Die Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenversicherung

Heute schon beim Arzt gewesen?

Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung steigen. Diese Zusatzbeiträge könnten eine Vorbereitung für die Einführung der Kopfpauschale sein.

Den Verlauf der politischen Debatten um den Zustand des Gesundheitssystems kann man ohne besondere hellseherische Begabung präzise vorhersagen. Geradezu mantraartig wird wiederholt, dass die Kosten hoch sind, nur um ein paar Monate später festzustellen, dass die Kosten noch höher geworden sind. Das Gesundheitssystem ist die größte anzunehmende träge Masse des deutschen Wirtschaftssystems. In diesem Sektor werden Ausgaben von 10,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes getätigt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrugen im Jahr 2006 allein die Krankheitskosten 234 Milliarden Euro. Dabei handelt es sich nur um die Ausgaben für die Behandlung der Patienten, ohne die Investitionen in das Gesundheitswesen.
Jahr für Jahr fehlt eine gigantische Summe in der Kasse der Kassen. Ein Defizit von insgesamt rund vier Milliarden Euro kommt in diesem Jahr auf die gesetzlichen Krankenversicherungen zu – obwohl die Regierung den Steuerzuschuss sogar krisenbedingt um 3,9 Milliarden Euro aufgestockt hat.
Woher also das fehlende Geld nehmen? Die naheliegende Lösung lautet: Von den Versicherten. Macht erst einmal pro Kopf acht Euro mehr – zumindest für die Beitragszahler von DAK, KKH-Allianz und mehreren anderen Kassen. Betroffen sind davon bereits Millionen Versicherte. Und es wird weitere treffen. Spätestens im kommenden Jahr werden Zusatzbeiträge für fast alle gesetzlich Versicherten fällig, kündigte Doris Pfeiffer an, die Vorsitzende des Spitzenverbandes der Gesetz­lichen Krankenkassen.

Dass es am Ende die Patienten sind, die mehr zahlen, hat bereits Tradition. Aber bisher waren auch die Arbeitgeber stets zur Hälfte an den Kosten beteiligt. Diese Zeiten sind seit der noch von der rot-schwarzen Koalition beschlossenen Neuregelung vorbei, denn der Arbeitgeberbeitrag wurde eingefroren. So bedeuten die acht Euro mehr als nur einen neuen zusätzlichen Beitrag: Sie markieren den Systemwechsel. Ab jetzt zahlen die Versicherten die steigenden Kosten allein. Den Christsozialen, die diesen ab Februar geplanten Zusatzbeitrag nun als Fall für das Kartellamt und als Untergang des deutschen Gesundheitssystems kritisieren, muss man wohl politische Amnesie attestieren. Schließlich waren sie mit in der Regierung, als der Krankenkasseneinheitsbeitrag von derzeit 14,9 Prozent nebst Gesundheitsfonds und pauschaler Zusatzbeiträge beschlossen wurde.
Die Lösungsansätze für die finanziellenProbleme des Gesundheitswesens, die nun von Vertretern der Ärzteschaft und den Politikern von CDU und FDP präsentiert werden, sind allein schon sprachlich unerträglich. Da ist die Rede von der »Priorisierung« ärztlicher Leistungen (Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe) – was nichts anderes bedeutet, als dass nicht mehr jeder Bedürftige jede notwendige OP oder Heilbehandlung erhalten soll. Aus den Daten des Mikrozensus geht schon jetzt hervor, dass Männer, die dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung angehören, ohnehin zehn Jahre früher sterben als Männer, aus dem reichsten Fünftel.
Die FDP träumt weiterhin von der Umstellung der Finanzierung auf Kopfpauschalen. Diese bedeuten nichts anderes, als dass die bisherige sozial gestaffelte Finanzierung auf fixe Kosten für jeden umgestellt wird. Dass die schwarz-gelbe Regierung für die Bezieher von Hartz IV und Geringverdiener die Pauschale aus Steuermitteln kofinanzieren möchte, macht das Ganze nicht besser, sondern allenfalls teurer. In der Schweiz hat die Einführung der Kopfpauschale übrigens zu einem immensen Anstieg der Beiträge und der Staatsfinanzierung geführt. Von mindestens 25 Milliarden Euro im Jahr geht der Gesundheitsökonom und Kostgänger der Privaten Krankenversicherung, Bert Rürup, aus. Und das soll nun die Rettung sein? Dieses Experiment des neuen Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler (FDP) würde letztlich von der Masse der Mäßig- bis Normalverdienenden finanziert. Millionäre dürfen sich schon einmal auf ihre künftig verhältnismäßig geringen Krankenkassenbeiträge freuen, sofern sie nicht ohnehin privat versichert sind. Und Arbeitgeber sowieso – es wird ja auch niemand durch jahrelangen Verschleiß, durch das Einatmen von Industriegiften oder Stress bei der Arbeit krank.

