Die Afghanistan-Konferenz in London

London calling to the underworld

Bei der Afghanistan-Konferenz in London wurden weitere Zugeständnisse an die Tali­ban beschlossen. Ob diese politische Kapitulation den Jihad beendet, ist jedoch fraglich.

Was kostet ein Taliban? Für die Reintegration reuiger Jihadisten sollen nun 500 Millionen Dollar bereitgestellt werden. Den meisten Schätzungen zu­folge kommandiert die Führung um Mullah Omar etwa 35 000 Kämpfer in Afghanistan. Folgt man dem US-Vizepräsidenten Joe Biden in dem Glauben, dass 70 Prozent von ihnen »Söldner« sind, und rechnet die weniger zahlreichen Truppen anderer islamistischer Warlords hinzu, die vermutlich ebenfalls von dem Angebot der »inter­nationalen Gemeinschaft« profitieren können, so dürfte sich die Zielgruppe auf etwa 30 000 Personen belaufen.
Auf jeden Jihadisten entfallen somit rund 16 600 Dol­lar, für Landesverhältnisse ein beachtlicher Betrag. Allerdings müssen die nicht unerheblichen Verwaltungskosten abgezogen werden, möglicherweise werden auch die wohl höheren Beträge, die fällig sind, wenn Funktionäre und Kom­mandanten der Taliban sich für eine Integration entscheiden sollen, vom Anteil des jihadistischen Fußvolks abgezogen. Für eine Westerwelle-Rente reicht das Geld also nicht. Ohnehin zahlt die »internationale Gemeinschaft« nicht bar. Statt­dessen soll der reumütige Jihadist mit einem Arbeitsplatz oder einem Stück Land nebst Hilfe bei dessen Nutzung beglückt werden.
Ob die Aussicht, als Kleinbauer auf kargem Land oder als Arbeiter in einem Staat, in dem der durchschnittliche Monatslohn bei 50 Dollar liegt, sein Dasein zu fristen, wirklich reizvoll für einen Söldner ist, hat sich in der vergangenen Woche auf der Afghanistan-Konferenz in London offenbar niemand gefragt. Das ist nicht verwunderlich, denn erst im Dezember vergangenen Jahres, acht Jahre nach Beginn des Krieges, konnte man sich dazu durchringen, das notwendige Geld für eine relativ großzügige Solderhöhung in der afghanischen Armee um 33 Prozent bereitzustellen. Ein Armeeangehöriger verdient nun durchschnittlich 200 Dollar pro Monat, damit nähert sich die Bezahlung den Gehältern, die Taliban-Führer und lokale Warlords zahlen. Die Offiziere berichten nun von einer besseren Motivation.

