Über die Ermordung eines 16jährigen Mädchens in der Türkei

Lebendig begraben

Medine Memi wehrte sich gegen den Patriarchen ihrer Familie und wurde auf grausamste Weise ermordet. Noch reden viele im Dorf von einem Unfall, doch vor allem unter den Frauen wächst die Wut auf die Macht der alten Männer.

Auf dem kleinen Friedhof am Ortseingang blickt sich eine kleine Gruppe von zehn Leuten hilflos um. Alle halten eine Nelke in der Hand. Der Wärter ist neugierig. Viel lieber, als die Fragen der Besucher zu beantworten, möchte er selbst alles über sie erfahren. Wo sie herkommen, wie sie heißen, ob sie verheiratet sind und Kinder haben. Emine Eren nimmt schließlich all ihren Mut zusammen. Die 45jährige leitet einen Verein zur Unterstützung von bedürftigen Frauen und Kindern in Kahta, einer Kleinstadt in der Provinz Adiyaman im Osten der Türkei. »Wo ist denn das Grab der kleinen Medine?« fragt sie vorsichtig. »Medine?« brummt der alte Mann schlecht gelaunt, sichtlich gestört von der Unterbrechung seines Verhörs. »Das Mädchen wurde vor drei Wochen beerdigt, sie wurde getötet«, fügt Emine Eren sanft hinzu. Der Wärter funkelt sie zunächst misstrauisch an, seine Neugier scheint jedoch stärker zu sein als der Impuls, die Besucherschar loszuwerden. Zielstrebig trottet er einen Pfad entlang bis zum entlegensten Rand des Friedhofs.
Die letzte Ruhestätte der 16jährigen Medine Memi ist ein schlichter Hügel ohne Grabstein. Die kleine Gruppe stellt sich betreten um das Grab, die Nelken werden in das noch lockere Erdreich gesteckt. Niemand spricht. Der Wärter glotzt verständnislos auf die Szene. Vermutlich fragt er sich, was all die Fremden am Grab dieses jungen Mädchens wollen, dessen Leben die eigene Familie für so wertlos hielt, dass sie auf dem Friedhof im Abschnitt für Unbekannte lieblos verscharrt wurde. Seine Fragen bleiben unbeantwortet. Der kleine Kreis löst sich schnell auf. Niedergeschlagenheit herrscht am Grab des jüngsten Opfers von Familiengewalt in dieser Region.
In der abgelegenen Kleinstadt Kahta möchten viele den Fall Medine Memi so schnell wie möglich vergessen. Am 7. Februar hatten die türkischen Medien mit Abscheu über Medines grausamen Tod berichtet. Am Vortag hatte die Gerichtsmedizin in der Nachbarstadt Malatya erklärt, die Autopsie der Leiche habe ergeben, dass die 16jährige lebendig begraben wurde. Zu diesem Zeitpunkt saßen der Vater und der Großvater des Mädchens bereits als Tatverdächtige im Gefängnis von Adiyaman. Anfang Dezember hatte die Polizei von Kahta einen anonymen Hinweis bekommen, dass die beiden Männer ihre Tochter und Enkelin getötet hätten. Tatsächlich wurde die Leiche des Mädchens im Hinterhof des Elternhauses gefunden, sie war hinter dem Hühnerstall begraben worden. In der Lunge und im Magen von Medine fanden die Ärzte Spuren von Erdpartikeln, die auf den furchtbaren Kampf des Mädchens gegen den Erstickungstod hinweisen. Einen Kampf, den sie unmöglich gewinnen konnte. Bislang verweigern Vater und Großvater jede Aussage zum Tathergang.

Emine Eren zupft ihr Kopftuch zurecht. Nach der Zeremonie auf dem Friedhof wird sie mit einer Gruppe von Frauen in die Bergdörfer fahren, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie wollen die Familien dazu bringen, die Töchter zur Schule zur schicken. Emine Erens Arbeit wird von der Stadtverwaltung von Kahta unterstützt, deren Bürgermeister der Regierungspartei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) angehört. Neben der pro-kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie ist die AKP die zweitstärkste Fraktion in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzen des Ostens und Südostens. Eigentlich besteht in der Türkei acht Jahre Schulpflicht. In Kahta und den umliegenden Dörfern werden die Geburten von Mädchen jedoch häufig gar nicht gemeldet. Sie existieren de facto nicht. Emine Eren weicht aus, als wir sie begleiten wollen. Sie selbst ist in den Dörfern oft wenig willkommen. Besucher würden ihre Arbeit nur erschweren oder gar ganz unmöglich machen. Auch Medine Memi hatte nie eine staatliche Schule besucht.

