Askese und der Kampf gegen die Dicken

Das dicke Ende kommt noch

Moderne Eiferer, die gegen die Dicken zu Felde ziehen, ähneln mittelalterlichen Predigern der Askese. Doch lassen die Mahner unserer Zeit die Barmherzigkeit ihrer Vorgänger vermissen.

Zunächst wurde Eiermus mit Pfefferkörnern, Safran und Honig gereicht, dazu Hirse, Gemüse, Hammelfleisch mit Zwiebeln sowie gebratenes Huhn mit Zwetschgen. Dann kamen Stockfisch mit Öl und Rosinen, in Öl gebackene Bleie, gesottener Aal mit Pfeffer sowie gerösteter Bückling mit Senf auf den Tisch. Als dritter Gang wurden sauer gesottene sowie gebackene Speisefische und kleine Vögel (vermutlich Spatzen) in Schmalz gebraten mit Rettich serviert, dazu noch Schweinskeule mit Gurken.
Diese Speisen wurden im Jahr 1303 in Weißenfels zu Ehren eines Bischofs gereicht. Die meisten Historiker vermuten, dass die Gäste bei solchen Mahlzeiten nicht von allen der auf großen Platten servierten Gerichte aßen, aber sicher ist das nicht. Otto von Bismarck, dessen Gewohnheiten genauer bekannt sind, verzehrte bereits zum Frühstück Roastbeef mit Kartoffeln, kalten Wildbraten, Krammetsvögel und aufgebratenen Pudding, als Hauptmahlzeit gab es dann sechs Gänge nebst Desserts. Er gestand, in seiner »diplomatischen Periode« habe er »nicht selten des Mittags zwei Flaschen Champagner« genossen.
Bismarck galt selbst nach damaligen Maßstäben als trinkfreudiger Gourmand, doch waren auch die meisten seiner Kritiker nicht so dürr wie ein Hering. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass in früheren Zeiten weitaus eifriger geschlemmt wurde als heute. In den vorbürgerlichen Klassengesellschaften war das festliche Mahl eine der relativ wenigen Möglichkeiten, seinen Reichtum zu genießen, aber auch, ihn zur Schau zu stellen und andere daran teilhaben zu lassen und so an Ansehen zu gewinnen.
Nur eine kleine Minderheit hatte die Chance, im Alltag mehr zu essen als notwendig. So war der Bauch ein sichtbares Zeichen des Wohlstands. Zuweilen galt er auch als Symbol des Wohlbefindens, so sind in China, allerdings fast nur dort, buddhistische Figuren und Statuen verbreitet, die einen dicken, lachenden Mann darstellen. Doch bereits in der Antike wetterten Moralisten gegen die Schlemmerei, christliche Geistliche radikalisierten und systematisierten diese Kritik.