Eine Bürgerversicherung, wie sie Opposition, Sozialverbände und Gewerkschaften fordern, ist wohl aus ideologischen Gründen nicht salonfähig. In diesem Konzept ist vorgesehen, dass jeder ­einen bestimmten Prozentsatz seines Einkommens zahlt – egal ob dieser aus Arbeit, Aktienbesitz oder Vermietungen resultiert. Hier wären die Arbeitgeber weiterhin in der Pflicht zur Kofinanzierung und Beamte würden ebenfalls in das System einbezogen. Das Ganze käme einer gerechten Finanzierung tatsächlich schon näher und die Privatversicherungen wären schlicht überflüssig.
Keine Frage, das Gesundheitssystem braucht steigende Einnahmen, denn es wird täglich teurer. Und das ist gut so. Schließlich profitieren wir alle von scharfen Gewebeaufnahmen aus dem MRT, von Schlüsselloch-Operationstechniken oder neuen Therapien gegen Krebs, Parkinson oder multiresistente Keime. Aber muss es gleich so viel von allem sein? Das Gesundheitssystem hat neben dem Einnahmenproblem nämlich auch ein massives Ausgabenproblem.
Diabetiker werden in Deutschland nicht nach international anerkannten Standards therapiert. Und wer als schwer Herzkranker von einem gewöhnlichen Krankenhaus in die Uniklinik überwiesen wird, erlebt häufig ein Déjà-vu. Röntgenaufnahmen werden erneut gemacht, vielleicht sogar die unangenehme Herzkatheter-Untersuchung – es könnte ja sein, dass die minderbemittelten Kollegen etwas übersehen haben. Schließlich müssen die verdammt teuren Geräte und Teams ausgelastet sein. Die Kasse zahlt ja. Und zwar mehrere Milliarden Euro im Jahr zuviel, wie die rot-grüne Bundesregierung schon im Jahr 2003 erklärte. Damals sorgte dieser Systemfehler für 20 Prozent aller Gesundheitsausgaben.
Aber auch die Patienten leisten ihren Beitrag zum permanenten Anstieg der Kosten. Die Deutschen gehen am häufigsten zum Arzt. Das geht aus dem Barmer-GEK-Arztreport hervor: Im Schnitt suchte jeder gesetzlich Versicherte zuletzt 18,1 Mal im Jahr einen niedergelassenen Arzt auf. Im vergangenen Jahr waren es noch 17,7 Arztbesuche. Mag sein, dass dies eine lieb gewonnene Tradition ist und auch etwas damit zu tun hat, dass selbst ein chronisch Kranker für das immer gleiche Rezept alle paar Wochen zum Arzt rennen muss. Dennoch, in anderen EU-Ländern ist weniger als die Hälfte an Arztbesuchen üblich – und die Menschen dort sterben auch nicht früher.
Die Ärzte haben in den vergangenen Jahren kräftig kassiert – das war auch politisch gewollt, weil gerade Allgemeinmediziner im Vergleich zu ihren Fachkollegen schlechter verdient haben. Weil sich aber kein Politiker, weder der SPD noch der Union, mit der mächtigen Ärztelobby anlegen wollte, haben einfach alle mehr Honorare bekommen. In den vergangenen zwei Jahren beliefen sich die Ausgaben dafür auf 4,8 Milliarden Euro. Ein niedergelassener Arzt hat im Schnitt ein Bruttojahreseinkommen von 162 000 Euro, das ergeben hochgerechnet die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die komplette Überversorgung mit Facharztpraxen in den Städten, wo viele Patienten wohnen, ist nicht verwunderlich – ebenso wie die ärztliche Unterversorgung in dünn besiedelten Landstrichen wie der Uckermark.
Dem überlasteten Pflegepersonal in den Krankenhäusern wurden von der vorherigen Regierung 17 000 Stellen zugesprochen. Das war notwendig, mit Startkosten von 3,5 Milliarden Euro aber durchaus teuer.
Der letzte und größte Aktivposten auf der Ausgabenseite sind jedoch die Pharmakonzerne. Dem Arzneiverordnungs-Report 2009 des Wissenschaft­lichen Instituts der Ortskrankenkassen zufolge haben die gesetzlichen Kassen im vergangenen Jahr 29,2 Milliarden Euro für Medikamente, ausgegeben, fünf Prozent mehr als 2008. In Deutschland sind die Preise für Medikamente weltweit am höchsten. Kein Wunder, legen doch die Herstel­ler die Preise fest und nicht der Staat, wie es in den meisten anderen Ländern üblich ist.

Die Vermarktung ist simpel und effektiv. Die Phar­maindustrie verändert einen Wirkstoff, etwa bei einem blutdrucksenkenden Medikament, nennt das Ganze »Innovation«, umgeht damit die Festpreise für lang eingeführte Medikamente und die Pharmavertreter empfehlen landauf landab das vermeintlich neue Produkt in den Arztpraxen. Die Ärzte verschreiben es, und die Kassen zahlen. Schätzungen zufolge sind rund 16 000 Pharmareferenten in deutschen Arztpraxen und Kliniken unterwegs. Das macht rund 20 Millionen Besuche im Jahr. Fachleute gehen davon aus, dass die Pharmaunternehmen für diese Produktwerbung 2,5 Milliarden Euro ausgeben. Werbegeschenke sind inklusive, die fördern nicht nur die Kundenbindung des Arztes, sondern auch dessen Verschreibungswilligkeit.
Nach dem Arzneiverordnungs-Report könnten bei Arzneimitteln 3,4 Milliarden Euro gespart werden, davon 1,7 Milliarden Euro durch Rezepte für billigere Präparate, die dieselben Wirkstoffe enthalten. Leider nur theoretisch, denn eine Liste für Medikamente, deren Nutzen eindeutig nachgewiesen ist und die so ihre Kassenzulassung gewinnen, gibt es bis heute nicht. 2003 verabschiedete sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nach einem Besuch der Pharma-Bosse von dem geplanten Projekt. Die Spende müsse wohl zu hoch gewesen sein, frotzelte man bei der FDP und der Union. In diesen Parteien denkt man über eine Positivliste erst gar nicht nach. Und den pharmakritischen Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Peter Sawicki, haben die Koalitionäre gleich geschasst – wegen vermeintlichen Beitragsmissbrauchs für Rasenmäherbenzin.
Angesichts von Zusatzbeiträgen und Kopfpauschalen bleibt den Patienten zumindest eine nicht unberechtigte Hoffnung. Philipp Rösler wä­re nicht der erste Gesundheitsminister, der mit seinen Plänen scheitern würde.