Gespräch mit Michael Lind über die Protestbewegungen der Rechten in den USA

»Wir sehen die Wehen der Geburt eines neuen Amerikas«

Michael Lind galt Anfang der neunziger Jahre als der neue Star der amerikanischen Rechten, bis er sich schließlich aus Protest gegen deren Politik der sozialen Spaltung von den Konservativen abwendete. Derzeit ist er Leiter des »Programms für ökonomisches Wachstum« bei der »New America Foundation« in Washington, D.C. Zudem ist er Kolumnist des Internetportals www.salon.com. Lind hat in Harvard gelehrt und ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem von »The American Way of Strategy« (2006) und »The Next American Nation« (1995).

Sie haben kürzlich einen recht überraschenden Vergleich angestellt und meinten, die Tea-Party-Bewegung erinnere Sie an die Gegenkultur der sechziger Jahre. Können Sie das kurz erläutern?
In der Politik hat eine Minderheit die Wahl, sich entweder als Gegen-Establishment oder als Gegenkultur zu organisieren. Ein Gegen-Establishment versucht, seine potentiellen Wähler zu überzeugen, indem es als verantwortungsvolle »Schattenregierung« oder als »Regierung im Exil« auftritt. Es legt kohärente Pläne und Versprechungen vor, was es erreichen will, sobald es selbst die Regierung stellt. Im Gegensatz dazu ist die Gegenkultur eine Bewegung, die die Wut gegen das politische System als Ganzes vertritt. Ihre Anhänger engagieren sich in verschiedenen Aktivitäten, die sich alle von den normalen politischen Mobilisierungsversuchen unterscheiden. Beispiele dafür sind theatralischer Protest, der Rückzug aus der Gesellschaft in Kommunen oder andere subkulturelle Nischen. Die Gegenkultur der radikalen Linken in den sechziger und siebziger Jahren hat sowohl die Strategie der Gegenkultur als auch die des Gegen-Establishments verfolgt, und genauso macht es heute die radikale Rechte.
Aber die Gegenkultur der sechziger Jahre stand doch für Emanzipation und Befreiung, während die Tea-Party-Bewegung von heute für Reaktion und Rückständigkeit steht, oder nicht?
Meine Behauptung ist nicht, dass die rechte und die linke Gegenkultur die gleichen Ideale oder Werte vertreten würden. Das tun sie nicht. Aber ihre Opposition gegen das Establishment hat ähnliche Formen angenommen.
Ist in den USA die Entstehung einer konservativen militanten Organisation nach Art der linken Weatherman zu erwarten, die in den sechziger und siebziger Jahren Bombenanschläge auf Regierungsgebäude verübten?
Wir müssen uns immer bewusst sein, dass die Annahme, die bestehende politische und soziale Ordnung könne mittels konventioneller demokratischer und legaler Methoden nicht reformiert werden, auch gewalttätige Militante inspirieren kann. Das ist an den Rändern der Gegenkultur der sechziger Jahre geschehen. Und das kann auch heute an den Rändern der Rechten passieren. Es hat schon eine beunruhigend große Zahl an Zwischenfällen gegeben, bei denen Protestierende mit Waffen in der Hand bei Tea-Party-Demonstrationen und Town-Hall-Meetings erschienen sind, an denen auch gewählte Politiker teilgenommen haben. Die Tatsache, dass es schon immer eine kleine, aber gefährliche paramilitärische Rechte in den USA gegeben hat – von den Mitgliedern des Ku-Klux-Klans, die in den sechziger Jahren schwarze Amerikaner und weiße Bürgerrechtler ermordet haben, bis zum Massenmörder Timothy McVeigh und seinen Mitverschwörern in den Neunzigern –, gibt uns immer genügend Grund, besorgt zu sein.
Die Protestbewegung der sechziger Jahre war in einem gewissen Ausmaß Ausdruck längerfristiger Trends in der Gesellschaft, die – mit einer damals gebräuchlichen Formulierung – Teil der »Krise des Spätkapitalismus« waren. Was ist der gesellschaftliche Hintergrund für die Bewegungen auf der Rechten heute – sofern es einen gibt?
Ich lehne den Begriff des »Spätkapitalismus« ab. Eine Mischung zwischen einem Kapitalismus der großen Korporationen und einer Ökonomie des öffentlichen Sektors wird es in der einen oder anderen Form vermutlich immer geben. Aber es können ökonomische Turbulenzen entstehen, die die Politik destabilisieren. Die sogenannte zweite industrielle Revolution, verbunden mit der Elektrifizierung und der Automobilisierung, ist in den fünfziger Jahren in den USA und etwas später in der Bundesrepublik Deutschland und Japan zur Reife gelangt.
In den Siebzigern hat dann die technologische Stagnation zu niedrigen Wachstumsraten im Westen geführt, und die Frustration über diese Verlangsamung des Wachstums ließ den nach 1945 bestehenden gesellschaftlichen Konsens in den westlichen Demokratien zusammenbrechen. Die »dritte industrielle Revolution« hat in den neunziger Jahren einen Boom in der Produktivitätssphäre herbeigeführt. Viele glauben, dass die Computer-Ökonomie heute ihr Reifestadium erreicht hat und technologische Fortschritte nur noch in kleinen Schritten und in der Form neuer Anwendungen bevorstehen, begleitet von Überkapazitäten und fallenden Profiten. Das Altern und die Verlangsamung der digitalen Revolution bringen das Austrocknen profitabler neuer Investitionsalternativen in der produzierenden Industrie mit sich. Dieser Mangel hat dazu geführt, dass Investoren begonnen haben, verzweifelt mit Immobilienanlagen und nominell abgesicherten Krediten zu spekulieren.
