Gespräch mit Sven Giegold über Strategien zur Armutsbekämpfung in Europa

»Keine Politik gegen die Wirtschaft«

Sven Giegold ist Abgeordneter der Grünen im Europa-Parlament und Mitgründer des »Instituts Solidarische Moderne«, das eine »politische Alternative zum Neoliberalismus« entwickeln und eine rot-rot-grüne Mehrheit vorbereiten will.

Wird die Welt bzw. Europa nach dem »Europä­ischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung« besser sein?
Ich bin skeptisch, ob die Europäische Union wirklich alle Politikbereiche daraufhin prüft, ob sie Armut lindern. Sie tut natürlich einiges, gleichzeitig gibt es aber ein strukturelles Problem. Zentral bei der Bekämpfung von Armut ist nach wie vor die jeweilige nationale Politik. Und Armut zu verringern, kostet Geld. Von daher besteht immer die Gefahr, dass sich die Staaten im Wettbewerb gegenseitig unterbieten. Das ist am deutlichsten bei den Lohnersatzleistungen, für die es keine europäischen Mindeststandards gibt. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel.
Kann man sagen, dass an diesem Punkt die »Lissabon-Strategie« gescheitert ist, mit der sich die Regierungsvertreter u.a. verpflichteten, die Beseitigung der Armut in Europa »entscheidend voranzubringen«?
Die Instrumente, die die EU hat, sind stark begrenzt. Etwa die Grundrechte-Charta, die auch den Kampf gegen Armut benennt, bewirkt eben nicht, dass die Mitgliedsländer real dagegen aktiv werden. Die Charta bindet lediglich die EU in ihrem Handeln und die Mitgliedsländer beim Umsetzen europäischen Rechts. Eine wahrhaft so­ziale EU sollte soziale Grundrechte, die individuell einklagbar sind, für jeden EU-Bürger und jeden EU-Bürger und jede EU-Bürgerin garantieren.
Was müsste sich verändern, damit eine europäische Sozialpolitik vorstellbar wäre?
Zunächst einmal müssten soziale und ökolo­gische Ziele festgelegt werden, die auch verbindlich sind. Mitgliedsländer, die Gemeinwohlziele nicht erreichen, etwa weil sie hohe Armutsquoten haben, müssten genauso sanktioniert werden wie Defizitsünder bei exzessiver Schuldenpolitik.
Wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, sind mehrere EU-Staaten pleite oder kurz davor. Wäre es nicht an der Zeit, die Systemfrage zu stellen, die Sie ja aus pragmatischen Gründen zurückstellen?
Das kann man gern tun! Die Jungle World verdammt ja in der Regel jeden, der das nicht tut. Ich bin aber der Meinung, dass es kein Widerspruch ist, einerseits einen »grünen New Deal« zu fordern und sich andererseits zu überlegen, ob man nicht auf lange Sicht schöner leben kann als im Kapitalismus. Diesen Widerspruch zu konstruieren, habe ich immer für falsch gehalten.
Sie sind Europa-Abgeordneter, haben Attac und das »Institut Solidarische Moderne« mitgegründet – wo lässt sich am besten für soziale Gerechtigkeit kämpfen? In den Parlamenten, in außer- oder überparteilichen Institutionen?
Ich denke, dass es zum einen große Anstrengungen in der Zivilgesellschaft braucht. Das beginnt im ganz Alltäglichen: Kümmere ich mich um meinen Nachbarn oder halte ich den für einen dummen Spießer und seine Armut ist mir egal? Zum anderen ist Engagement in der Politik erforderlich, wo tatsächlich die strukturellen Ursachen für Armut und Verelendung liegen. Und in der Politik braucht es wiederum beides: Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und eine öffentliche Meinung sowie demokratisch legitimierte Institutionen und Mehrheiten für eine solidarisch-ökologische Politik. Insofern ist dieses Entweder-oder etwas, das mir in vielen linksradikalen Diskursen schon lange auf die Nerven geht.
Aus linksradikaler Sicht ist es befremdlich, wenn sich jemand für die Bekämpfung von Armut einsetzen will, aber bei den Grünen eintritt, die das größte Verarmungsprogramm der jüngeren Zeit mitzuverantworten haben.