Geld spielt eine Rolle. Doch so nützlich Bestechung hin und wieder sein kann, politische Pro­bleme löst sie nicht, auch wenn in ihrer eigenen Erfahrungswelt befangene Politiker wie Guido Westerwelle das glauben mögen. Deserteure können leicht ersetzt werden, denn an Geld fehlt es den Taliban, die am Opiumhandel und der Schutzgelderpressung gut verdienen, nicht.
Obwohl es ausreichende Erfahrungen aus den Bemühungen um die Resozialisierung afrikanischer Kindersoldaten gibt, denen man im Gegensatz zu den Jihadisten und ihren Söldnern tatsächlich keine Verantwortung für ihre Taten zuschreiben kann, wurden auch auf der Londoner Konferenz die gesellschaftlichen Probleme ignoriert. Die ehemaligen Taliban sollen in »ihren« Gemeinden reintegriert werden, doch dürfte nicht jeder Afghane über solche neuen Nachbarn erfreut sein, die ja nicht selten zuvor ihre Mitmenschen terrorisiert haben. Recht viele Afghanen dürften sich nun auch fragen, warum sie einmal mehr leer ausgehen, nur weil sie es bislang versäumt haben, Mädchen auf dem Schulweg zu ermorden.
Vermutlich ohne sich Gedanken über die Folgen für das internationale Recht zu machen, haben die Konferenzteilnehmer überdies faktisch eine Amnestie für Kriegsverbrecher erlassen. Denn eine Beschränkung des Angebots, die etwa Mörder ausschlösse, ist offenbar nicht vorgesehen. Da ist es nur konsequent, dass ein Komitee des Sicher­heitsrats am 25. Januar, rechtzeitig vor Beginn der Konferenz, fünf ehemalige Minister der Taliban von der Terrorliste der Uno strich.
Allerdings war die Integration zumindest bei dreien von ihnen ohnehin bereits weit fortgeschrit­ten. Wakil Ahmed Muttawakil lebt in Kabul und ist seit zwei Jahren ein gefragter Gesprächpartner westlicher Diplomaten, Abdul Hakim Munib amtierte knapp eineinhalb Jahre lang als Gouverneur der Provinz Uruzgan und Mohammad Musa Hotak ist Parlamentsabgeordneter. Arsalan Rahmani, der wie Muttawakil als Verbindungsmann für Verhandlungen mit den Taliban gilt, muss hingegen auf seine offizielle Rehabilitierung noch ein wenig warten. Unterdessen führt er als Mitglied des afghanischen Oberhauses das Komitee für religiöse Angelegenheiten.
Die Idee, »gemäßigte« Taliban zu integrieren, ist also nicht ganz neu, auch wenn deutsche Politiker nun einmal mehr so tun, als hätten sie nach unermüdlichem Suchen den Schlüssel zum Frieden gefunden, den die Amerikaner verbummelt hatten. Bezeichnend ist auch, dass gerade in Deutschland die Abkehr vom Ziel der Demokratisierung offenherzig gepriesen wird (siehe Seite 4). Doch auch den Politikern in anderen Staaten kann nicht entgangen sein, dass die »neue« Strategie aus der »Islamischen Republik Afghanistan« vollends eine islamistische Republik machen wird. Der britische Außenminister David Miliband war wohl nicht der einzige von ihnen, der es »bedauerlich« fand, dass die Repräsentanten des iranischen Regimes der Einladung nach London nicht folgen mochten.