»Bedenke, dass die Sünde der Völlerei den Tod in die Welt gebracht hat«, mahnte der Dominikanermönch Luis de Granada im 16. Jahrhundert. Die meisten Theologen würden das Verspeisen des Apfels zwar eher mit dem Hochmut in Verbindung bringen, doch zählten alle Katholiken die Völlerei zu den sieben Todsünden. Gesundheitliche Fragen interessierten die Theologen allenfalls am Rande, ohnehin gab es damals ausschließlich Bioprodukte. Doch warnten sie unermüdlich, dass der Genuss flüchtiger sinnlicher Freuden das Heil der Seele gefährde. Statistiken über den Body-Mass-Index wurden damals nicht geführt. Weltliche Machthaber mussten wohl ein wenig auf ihr Gewicht achten, da noch von ihnen erwartet wurde, dass sie an ihren Feldzügen selbst teilnahmen. Geistliche und reiche Kaufleute hatten dieses Problem nicht.
Vor allem der Bauch des Kaufmanns und seines Nachfolgers, des Bourgeois, galt als Symbol der Sündhaftigkeit. Die Gemälde von Peter Paul Rubens belegen, dass das aufsteigende Bürgertum keinen Schlankheitswahn kannte. Auch in späteren Zeiten mangelte es nicht an dicken Repräsentanten der Bourgeoisie. Doch schwankte das Bürgertum immer zwischen dem Bestreben, das Wohlleben des Adels nachzuahmen, und jener puritanisch-asketischen Moral, die Max Weber als »Geist des Kapitalismus« bezeichnete.
Während Karl Marx die Fabrikdisziplin noch kritisierte und, soweit seine oder Friedrich Engels’ Mittel es ihm erlaubten, einen durchaus bourgeoisen Lebenswandel pflegte, hat sich später vor allem die stalinistische Linke asketischen Idealen zugewandt. »So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen«, forderte Paulus im zweiten Brief an die Thessaloniker. »Mit bolschewistischer Rücksichtslosigkeit werden wir allen bürgerlichen Faulenzern gegenüber das Prinzip durchführen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, wird in der berüchtigten »Programm­erklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« des ZK der KPD aus dem Jahr 1930 gedroht. Noch Jahrzehnte später wurde ein Unternehmer in Karikaturen unweigerlich als übergewichtig dargestellt, als sei die Völlerei die Todsünde des Kapitalismus.
Obwohl sich seitdem manches geändert hat, haben es Dicke in der linken Szene immer noch schwer. Sie entsprechen weder dem Idealbild des autonomen Fighters noch den Anforderungen der »hedonistischen« Partykultur. Weit gefährlicher für die Dicken ist jedoch, dass die Bourgeoisie wohl intensiver als jemals zuvor puritanisch-asketische Ideale propagiert. Ihr eigener Luxuskonsum dient kaum noch dazu, sich flüchtige sinnliche Freuden zu gönnen, vielmehr soll er vor allem Distanz herstellen und Status dokumentieren. Die aufstiegsorientierten Mittelschichten bilden die Massenbasis für das Bestreben, einen neopuritanischen Kontrollstaat zu ­errichten, in dem Dicke als willensschwache Asoziale gelten.

Die Völlerei ist nunmehr eine Sünde, die den Armen zugeschrieben wird, mit Aussagen, die denen der Theologen erstaunlich ähnlich sind. »Lass die Vernunft und nicht die Neigung deinen Appetit regieren«, rät Luis de Granada. »Die Mehrheit der fetten Leute braucht etwas Disziplin«, meint Ingrid Newkirk, Präsidentin der Tierschutzorganisation Peta. Es geht nicht mehr um den Vorrang der unsterblichen Seele vor dem vergänglichen Leib, sondern um den Schutz des Leibes selbst sowie den des »Volkskörpers«. Denn Dicke belasten das Gesundheitssystem und sind »ein schlechtes Vorbild für unsere Kinder«, lehrt Newkirk.
Während Gegner des Tabakgenusses immerhin noch auf die Gefahren des Passivrauchens verweisen können, gibt es so etwas wie passives Dickwerden nicht. Auch die angeblich von Übergewichtigen verursachten höheren Kosten für das Gesundheitssystem sind ein Mythos. Denn die höchsten Kosten verursachen Menschen, die sehr alt werden und lange Zeit im Krankenhaus oder im Pflegeheim verbringen. Wer an den Folgen des Übergewichts oder des Rauchens früh verstirbt, erspart den Kranken- und Rentenkassen also eine Menge Geld.

Im Kampf gegen die Dicken geht es um Disziplinierung. Führend sind in dieser Hinsicht wohl die Waltons, die auf der neuen Forbes-Milliardärsliste die Plätze 12, 15, 16 und 18 belegen. Im Rahmen des angeblich freiwilligen »Personal Sustainability Projects« haben die Mitarbeiter von Walmart im vergangenen Jahr »mehr als 184 000 Pfund verloren und sind mehr als 1,1 Millionen Meilen gelaufen, geradelt oder geschwommen«. Auch wer arbeitet, darf nicht mehr essen, was und so viel er möchte.
Der ökonomische Zweck solcher Übungen ist offensichtlich, doch kann der Kapitalismus gar nicht so viele schlanke Erwerbsfähige verwerten, wie er erzieht. Es geht auch um Macht, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird, um das Bestreben einer herrschenden Klasse und ihrer Verbündeten, die Gesellschaft nach ihrem Idealbild zu formen. Diese modernen Moralprediger kennen keine Vergebung der Sünden, auch der Begriff der Demut ist ihnen fremd. In dieser Hinsicht kann man ausnahmsweise auf ihre christlichen Vorgänger hören, die wussten, dass sich hinter anmaßenden Predigten, übertriebener Askese und besessener Tugendhaftigkeit die schlimmste aller Todsünden verbirgt: der Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt.