Der Krieg der Drogenkartelle im kolumbianischen Medellín

Die Kartelle sind zurück

Die ehemalige Drogenhochburg Medellín galt in den vergangenen Jahren als Vorzeigestadt in Kolumbien. Die ärmeren Stadtviertel wurden »aufgewertet«, die Paramilitärs wurden demobilisiert und in das zivile Leben reintegriert. Doch nun kehrt der Krieg zwischen Banden und Drogenkartellen in die Stadt zurück.

Schon von weitem schimmern die drei mäch­tigen schwarzen Würfel im Licht der Sonne. Die Gondel der Seilbahn schwebt langsam näher an die ungewöhnlichen Konstruktionen heran, dann ist die Plattform von Santo Domingo Sabio erreicht. Die Station der Seilbahn liegt hoch über dem Stadtzentrum von Medellín. Gleich daneben befindet sich der Park der spanischen Bibliothek, zu dem die drei riesigen Quader gehören. Victor Tobón steigt aus der silbernen Gondel, die ihn und neun weitere Passagiere aus dem Stadtkern Medellíns in die luftige Höhe der Comuna Uno getragen hat. »Metrocable« heißt die Seilbahn, die das Armenviertel mit dem Stadtzentrum der Zweieinhalb-Millionen-Metropole verbindet. Neben der Linie K, die nach Santo Domingo Sabio führt, gibt es auch die Linie J, deren Endstation La Aurora heißt. Das sind zwei von sechs geplanten Seilbahnlinien, welche die neuesten der rund 250 Stadtviertel Medellíns an das Verkehrssystem der Stadt anschließen sollen. Ein engagiertes Projekt, das weltweit Schlagzeilen gemacht hat, »denn Seilbahnen wurden bisher fast nirgendwo als Alternative im städtischen Nahverkehr eingesetzt«, sagt Victor. Auch in Santo Domingo Sabio wird schon wieder gebaut – geplant sind neue Seilbahnlinien, die über den nächsten Berg ins benachbarte Tal führen sollen. Für Victor eine echte Erleichterung, denn er ist ­regelmäßig an den Rändern des weitläufigen Tals unterwegs, in dem Medellín liegt. »Hier siedeln sich die Neuankömmlinge an, Bauern, die von ihrem Land vertrieben wurden, allein erziehende Frauen, deren Männer von den Paramilitärs oder der Guerilla ermordet wurden«, sagt der 36jäh­rige Soziologe.

Rund vier Millionen Binnenflüchtlinge haben in Kolumbien Städte wie Bogotá, Cali oder Cartagena wachsen lassen. In Medellín ist das nicht anders. Es ist in aller Regel die Landbevölkerung, die flüchtet, weil sich die Guerilla, die Paramilitärs und die Armee vor ihrer Haustür bekämpfen oder gar den Zugang zu den Feldern verminen. Ihnen will die ACA, der Bauernverband von Antioquia, dabei helfen, zu ihren Herkunftsgebieten zurückzukehren. Victor Tobón arbeitet für die Organisation in den backsteinernen Slums rund um Medellín.
Viele Kleinbauern sind in der Stadt aufgeschmissen, denn Arbeit ist knapp und das Leben in den verschachtelten neuen Stadtvierteln, die hauptsächlich aus Ziegeln, Holz und Wellblech bestehen, ist alles andere als einfach. Diese neuen Viertel haben die Hügel und Berge, die das Tal umgeben, im Laufe der vergangenen Jahre in Besitz genommen. Seit Jahren versucht die Stadtverwaltung, diese unübersichtlichen, von Treppen und Trampelpfaden durchzogenen Stadtteile mit dem Zentrum zu verbinden.
»Erst sollten Straßen durch die Viertel gebaut werden, dagegen haben sich die Bewohner gewehrt, und schließlich ist man auf die Idee mit der Seilbahn gekommen«, erklärt Victor. Ein modernes Konzept, dass auch in Caracas und Buenos Aires Nachahmer gefunden hat und einiges zur Aufwertung von Vierteln, die lange vom Rest der Stadt abgetrennt waren, beigetragen hat.
Auch Bibliotheken gehören zum ehrgeizigen Projekt der Stadtverwaltung, Bildung in marginalisierte Stadtteile zu bringen. Wie eine trotzige Manifestation der Kultur wirken die drei schwarzen Würfel von Santo Domingo Sabio. Sie bilden einen von fünf »Bibliothekenparks«, die in Medellín auf Initiative des ehemaligen Bürgermeisters Sergio Fajardo entstanden sind. Fajardo, der 2003 als unabhängiger Kandidat zum Bürgermeister gewählt wurde, machte mit seinen Plänen international Schlagzeilen. »Unsere schönsten Gebäude müssen in unseren ärmsten Stadtteilen entstehen«, war seine Devise. In Santo Domingo Sabio hat das Konzept recht gut funktioniert. Die Bibliothek ist längst zum Wahrzeichen des Viertels geworden, und auf dem Platz, der vor ihr liegt, zeugen große Graffiti von der brutalen Vergangenheit der Comuna Uno. Die Sprechblase »Ich wurde frei geboren« über dem Bild einer gefesselten und geknebelten Frau zeugt genauso von dieser Gewalt wie das Bild der Bauernfamilie, die vom Land in die Stadt flüchtet, oder von dem Mann, der ein Bein verlor, weil er auf eine Mine trat. »Das gehört zu unserer Realität, trotz aller Fortschritte«, sagt Victor Tobón.