Viel versäumt haben die Iraner nicht. Beschlossen wurde in London, dass alle sich in den kommenden anderthalb Jahren nochmal so richtig anstren­gen und dann der Abzug beginnt. In diesem Zeitraum möchte man mit den »gemäßigten« Taliban ins Reine kommen und die afghanische Regierung befähigen, selbst für die Sicherheit zu sorgen. Nun sollen also in anderthalb Jahren alle Probleme bewältigt werden, die in den vergangenen acht Jahren ungelöst blieben.
Der Einsatz begann mit 14 000 ausländischen Soldaten, derzeit sind es etwa 120 000, dennoch infiltrierten die Taliban seit dem Jahr 2005 eine Provinz nach der anderen. Bereits bevor Guido Wes­terwelle die »zivile Hilfe« erfand, stieg die Sum­me der staatlichen Zahlungen an die afghanische Regierung von 1,3 Milliarden Dollar im Jahr 2002 auf 4,3 Milliarden Dollar. Nicht gestiegen ist hingegen der Lebensstandard der meisten Afghanen. Es ist zwar mehr Geld im Umlauf, doch geben einer Mitte Januar veröffentlichten UN-Untersuchung zufolge die Afghanen 2,5 Milliarden Dollar allein für Bestechungsgelder aus, das entspricht einem Viertel des geschätzten Bruttosozialprodukts. Den neuesten verfügbaren Angaben für das Jahr 2008 zufolge ist noch immer mehr als die Hälfte der afghanischen Kinder unter- oder mangelernährt. Nun kommen noch mehr Soldaten, etwa 30 000 aus den USA und weitere 5 000 aus anderen Nato-Staaten, und es wird noch mehr Geld gezahlt.
Ansätze für eine neue Strategie finden sich am ehesten noch in den Stellungnahmen US-amerikanischer Offiziere. General Stanley McChrystal, der Kommandant der US-Truppen in Afghanistan, betonte in seinem im August vergangenen Jahres erstellten Lagebericht, dass eine Debatte, die sich auf die Truppenverstärkungen konzen­triert, »an der Sache vorbeigeht«. Notwendig seien in diesem »Krieg der Ideen« vor allem ein besserer Schutz für die Zivilbevölkerung und verantwortliche Regierungsführung. »Die Wahrnehmung, dass unsere Entschlossenheit fraglich ist, lässt die Afghanen zögern, sich mit uns gegen die Aufständischen zu verbünden«, schreibt McChrystal.
Im US-Militär wurden die Erfahrungen aus den ersten desaströsen Jahren des Irak-Krieges dis­kutiert, als Modell für Afghanistan gilt nun die relativ erfolgreiche Offensive »Surge«, bei der es gelang, lokale Milizen als Verbündete im Kampf gegen al-Qaida einzusetzen. Einem Bericht der New York Times zufolge konnte das US-Militär im Januar die paschtunischen Shinwari für den Kampf gegen die Taliban gewinnen, eine Million Dollar soll das Bündnis gekostet haben. Die Rekrutierung von Stammeskämpfern »entsprechend der Linie der jüngsten ›Surge‹-Strategie im Irak basiert auf einem falschen Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse«, warnt jedoch eine im September 2009 veröffentlichte Untersuchung der US-Armee. Die Studie unterzieht die Klischeebilder über »die Paschtunen« und andere »Stämme« einer wissenschaftlichen Überprüfung und stellt fest, dass die soziale Wirklichkeit weitaus kom­plexer ist. Die meisten Paschtunen würden »flexibel und pragmatisch« entscheiden, wem sie ihre Loyalität schenken.
Obwohl unter US-Ofizieren auf einem höheren Niveau diskutiert wird als im Bundestag oder in der Friedensbewegung, bleiben einige grundsätzliche Fragen offen. So gibt es ehrgeizige Pläne für den Aufbau einer afghanischen Armee. Derzeit sind 90 Prozent der Rekruten Analphabeten, mehr als zehn Prozent desertierten und 15 Prozent sind drogensüchtig. Das mag sich ändern, wenn die Soldaten besser bezahlt werden, allerdings könnte die Armee dann zu einer Söldnertruppe werden.

Denn unklar ist, wofür die Soldaten eigentlich kämpfen. Von einem »Krieg der Ideen« kann kaum noch die Rede sein. Präsident Hamid Karzai ist ein Wahlbetrüger, der sich der Korruption bedienen muss, um sein Bündnissystem zu erhalten, was immer er auch seinen westlichen Geldgebern versprechen mag. Nun sollen nicht nur jihadistische Kämpfer resozialisiert, sondern auch weitere »gemäßigte« Führer der Taliban integriert werden. Den Preis dafür hat Arsalan Rahmani bereits genannt, der Süden des Landes würde unter ihre Herrschaft fallen und die Sharia noch strenger interpretiert werden.
Bereits die unter deutscher Führung ausgearbeitete Verfassung stellte das »islamische Recht« neben die Menschenrechte. Die »internationale Gemeinschaft« hat sich als unfähig erwiesen, der gesellschaftlichen Zerrüttung entgegenzuwirken und die Demokratisierung zu fördern. Nun folgt ein Zugeständnis an die Islamisten dem anderen, obwohl die Behauptung, die Afghanen wollten es nicht anders, von allen Umfragen widerlegt wird. So sagten im vergangenen Jahr 78 Prozent, die De­mokratie sei die beste Regierungsform, die Frauenbildung befürworteten 87 Prozent, und immerhin 29 Prozent betrachteten es als bedeutendes Problem, dass es zu wenige Arbeitsplätze für Frauen gibt.
Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die Integrationsbemühungen von den Taliban zurückgewiesen werden. Sie könnten sich zwar täuschen, wenn sie mit einem vollständigen Rückzug der ausländischen Truppen rechnen, denn einige Basen für den Kampf gegen al-Qaida wird die Nato wohl behalten wollen. Doch zweifellos wird es sie und andere Jihadisten ermutigen, dass die »internationale Gemeinschaft« politisch bereits kapituliert hat.