Die Kritik an Hartz IV, die ich die ganzen Jahre über mitgeführt habe …
 … die bei den Grünen gering war, da gab es keine Austrittswellen …
… an der habe ich überhaupt nichts zu korrigieren. Warum ich bei den Grünen eingetreten bin? Die größten Katastrophen weltweit sind nach wie vor das Verhältnis zwischen Nord und Süd und auch der Klimawandel mit seinen internationalen Auswirkungen. Die einzige Partei, die diese Fragen in das Zentrum ihrer Überlegungen stellt, sind die Grünen. Der zweite Grund ist, dass nach dem Ende von Rot-Grün die Chance bestand, die Grünen wieder zu einer sozial-ökologischen Kraft zu machen, und sie eben nicht zu einer Öko-FDP werden zu lassen. Denn neoliberale Tendenzen gab es bei den Grünen und gibt es immer noch. Die Parteitage in den letzten Jahren haben gezeigt, dass die Partei ihre Chance genutzt hat.
Kritiker sagen, dass auch der »Green New Deal« keine Umverteilung von unten nach oben beinhaltet.
Die Grünen haben ihre Programmatik grundlegend verändert. Der »Green New Deal«, wie er vom Parteitag in Erfurt beschlossen wurde, hat eine klare sozialpolitische und umverteilende Agenda, in der Bildungspolitik, bei der Grundsicherung, im Bereich Gesundheit und Pflege. Dahinter steht allerdings nicht der Glaube, dass der Sozialstaat dann am besten ist, wenn die Transferleistungen maximiert werden. Der Sozialstaat ist am besten, wenn er soziale Rechte für alle garantiert. Der »grüne New Deal« ist nicht das Ende des Kapitalismus, aber das überzeugendste Reformprogramm für die nächsten zehn, 20 Jahre, das in Deutschland auf dem politischen Markt ist.
Vor zehn Jahren wurde Attac Deutschland gegründet, später die Wasg bzw. »Die Linke«, jetzt das »Institut Solidarische Moderne«. Das sind sehr unterschiedliche Institutionen, aber doch mit großen personellen Überschneidungen. Geht für den Aufbau einer neuen Institution nicht jedes Mal viel Kraft verloren, die man besser nutzen könnte?
Das sind völlig verschiedene Paar Schuhe, die real unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die Gründung von Attac war ein breites Bündnis gegen eine neoliberale Dominanz dieser Zeit.
Das klingt so ähnlich wie der Aufruf zur Gründung des »Instituts Solidarische Moderne«.
Aber Attac war ein zivilgesellschaftlicher Aufbruch. Es haben zwar einzelne Politiker mitgemacht, jedoch nie in aktiver Rolle. Attac hatte und hat nicht vor, sich zu irgendwelchen Farbkombinationen zu äußern. Die Wasg ist im Grunde eine Abspaltung der SPD und hatte die Funktion zu verhindern, dass die SPD, aber durchaus auch die Grünen, die soziale Frage nicht mehr ernst nehmen. Als solche war die Wasg durchaus erfolgreich. Keine Partei hat derzeit die Kraft, eine emanzipatorische Mehrheit alleine stemmen zu können. Was das »Institut Solidarische Moderne« gesellschaftlich vorbereiten will, ist die Mehrheitsfähigkeit einer rot-rot-grünen Konstellation.
Wenn ich mir die Gründungsmitglieder des »Instituts Solidarische Moderne« anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass sie für die Mehrheit in ihren Parteien stehen. In der SPD etwa ist Andrea Ypsilanti sehr umstritten.
Ja, das ist für einen Teil der Parteien richtig. Ich bedauere, dass es uns vor der Gründung nicht gelungen ist, das »Institut« noch breiter aufzustellen. Aber wie man an der Beitrittswelle gesehen hat, geht die Unterstützung weit in die Parteien hinein. Wir haben inzwischen über 1 000 Mitglieder, über 5 000 Menschen auf der Mailing-Liste und enorm viel Zuspruch auch aus Kreisen, mit denen wir nicht gerechnet haben.