Und die Fortschritte sind beachtlich. Nach den Zeiten von Pablo Escobar, der nach jahrelangem Kampf zwischen dem Establishment und dem Kokakartell 1993 in Medellín erschossen wurde, sank die Zahl der Morde pro Jahr von 7 500 auf rund 750 im Jahr 2006. Ein Erfolg, der sicher mit Fajardos Politik der sozialen Aufwertung zusammenhängt, aber auch mit der medienwirksam inszenierten Demobilisierung der Paramilitärs. Unter Fajardo wurde mit einem Reintegrationsprogramm für die demobilisierten Kämpfer der Paramilitärs begonnen, das landesweit seinesgleichen sucht. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb Medellín als »Laboratorium des Friedens« bezeichnet wurde, denn die sinkende Zahl von Morden galt als Zeichen der Hoffnung.
Das sehen allerdings längst nicht alle so. »Viele Wachleute sind ehemalige Paras und haben so eine Kontrollfunktion – sei es in Stadtvierteln wie hier oder an der Universität«, erklärt Victor und verweist auf eine üble Folge der Demobilisierung: »So werden die Studenten und Organisationen in den Stadtvierteln mehr oder minder effektiv überwacht.« Darüber klagen nicht nur Organisa­tionen wie die ACA, sondern auch das Red Juvenil, ein Netzwerk von Jugendorganisationen in Medellín, das in einem besetzten Haus im Herzen der Stadt ein Kulturzentrum betreibt. »Wir wehren uns gegen die Logik des Kriegs, gegen die Militarisierung des zivilen Lebens und die Überwachung von allem und jedem«, sagt Adriana Patricia Castaño. Sie engagiert sich in einer Gruppe, die jungen Männern Rechtsberatung bei der Kriegsdienstverweigerung anbietet. Diese war lange Zeit gar nicht vorgesehen in Kolumbien, hier war Kriegsdienst obligatorisch. Erst vor wenigen Wochen hat das kolumbianische Verfassungsgericht das Recht auf Verweigerung anerkannt. Für das Jugendnetzwerk war das ein wichtiger Erfolg. Doch es geht um mehr. »In den vergangenen Jahren ist der öffentliche Raum in Medellín immer weiter kontrolliert und militarisiert worden, dagegen wehren wir uns«, sagt die junge Frau.
Die Verdrängung von Jugendlichen aus Parks und von öffentlichen Plätzen kritisiert sie genauso wie den Einsatz von Wachpersonal an der Universität und in Bibliotheken: »Das Gefühl der Überwachung ist überaus präsent, und wir sind uns sicher, dass die paramilitärischen Strukturen nach wie vor funktionieren.« Diese Einschätzung teilen auch Menschenrechtsorganisationen wie die Corporación Jurídica Libertad in Medellín. Die Organisation beschäftigt Menschenrechtsanwälte und Sozialarbeiter. Sie bietet rechtlichen Beistand an, begleitet jedoch auch Repräsentanten sozialer Organisationen bei offiziellen Terminen. Durch ihre riskante Arbeit wurden auch einzelne Mitglieder der Corporación selbst zu Verfolgten. Zu ihrem Schutz werden sie heute von Freiwilligen der Internationalen Friedensbrigaden begleitet, so wie Vladimiro Ramírez Valencia.