Im Versammlungshaus der staatlichen Lehrer sitzt Hacı Bozkurt. Er ist Leiter der öffentlichen Einrichtung, in der Lehrer übernachten, essen und die Bibliothek benutzen können. Außerdem schreibt er freiberuflich für die Nachrichtenagentur Dogan, die unter anderem das Boulevardblatt Hürriyet mit Nachrichten versorgt. Hacı Bozkurt war einer der ersten, der die Grube im Hinterhof der Familie Memi begutachten durfte. Es sei »ein scheußlicher Anblick« gewesen, erinnert er sich. Unter diesem Eindruck hatte er der Agentur am 7. Februar gemeldet, dass Medine Memi von Mitgliedern ihrer Familie ermordet worden sei. Außerdem meldete er, dass deren Großvater Mitglied einer religiösen Sekte sei. Der zierliche Mann trägt einen grauen Anzug mit dunkler Krawatte, der in dieser Region typisch für Lehrer ist. Er windet sich bei der Erinnerung an diesen Tag. Er kennt Fethi Memi, Medines Großvater, und beschreibt ihn als »einen frommen Mann«, der seine rituellen Gebete verrichte und eigentlich verinnerlicht habe, dass Töten eine Sünde ist. Er kennt auch den Rest der Familie gut. Der Onkel von Medine sei Bürgermeister des Hürriyet-Viertels, in dem die Memis wohnen, erzählt er. Von diesem Onkel stammt offenbar die offizielle Legende zum Mordfall Medine Memi, die am 8. Februar sowohl in türkischen als auch in internationalen Medien erschien und die Hacı Bozkurt nun beflissen wiederholt.
Demnach sei die 16jährige verprügelt worden, weil sie ihren Großvater wegen illegalen Waffenbesitzes bei der Polizei angezeigt haben soll. In der Familie würden Frauen und Kinder regelmäßig verprügelt, dass Medine auch so »bestraft« wurde, sei also nichts Besonderes gewesen. Das Mädchen sei schließlich ohnmächtig geworden, so dass Vater und Großvater sie für tot hielten und es mit der Angst zu tun bekommen hätten. Im Garten befand sich ohnehin eine Grube, weil ein Anbau für den Hühnerstall geplant war. Praktischerweise war zum Gießen des Fundaments auch Beton vorhanden. Medine sei also in das Loch gesetzt und mit Erde überschüttet worden, alles sei mit Beton versiegelt worden. Hacı Bozkurt erzählt alles mit sehr ernster Miene und trägt die perfide Geschichte mit großer Überzeugung vor. Im Redeschwall betont er sogar, dass in Kahta sonst alle Mädchen zur Schule gingen und alles »seine Ordnung« habe. Medine sei eine Ausnahme. Der pensionierte Lehrer steigert sich so in die offensichtliche Lüge hinein, dass er sogar die Meinung von Medines Onkel verständnisvoll zitiert, wonach sie »wirklich ein ungezogenes Mädchen« gewesen sei und manchmal mit Fremden am Mobiltelefon geredet habe. »Aber das darf natürlich kein Grund sein, ein Mädchen totzuschlagen«, gibt Hacı Bozkurt am Ende seiner Tirade leise zu.
Selbst wenn diese Darstellung der Wahrheit entspräche, also wenn das Ganze ein Unfall gewesen wäre, bliebe die Frage, warum Vater und Großvater sofort die Grube einfiel und sie nicht einen Krankenwagen anriefen. Aber vor allem aus einem Grund erscheint die Unfallthese unglaubwürdig: Zum Zeitpunkt von Medines Tod hielt sich offenbar niemand im Haus auf, was für eine traditionelle Familie mit zehn Kindern, Großmutter und Schwiegertöchtern zunächst sehr unwahrscheinlich erscheint.
Obwohl die Geschichte extrem unglaubwürdig ist, wurde sie von den Medien verbreitet und kaum infrage gestellt, und so ließ das Interesse der türkischen Öffentlichkeit am Mordfall Medine Memi schnell nach. Alles sollte wie ein Unfall aussehen. Der Gouverneur von Adiyaman beeilte sich zu erklären, die Täter säßen in Untersuchungshaft und die Justiz würde der Gerechtigkeit Genüge tun.