Dieser Zustand der Stagnation treibt sowohl Nationen als auch Individuen dazu, sich an das zu klammern, was sie haben, anstatt zu versuchen, durch Kooperation mit anderen mehr zu gewinnen. Schlechte ökonomische Zeiten machen Menschen und Nationen in aller Regel ängstlicher und selbstsüchtiger und eben nicht freigebiger. In der Depression haben sich die Menschen gegen gewählte Regierungen, Liberalismus und gegen sozialdemokratische Konzepte gewendet. Ausnahmen gab es nur in wenigen alten und etablierten Demokratien wie in den USA, Großbritannien und einigen skandinavischen Ländern.
Statt des Vergleichs der Tea-Party-Bewegung mit der Gegenkultur der Sechziger drängt sich doch vielleicht eher die Gegenüberstellung mit der sogenannten Grassroots-Bewegung auf, die Barack Obama die Nominierung verschaffte und die ihm schließlich auch half, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Sehen Sie hier Ähnlichkeiten – zum Beispiel die relative Unabhängigkeit dieser Bewegungen von den zwei großen Parteien? Ist es in den USA wieder einmal Zeit für die Diskussion über eine »Dritte Partei«?
Die Anhängerschaft ist bei diesen beiden Bewegungen sehr verschieden. Die unabhängigen Unterstützer von Obama waren Studenten, gut ausgebildete, metropolitane Angestellte und Angehörige von Minderheiten. Die Tea-Party-Anhängerschaft wiederum ist größtenteils weiß, provinziell und gehört der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse an. Allerdings gibt es tatsächlich Parallelen in der Art und Weise, wie sich diese Bewegungen gegenüber der jeweils favorisierten Partei verhalten. In beiden Fällen – sowohl bei der Netroots-Linken als auch bei der Tea-Party-Rechten – sind es Außenseiter, die versuchen, den politischen Parteien neue Energien zuzuführen – Parteien, die, wie fast überall in der Welt, durch eine zu lange Zeit an der Macht zu korrupten, ausgelaugten, zynischen und lobby-dominierten Apparaten geworden sind. Anders als das Verhältniswahlsystem in den meisten anderen Demokratien tendiert das Mehrheitswahlrecht in den USA dazu, dritte Parteien zu bestrafen und das Zwei-Parteien-System zu verstärken. Allerdings wurden schon oft kurzzeitig auftauchende dritte Parteien von einer der beiden großen Parteien aufgesaugt, was sowohl deren Programmatik als auch ihre Anhängerschaft verändert hat. Dies kann auch heute wieder passieren.
Die Republikanische Partei als potentieller Bündnispartner der Tea-Party-Bewegung kann einerseits darauf hoffen, dass sie die Kongresswahlen im November deutlich gewinnt, andererseits aber erweckt sie den Eindruck starker Unordnung. Werden die Republikaner die Bewegung integrieren und sich dabei selbst verändern, wie es die Demokraten in den Siebzigern getan haben?
Die Tea-Party-Bewegung erinnert an die »Neue Rechte« der Siebziger – ebenfalls eine Protestbewegung aus zornigen, frustrierten weißen Amerikanern der Mittel- und Arbeiterklasse, die sich von den Spitzen der beiden großen Parteien ignoriert fühlten. Den Republikanern gelang es, diese Neue Rechte zu kooptieren. Das hat auch entscheidend zum Triumph Ronald Reagans von 1980 beigetragen. Ob die heutigen Republikaner die Tea-Party-Bewegung auf ähnliche Weise kooptieren können, muss man noch sehen.
Wie würden Sie den »State of the Union« heute einschätzen? Glauben Sie, dass die USA in der Lage sind, auf die gegenwärtige Krise und die zunehmenden Spaltungen in der US-Gesellschaft Antworten zu finden?
Theoretisch sollten die USA in einer besseren Verfassung sein, sich im 21. Jahrhundert zurechtzufinden, als die anderen großen Mächte. Europa altert und stagniert ökonomisch, Japan geht es genauso, Russland erlebt einen Niedergang, Indien ist weiterhin verarmt, und sogar China geht es nicht besser, sondern es steckt in einem auf Dauer nicht haltbaren exportorientierten Wachstumsmodell fest und hat enorme Probleme, mit der Armut im Land zurechtzukommen und die politische Stabilität zu bewahren. Zudem werden die USA noch für Generationen die dominierende militärische und ökonomische Weltmacht bleiben – trotz aller Aufregung über den Aufstieg von China. Der Aufstieg der Sowjetunion und Japans wurde vor einigen Jahrzehnten ähnlich übertrieben.
Aber das weiterhin enorme Potential der USA, das sich in ihrem akkumulierten Reichtum, den riesigen natürlichen Ressourcen und ihrer großen und einwanderungsfreundlichen Bevölkerung zeigt, wird im Moment nicht realisiert. Der Grund dafür ist ein anachronistisches politisches System, in dem die ländliche weiße Bevölkerung überrepräsentiert und die wachsende, ethnisch gemischte städtische Mehrheit unterrepräsentiert ist. Der Konflikt zwischen dem alten und dem neuen Amerika, der sich derzeit in Form einer politischen Lähmung in Washington äußert, wird aufgrund seiner Größe und seines Wachstums letztlich zugunsten des neuen multiethnischen, metropolitanen Amerika entschieden werden. Die gegenwärtige Krise der politischen Ordnung in den USA ist keine tödliche Krise für die amerikanische Republik. Vielmehr beobachten wir die Wehen der Geburt eines neuen, anderen Amerika, das aus dem alten geboren wird.