»Medellín ist seit 15 Jahren ein wichtiges Labor der staatlichen Sicherheitspolitik. Hier werden neue Konzepte ausprobiert und hier sind die Ausgaben für Sicherheit viermal so hoch wie die für Gesundheit«, erzählt der angehende Anwalt der Corporación. Er beschäftigt sich vor allem mit der Situation der Jugendlichen in Medellín. Die Verweigerung des Kriegsdienstes und die Rekrutierung von Minderjährigen durch kriminelle Banden sind genauso Gegenstand seiner Arbeit wie die Entführung und Ermordung von Jugendlichen durch die Armee, die sie dann als im Gefecht gefallene Guerilleros ausgibt. Mehr als 1 800 derartiger Fälle, so genannte falso positivos, sind bei der Staatsanwaltschaft angezeigt worden – ein international kaum beachteter Skandal.
Internationale Aufmerksamkeit findet hingegen der spektakuläre Wandel in Medellín. »Natürlich ist es heute in den barrios nicht so aufregend wie vor zehn Jahren, aber die Gewalt ist trotz aller Bemühungen um Sicherheit wieder auf dem Vormarsch. Rund 1 900 Morde haben wir in diesem Jahr registriert, ein Großteil der Toten war zwischen 14 und 19 Jahre alt«, sagt Vladimiro. Während das Zentrum Medellíns und die Comuna 14, wo die wohlhabendere Bevökerung lebt, als sicher gelten, nimmt die Gewalt in vielen anderen Comunas wieder zu.
Zwar hat auch Fajardos Nachfolger im Rathaus, Alonso Salazar, an den Grundlagen des Konzepts von »Frieden und Versöhnung« seines Vorgängers festgehalten, jedoch sei das Gleichgewicht in Kolumbiens Vorzeigestadt ins Wanken gekommen, meinen die Experten der Corporación Jurídica Libertad. Die Konflikte zwischen den Banden um Reviere und Geschäftsbereiche nehmen zu, weil die »oberste Instanz« fehle, die lange Jahre das letzte Wort hatte.
Damit ist Diego Fernando Murillo Bejarano, alias Don Berna, gemeint. Der oberste Paramilitär Medellíns hat in den neunziger Jahren die Kon­trolle in den Stadtvierteln der Drogenhochburg Medellín übernommen und die unzähligen Banden und kleinen Drogenkartelle unter Kontrolle gebracht. Dieses geschickt gesponnene Netzwerk zwischen Banden, Kartellen und den Paramilitärs, die das ganze Netzwerk kontrollierten, geriet selbst dann nicht aus dem Gleichgewicht, als Don Berna die Waffen niederlegte und als ranghoher Comandante der Paramilitärs im kolumbianischen Gefängnis landete. »Als aber im Mai 2008 Don Berna, de facto der eigentliche Bürgermeister Medellíns, wegen seiner Aktivitäten im Drogenhandel an die US-Justiz ausgeliefert wurde, kam das sorgsam austarierte Gleichgewicht ins Wanken«, erklärt Alejandro Sierra. Er ist Historiker und arbeitet für die Opferbewegung Nunca Más. Die Auslieferung von Don Berna hatte zur Folge, dass lokale Drogenbosse genauso wie Comandantes aus dem zweiten Glied der Paramilitärs anfingen, wieder auf eigene Rechnung tätig zu werden. Das hat dazu geführt, dass die Bandenkämpfe in Medellín wieder zugenommen haben und die Opfer immer jünger werden.

