellschaftlichen Verhältnisses, nicht zumindest über den Hauch einer Strategie verfügen sollte, um dem Akkumulationsprozess wieder neuen Schwung zu verleihen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, welche Hoffnungen ursprünglich mit der Einführung der Europäischen Währungsunion verbunden waren.

Spätestens Mitte der siebziger Jahre erlebte das sozialkorporatistische Akkumulationsmodell, wie es für die westlichen Industrienationen und Japan nach 1945 typisch war, eine existenzielle Krise. Die Kosten, die für die Reproduktion der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft in Form direkter und indirekter Löhne sowie für Produktionsmittel vorgeschossen werden mussten, standen in keinem Verhältnis mehr zu dem realisierten Mehrwert. Auf diese Krise, die nicht zuletzt auf einen globalen Zyklus proletarischer Renitenz zurückzuführen ist, reagierten Staat und Kapital mit einer enormen Aufblähung des Geldangebots vermittelt über Kredit, der die Akkumulation aufrechterhalten sollte. Geld in Form des Kredits, das als Kapital fungieren soll, stellt aber nichts anderes dar als einen Anspruch bzw. eine Wette auf einen zukünftigen, noch zu realisierenden Mehrwert. Im Ergebnis war daher die Reaktion auf die Krise vor allem eine Anhäufung nicht einlösbarer Mehrwertansprüche, die sich bis heute fortsetzt. Diverse operaistische Kritiker bezeichneten diese Entwicklung auch als Flucht vor dem Wertgesetz. Eine Flucht, der freilich kein Erfolg beschieden ist.
Die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Währungsraumes 2001 zielte zuvorderst darauf ab, die Kapitalakkumulation wieder an eine effektive Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu binden. Als geeignetes Mittel dazu erschien die Selbstentmachtung der jeweiligen Staaten in Sachen Geldpolitik. In seinem Aufsatz »European Monetary Union: Ideology and Class« stellt der Marxist Werner Bonefeld dar, wie durch die Verlagerung der Währungspolitik auf die supranationale Ebene der Europäischen Zentralbank (EZB) den einzelnen Staaten die Möglichkeit genommen werden sollte, die Unzulänglichkeiten des Kapitals in puncto Abpressung eines ausreichenden Surplus mit einer lockeren Geldpolitik zu kompensieren. Staaten, in denen die Arbeitsproduktivität gering war, sollten gezwungen werden, sich dem Niveau derer mit einer höheren Produktivität, wie z.B. Deutschland, anzupassen. Bei gleichzeitiger Reduktion der öffentlichen Ausgaben sollte Geld wieder zu einem wirksamen Kommandoinstrument über die menschliche Arbeitskraft werden. Außerdem bot die Einschränkung der nationalen Autonomie den Staaten die Möglichkeit, sich der Verantwortung für ihre Austeritätsprogramme zu entziehen. Diese lassen sich als ein rein technisches Problem darstellen, für das irgendwelche Technokraten in Brüssel verantwortlich zeichnen. So weit die Theorie.

Realiter stellt sich die Sache etwas anders dar. Der Leitzins der EZB, zu dem diese Geld an die Geschäftsbanken verleiht, ist auf das absolute Tief von einem Prozent gefallen. Seit Juni hat die EZB an europäische Banken über 600 Milliarden Euro ausgegeben bei einer, bis dato nicht üblichen, langen Refinanzierungsfrist von einem Jahr. Diese Entwicklung birgt die Gefahr einer Inflation in sich, zumal der EZB-Vorsitzende Jean-Claude Trichet bereits verkündet hat, dass man die Niedrigzinspolitik nur sehr behutsam zurückfahren werde. Berücksichtigt man außerdem den Anstieg der Schulden der Nationalstaaten, so lässt sich konstatieren, dass das Problem der Aufrechterhaltung des Akkumulationskreislaufes auf Pump keineswegs gelöst ist. Bestenfalls im Hinblick auf die Kürzung der öffentlichen Ausgaben scheinen die EU-Staaten dem geforderten Ideal zu entsprechen, aber auch diese Bemüh­ungen werden durch die infolge der Krise steigende Arbeitslosigkeit unterminiert.
Dies aber lässt erahnen, worauf die Politik des Staates hinauslaufen könnte. Einerseits muss die Versorgung des Kapitals mit Geld, sei es als Kapital oder als bloßes Zahlungsmittel, qua Kredit aufrechterhalten werden. Andererseits muss der Anteil der Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft, der vom Staat getragen wird, drastisch reduziert werden, und zwar in wesentlich radikalerer Weise, als dies bisher der Fall war. Der Wirtschaftswoche zufolge haben »die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute« vorgeschlagen, bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen drei Milliarden Euro einzusparen – gedacht ist beispielsweise an die Streichung der Wiedereingliederungshilfe für Personen unter 25 Jahren. Zudem solle die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate vereinheitlicht und die Frühverrentung beendet werden, heißt es.
Hier stellt sich allerdings die Frage, welches Instrumentarium auf EU-Ebene zur Verfügung steht, um die Durchsetzung solcher Maßnahmen zu garantieren. Äußerungen der deutschen Kanzlerin, denen zufolge Staaten wie Griechenland unter Kuratel der EU-Kommission zu stellen seien, weil sie sich als unfähig erwiesen hätten, den Vorgaben des Stabilitätspaktes Folge zu leisten, lassen eine Antwort erahnen.