Der Aufstand von afrikanischen Migranten in Süditalien

Die Revolte der neuen Sklaven

Der Aufstand von afrikanischen Migranten in Kalabrien war eine Revolte gegen die Mafia.

Mitte vergangener Woche kehrte in der kalabresischen Kleinstadt Rosarno wieder der Frieden ein. Die Stadt ist nun ausländerfrei, nachdem rund 1 100 aus Afrika stammende Migranten, die bei der Obsternte arbeiteten, »freiwillig« flohen oder von der Polizei weggebracht wurden. Die Stadtbewohner klatschten Beifall, als die Busse abfuhren, die rund 800 Afrikaner zu den Aufnahme- und Abschiebezentren von Bari und Crotone abtransportierten.
Der »Notstand«, der mit dem Einsatz von Polizei und Carabinieri beendet wurde, hatte wenige Tage zuvor begonnen. Nachdem Unbekannte aus einem fahrenden Auto heraus mit einer Schrotflinte auf zwei Afrikaner geschossen hatten, verbreitete sich unter den Saisonarbeitern das Gerücht, die beiden seien tot. Anschließend explodierte die Wut von Hunderten Migranten, die ins Zentrum der Stadt zogen und eine Spur der Verwüstung hinter sich ließen. Sie zündeten Autos an, schlugen Schaufensterscheiben ein, und errichteten Barrikaden.

In Rosarno war man überrascht. Bisher habe es mit »den Schwarzen« keine Probleme gegeben, erzählten Einwohner vor den Kameras der Nachrichtensendungen. Am nächsten Tag versammelten sich die »aufgebrachten Bürger«, die »den Schwarzen« zeigen wollten, wer in Rosarno das Sagen hat. Während die Migranten sich inzwischen beruhigt hatten und friedlich vor dem Rathaus demonstrierten, rottete sich der Mob zusammen, der offenbar fest entschlossen war, den »Abzug aller Migranten aus der Stadt« selbst zu erzwingen. Gruppen von jungen Männern gingen mit Gewehren und Eisenstangen auf die Straße, andere fuhren mit Autos und Traktoren absichtlich die Migranten an, die ihnen über den Weg liefen, oder begaben sich auf der Suche nach »Schwarzen«, die sich möglicherweise in der Umgebung versteckten. Auch dabei fielen Schüsse. Die »Negerjagd« in Rosarno, wie sie von italienischen Medien bezeichnet wurde, erinnert an das antizigane Pogrom in Neapel im Jahr 2008 (Jungle World 22/08). Auch dort standen die »aufgebrachten Bürger« auf der einen Seite, die verhassten »Fremden« auf der andere, dazwischen die Polizei. Auch dort waren es schließlich die Opfer des Angriffs, die vor der Augen der jubelnden einheimischen Bevölkerung wegtransportiert wurden.

Der Tod der zwei Afrikaner, der die Ausschrei­tun­gen auslöste, war ein Gerücht – die beiden wurden »nur« schwer verletzt –, die Wut von Hunderten Menschen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten und leben müssen, ist dagegen sehr real. Es handelt sich dabei vorwiegend um junge Männer, die aus Sudan, Togo, Ghana oder Nigeria kommen. Viele von ihnen haben eine Aufenthaltsgenehmigung, die an das Vorhandensein eines unbefristeten Arbeitsvertrags gekoppelt ist. Ist die Arbeit weg, verliert die Person innerhalb weniger Wochen ihren legalen Status in der italienischen Republik. So muss jede Arbeit angenommen werden, egal unter welchen Bedingungen. Das gilt umso mehr für diejenigen, die einen regulären Job verlieren und automatisch zu »Illegalen« werden, wie viele der Wanderarbeiter, die in Süditalien in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Im Herbst ernten sie Weintrauben in Sizilien, im Frühling pflücken sie Oliven in Apulien und Tomaten in Kampanien. Im Winter finden sie Arbeit bei der Obsternte in Kalabrien. Für zwei Euro die Stunde finden sich keine Italiener mehr, die den Job machen wollen. Damit am Ende des Tages das Geld für die Verpflegung zusammenkommt, muss man mindestens zehn Stunden arbeiten. Für eine menschenwürdige Unterkunft reicht das nicht. Die Saisonarbeiter hausen in leer stehenden Fabrikgebäuden, in verlassenen Bauernhöfen oder sie zelten einfach am Rand der Felder und der Plantagen.
Dass in den südlichen Regionen Italiens ein System der modernen Sklaverei herrscht, ist nicht allein auf das italienische Migrationsregime, auf die institutionelle Diskriminierung oder auf den Rassismus in der Gesellschaft zurückzuführen. In Kalabrien haben wir es mit einer italienischen Besonderheit zu tun.
Bereits der Name der Gegend, in der Rosarno liegt, gilt in Italien als Synonym für Kriminalität, Rechtlosigkeit und Terror. Denn immer, wenn von der Ebene von Gioia Tauro die Rede ist, taucht die ’Ndrangheta auf. Die kalabresische Mafia-Organisation herrscht dort ungestört über Politik und Wirtschaft. Italienische Mafia-Experten verweisen gerne auf den »pervasiven Charakter« der ’Ndrangheta, die über verwandtschaftliche Beziehungen regiert und jede Art von Geschäften, legale wie illegale, sowie das soziale und politische Leben kontrolliert.