»Schon Elf-, Zwölfjährige werden rekrutiert. Es gibt Fälle, wo die Paramilitärs bei den Familien anklopfen und deren Töchter zur Prostitution zwingen wollen«, klagt Schwester Rosa Cadavid. Die Nonne lebt und arbeitet in der Comuna 13, der gefährlichsten Medellíns, und setzt sich seit Jahren für die Menschenrechte der Anwohner ein. Der Stadtteil wurde immer wieder zum Schauplatz von heftigen Konflikten. 2002 drangen mehr als 3 000 Militärs in das verwinkelte Gassengewirr des Viertels ein, in dem die Milizen der Guerilla Fuß gefasst hatten. »Seitdem haben die Paramilitärs das Sagen in der Comuna 13, und sie kontrollieren die Zugänge zum Viertel und alle Geschäfte – legale wie illegale«, meint die Nonne, die an ihren Rollstuhl gefesselt ist, was sie aber nicht daran hindert, für die Rechte von Neuankömmlingen, meist Flüchtlinge vom Land, zu kämpfen. Mehrere Kinder hat sie den Paramilitärs entrissen, indem sie viele Entführungsfälle publik machte und selbst unter enormem Druck nie locker ließ. Doch das wird immer schwieriger. »Erst vor einigen Wochen machten Paramilitärs Anstalten, ihr kirchliches Domizil zu stürmen, weil sie wieder die Rekrutierung von Halbwüchsigen verhindert hatte«, erzählt Vladimiro, der regelmäßig mit Schwester Rosa zusammenarbeitet. Zwar zogen die Paramilitärs wieder ab, aber der Vorfall macht deutlich, wie brisant die Lage in der Comuna 13 wieder ist. Knapp 300 Morde wurden dort bis Ende Oktober registriert, wobei allerdings sicherlich nicht alle gemeldet wurden. »Die Opfer haben in Kolumbien keine Lobby, die Täter werden hingegen in die Gesellschaft reintegriert«, sagt die Nonne mit bitterer Miene. Auch unter dem schützenden Dach der Kirche sind derart deutliche Worte in Kolumbien sehr gefährlich. Doch um das Risiko schert sich Schwester Rosa nicht. »Wenigstens die Kinder müssen doch eine Chance kriegen«, argumentiert sie. Ohne wirksamen Schutz drohen die Initiativen des Bürgermeisters wirkungslos zu bleiben, warnt sie. Auch in der Comuna 13 wurde ordentlich investiert. Eine Bibliothek hat das Stadtviertel genau­­­­­so erhalten wie neue Schulen, Grünanlagen und Bürgersteige. Doch die Aufwertung des Stadtteils allein reicht nicht aus.
Notwendig sind auch die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Auflösung der paramilitärischen Strukturen und die Schaffung neuer Perspektiven für die Jugend, die auch im dynamischen Medellín nicht ausreichend Arbeit findet, obgleich in der Stadt kräftig gebaut wird. Dort beginnen am 19. März die Südamerikanischen Spiele, eine Art Olympiade des Subkontinents, und dann will sich die Stadt in ihrem besten Licht zeigen. Als internationales Beispiel für »Frieden und Versöhnung« will sich die Stadt inszenieren, dafür werden Straßen frisch geteert, Bürgersteige neu gepflastert und Reklamebroschüren gedruckt. Ein Vorhaben, über das Victor Tobón nur bitter lachen kann. »Nur wenige Bauern sind in Kolumbien auf ihre Höfe zurückgekehrt, nur wenige Straftaten aufgeklärt, nur wenige Täter bestraft. Wie soll Versöhnung denn so funktionieren?«, fragt der Soziologe und steigt aus der Gondel, die ihn gerade zurück aus Santo Domingo Sabio gebracht hat. Gerade rechtzeitig vor dem Sonnenuntergang, den er auf keinen Fall hoch über dem Stadtzentrum erleben will. »Zu gefährlich«, sagt er lapidar dazu.