Ein kurzer Rundgang durch Kahta vermittelt jedoch ein ganz anderes Bild. In der Nachbarschaft der Familie Memi leben viele Mädchen, die nie eine staatliche Schule besucht haben. Zwei Mädchen im Alter von 15 Jahren sitzen mit einer älteren Frau im Vorhof eines kleinen Hauses um einen Tandir-Ofen und backen Teigfladen. Die beiden Mädchen kannten Medine, denn sie gehen in dieselbe Koranschule, die sie auch besucht hatte. Eine richtige Schule ist das nicht, dort lernt man Koransuren auf Arabisch auswendig, ohne dass diese Sprache vermittelt wird.
Mit der Einführung einer achtjährigen Grundschulzeit wollte die türkische Regierung im Jahr 1998 vor allem verhindern, dass religiöse Familien ihre Kinder bereits im Alter von acht oder zehn Jahren in die Koranschule schicken statt in die laizistischen staatlichen Schulen. In einem Bericht der Vereinten Nationen wurde 2005 jedoch festgestellt, dass immer noch zehn Prozent der Kinder in der Türkei keine acht Jahre Schulpflicht einhalten. Wie hoch die Anzahl der illegalen Koranschüler ist, bleibt unbekannt.
Medine Memi hatte nie eine staatliche Schule besucht. Sie durfte nur verschleiert das Haus verlassen, und der Besuch der Koranschule gehörte zu den wenigen Aktivitäten, die ihr draußen erlaubt wurden. In der Schule herrscht eine strenge Disziplin. Die beiden Mädchen kannten Medine kaum, außer dem Zitieren von Suren wird in der Schule wenig kommuniziert.
Eines wissen die Mädchen jedoch noch genau: Am Tag von Medines Ermordung sei der Rest der Familie in das Dorf Menzil geschickt worden.
Der Großvater Fethi Memi ist Mitglied der sunnitischen Naksibendi-Sekte, die in diesem Dorf ihren Sitz hat. Im Dorf gibt es eine große Moschee, ein Krankenhaus und eine Koranschule. Vor allem an Wochenenden kommen bis zu 1 000 Besucher, um den Scheich um Rat zu fragen und dort zu beten. Die Frauen sind vollständig verschleiert, viele Männer tragen Pumphosen, Turbane oder Mützen als Zeichen der Zugehörigkeit zu der konservativen Sekte. Fernsehen, Musik und jegliche Form weltlicher Unterhaltung sind dort unerwünscht. Der Besuch im grünen Menzil gilt für die Bewohner von Kahta jedoch als willkommene Abwechslung vom monotonen Tagesablauf, vor allem, paradoxerweise, für Frauen. Für die Familien, die der Sekte angehören, ist bedingungsloser Gehorsam gegenüber den Männern und Älteren eine selbstverständliche »Tugend«, die Frauen und Kinder besitzen müssen.
Den Stimmen der beiden Mädchen ist großer Respekt anzumerken, als sie erzählen, dass Medine Memi ihren Großvater angezeigt habe, weil er illegale Waffen besitze und Zigaretten schmuggelte.
Dass Frauen und Töchter in Medines Familie bei jeder Gelegenheit geschlagen werden, bestätigen auch weitere Frauen im Viertel. Sie vermuten, dass Medine ihren Großvater anzeigt hat, damit der strenge, gewalttätige Mann endlich von der Polizei verhaftet wird.
Medine liebte die Fernsehserie »Seitenstraßen«. In der türkischen Polizeiserie sorgt der gute ältere Polizist Riza Baba dafür, dass die Bösen in den Hinterhöfen von Istanbul bestraft werden. Im wirklichen Leben versagte die Polizei jedoch. Medine konnte oder wollte sie nicht helfen. Nachdem das Mädchen Anzeige erstattet hatte, wurde es einfach nach Hause geschickt. Der Großvater wurde zwar daraufhin verhaftet, aber wenig später aus der Haft entlassen. Der Umstand, dass Medine an ihrem Todestag allein zuhause blieb, erhärtet den Verdacht eines vorsätzlichen Mordes. An der Leiche des Mädchens wurden außerdem keine Spuren äußerlicher Gewaltanwendungen gefunden. Nur die Erdpartikel in der Lunge beweisen, dass sie noch lebte, als sie begraben wurde.
Im Viertel sind sich vor allem die Frauen einig, dass Medine »bestraft« wurde. Aus den Augen der Frauen, die vor dem Ofen sitzen, funkelt tiefer Hass. Medine Memi wird von vielen von ihnen wegen ihres Versuchs, sich zu wehren, als Vorbild bewundert. Ihr grausamer Tod löst Abscheu und Entsetzen aus, aber auch blinde Wut auf die Macht der alten Männer in dieser konservativen Gemeinschaft.
Am Ortsausgang von Kahta hat Neset Dede ein Kebab-Restaurant. Der 40jährige ist über einige Ecken mit der Familie Memi verwandt und gehört selbst zu den Verehrern der Naksibendi-Sekte. Er versichert, dass die Gemeinde dieses Verbrechen verurteile und verabscheue. Gleichzeitig zweifelt auch er nicht an der Mordabsicht. »Das ist das Resultat des Mangels an Bildung«, seufzt er. Dahingestellt bleibt, ob die Sekte nicht mit der Verachtung von weltlicher Bildung gerade diese fördert.
Auch bleibt abzuwarten, ob die Ermittlungen gegen Fehdi Memi und seinen Sohn Ayhan auch die Schmuggelaktivitäten und den illegalen Waffenbesitz der beiden zum Gegenstand haben werden. Ayhan Memi besitzt eine Bäckerei. Die muss man in Kahta mit Sicherheit nicht mit einer illegalen automatischen Handfeuerwaffe verteidigen.
Allgemein bekannt ist, dass die Hizbollah-Miliz, die im Jahr 2000 mit der Erschießung ihres Anführers Hüseyin Velioglu zerschlagen worden ist, in der Region wieder an Einfluss gewinnt. Die islamistische Terrorgrupe war in den neunziger Jahren für ihre Grausamkeit vor allem auch bei der Bestrafung abtrünniger Mitglieder bekannt Der Erstickungstod war eine weit verbreitete Form der Bestrafung. Es ist eindeutig, dass Medine Memi wegen ihrer Anzeige bei der Polizei sterben musste. Noch zu klären bleibt, ob ihr Vater und Großvater rein kriminelle oder politisch-terroristische Aktivitäten decken wollten.