Wenn man aber bedenkt, dass die Linkspartei zumindest in Teilen aus der SPD entstanden ist, dann ist der Unterschied zwischen Rot-Rot-Grün und Rot-Grün gar nicht so groß, und Rot-Grün hat Hartz IV zu verantworten. Warum sollte in Zukunft alles ganz anders sein?
Eine solche Konstellation kann nur dann positiv wirken, wenn die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft entsprechend sind. Wenn es keine kritische Zivilgesellschaft gibt, die den sozialen Ausgleich möchte und bereit ist, die Konflikte auszutragen, die dazu nötig sind, dann wird auch eine linke Regierung nur begrenzt wirksam sein.
Rot-Grün hat im ersten Jahr einiges in die Wege geleitet bis zu diesem tumultähnlichen Zustand, der mit dem Abgang von Lafontaine endete. Wo war da die kritische Zivilgesellschaft, die mehr sozial-ökologischen Umbau eingefordert hätte? Auch bestand die Notwendigkeit von Kompromissen wegen der CDU-geführten Mehrheit im Bundesrat. Wenn man sich etwa die Steuersenkungen anschaut und die übelsten Regeln bei Hartz, das waren alles vom Bundesrat erzwungene Regeln. Der SPD und den Grünen ist vorzuwerfen, dass sie das mitgemacht haben.
Das kann man nicht gerade als »mitmachen« bezeichnen.
Okay, das stimmt. Aber wir hatten faktisch eine ganz große Koalition in der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün.
Sie betonen immer, dass die Zivilgesellschaft, Druck ausüben soll. Wo nehmen Sie die Hoffnung her, dass sie dies zukünftig tun könnte? Die Proteste gegen Hartz IV etwa waren viel schwächer, als man hätte erwarten können.
Die Montagsdemonstrationen waren durchaus eindrucksvoll, aber die Ausweitung dieser Demonstrationen in den Westen war von relevanten Teilen der Gewerkschaftsbewegung nicht gewollt. Die hätte es damals im Westen in der Hand gehabt, und daran wäre die Regierung Schröder vermutlich gescheitert. Dass das nicht passiert ist, war für mich eine der bittersten Erfahrungen im Koordinierungskreis von Attac. Was mich heute erschreckt, ist: Wir sind in der tiefsten Krise, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg hatten, und trotzdem ist der Druck aus der Zivilgesellschaft, dass es jetzt zu wirklich einschneidenden Konsequenzen kommt, etwa im Bereich der Regulierung der Finanzmärkte, verhältnismäßig gering.
Im Gründungsaufruf des »Instituts Solidarische Moderne« sind viele Fragen formuliert, etwa zur »sozialen Ökonomie« und zum »demokratischen Sozialstaat«. Was sind Ihre Vorstellungen dazu?
Mir ist wichtig, dass Aktive aus der Zivilgesellschaft und Mitglieder der drei Parteien darüber diskutieren, was die zentralen Projekte für eine Politik jenseits des Neoliberalismus sind. Der Linken, wenn sie an die Regierung kam, und das nicht nur in Deutschland, ist es nur selten gelungen, wirklich emanzipatorische Politik zu machen. Das liegt an den Kräfteverhältnissen und an den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Menschen – von denen, die prekarisiert leben, über aufsteigende Arbeitnehmerkinder bis hin zu einem kritischen Bildungsbürgertum. Man muss Ziele formulieren, die einen sinnvollen Kompromiss bilden.
Zentrale Punkte sind erstens ein Ausgleich zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Notwendigkeit einer konsequenten ökologischen Transformation. Zweitens die Frage, wie Sozialstaatlichkeit so organisiert werden kann, dass sie keine paternalistische Abhängigkeit erzeugt, sondern die Chance auf echte gesellschaftliche Teilhabe bietet und soziale Rechte für alle garantiert. Schließlich die Frage, wie soziale Politik so gestaltet werden kann, dass sie zusammengeht mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Man erreicht keine gesellschaftlichen Mehrheiten für eine sozial-ökologische Politik, wenn man Politik gegen die Wirtschaft macht. Eine mehrheitsfähige Politik muss sich auch als Vertreterin kleiner und mittlerer innovativer Unternehmen verstehen.