In diesem Kontext muss die Revolte der afrikanischen Sklaven von Rosarno verstanden werden. Auch der Arbeitsmarkt wird hier vollständig von der ’Ndrangheta kontrolliert. Die verschiedenen Familien, denen auch oft die Felder und Plantagen gehören, verlangen von den Migranten Schutzgeld dafür, dass sie überhaupt auf »ihrem Territorium« leben und (schwarz) arbeiten dürfen.
Die Tagelöhner werden von so genannten caporali (Vermittler) angeheuert. Jeden Morgen findet irgendwo in der kalabresischen Landschaft die Auswahl statt. Es ist wie auf dem Viehmarkt: Nur die Stärksten werden ausgewählt und mit LKW zu den Feldern gebracht. Von den 20 bis 25 Euro-Lohn pro Tag gehen mindestens fünf an den
caporale, zwei oder drei an die Fahrer.
Dass sich die kleinsten Rädchen dieser kriminellen Maschinerie in Rosarno bewegten, konnte die ’Ndrangheta nicht tolerieren. Viele Beobachter in Italien vermuten sogar, dass der von der Polizei koordinierte Abzug der Migranten aus der Stadt nichts anderes gewesen sei als die Ausführung eines Befehls der ’Ndrangheta.
Die Revolte von Rosarno war nicht nur ein Aufstand von Menschen, die auf ihre miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen hinweisen wollten. Sie ist auch und vor allem eine Revolte gegen ein kriminelles System zu verstehen. Der Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano (»Gomorrha«) attestierte den Afrikanern von Rosarno einen Mut, »den die Italiener im Kampf gegen die Mafia verloren haben. Für sie ist der Kampf gegen die kriminelle Organisation eine Frage von Leben und Tod.«

Der italienische Innenminister Roberto Maroni hatte hingegen eine andere Interpretation. Er erklärte, die Vorfälle seien auf die »grenzenlose Toleranz gegenüber illegaler Einwanderung« zurückzuführen, die mit härteren Mitteln bekämpft werden müsse.
Zur Erinnerung: Maroni ist Minister einer Regierung, die Roma-Siedlungen nach rassistischen Pogromen räumen lässt, eine Fingerabdruck-Kartei für alle sich in Italien befindenden Sinti und Roma anlegen will, in Seenot geratene Flüchtlingsboote von der Marine abfangen und zurück­schicken lässt und illegale Migration unter Strafe stellt. Im so genannten Sicherheitspaket, das von der italienischen Regierung im vergangenen Jahr verabschiedet wurde, wurden auch das ­Denunzieren von illegalen Migranten durch italienische Bürger sowie die Einführung von Bürgerwehren gegen »kriminelle Ausländer« gesetzlich verankert.
Welche Toleranz Maroni eigentlich meint, mag man sich fragen. »Grenzenlos« scheint die Toleranz des Staates eher gegenüber Sklavenarbeit und den menschenunwürdigen Lebensbedingungen von Migranten zu sein. Die Afrikaner, die aus Rosarno weggebracht wurden, können froh sein, dass sie alle noch am Leben sind. Zehn von ihnen, die bei den Ausschreitungen verletzt wurden, können sich sogar richtig freuen über ihre Vertreibung: Ihnen hat Maroni die Aufenthaltsgenehmigung versprochen.