Die deutsche Linke, Westerwelle und die Hartz-IV-Debatte – die Linke sollte sich von dem Westerwelle-Spektakel fernhalten

Lieber kein Wellenreiter sein

Die Linke hat zu Recht aufs Westerwelle-Bashing verzichtet. Die Gefahr der Vereinnahmung war zu groß.

Das Verfassungsgericht kommt zu dem Schluss, die Hartz-IV-Gesetze seien verfassungswidrig (was nicht heißt, dass sie damit auch aufgehoben wären), und der Sturm bricht los: Als wäre er nicht der strahlende Wahlgewinner, sondern würde schon längst mit dem Rücken zur Wand stehen, schlägt Außenminister und »Vizekanzler« Guido Westerwelle um sich, sieht die Leistungsgerechtigkeit bedroht, das Lohnabstandsgebot nicht mehr gewahrt und spricht von »spätrömischer Dekadenz«. Westerwelle erfährt überraschend viel Widerspruch, offensichtlich geht seine demagogische Rechnung nicht auf. Nun kommt der Widerspruch aus den Medien und vor allem aus den Reihen der parlamentarischen Opposition – und somit auch von jenen Parteien, die vor fünf Jahren die Hartz-Gesetze beschlossen und eingeführt hatten und die bis heute nicht vorhaben, sie zu revidieren. So abgekartet ist das Spiel.

Aus diesem Grund ist es tatsächlich geschickt, wenn die Leute, um die es geht, die Hartz-IV-Empfänger, die Erwerbslosen, das sogenannte abgehängte Prekariat, nicht ins Westerwelle-Bashing einstimmen: Die Gefahr der Vereinnahmung ist evident: SPD-Politiker und Grüne, die gegen Westerwelle Protestierenden beisprängen – ein nachgerade perverses Bild.
Vor sechs Jahren, als es unüberhörbar eine Anti-Hartz-Bewegung gab, die ein paar Sommerwochen lang die Politik vor sich hertrieb, konnte von Vereinnahmung keine Rede sein, im Gegenteil: Die Anti-Hartz-Proteste spielten eine entscheidende Rolle bei der Neugründung der Linkspartei. Deren Westflügel galt bis zum vergangenen Jahr als Partei der Arbeitslosen und Prekären. Dann kamen die Wahlerfolge und die Aussicht auf Regierungsbeteiligungen – seitdem strebt die »Linke« ganz unverschämt in die gesellschaftliche Mitte und versucht vor allem, Einfluss auf die Gewerkschaften zu gewinnen. Da bleibt für den radikalen Flügel der Partei, eben die Prekarisierten und Erwerbslosen, immer weniger Platz.
Warum also sollten sich diese Leute an einem politischen Spektakel beteiligen, in dem sie im Moment bloß als Manövriermasse bzw. Bildmotiv für die Medien herhalten können? Zumal die Anti-Hartz-Bewegung längst nicht mehr die Stärke besitzt, autonom auftreten zu können, wie das noch vor fünf, sechs Jahren der Fall war – zu viele ihrer Aktivisten haben sich in die Linkspartei verstrickt, und viele Hartz-Bezieher verlegen sich aufs Durchwursteln. Wer noch in Erwerbsloseninitiativen tätig ist, lässt die Finger von der vermeintlich »großen Politik« und verlegt sich auf das Stören des Betriebsablaufs: Die Ämter müssen belagert, die Staatsangestellten genervt und die Antragsteller in ihrem alltäglichen Kleinkrieg unterstützt werden. Diese Aktionen laufen unter dem Motto »Zahltag«, und sie können in einer Großstadt wie Köln durchaus Erfolge vorweisen. Es gibt nichts zu beschönigen, die Reorganisation des Protestes wird vorerst nur von kleinen Gruppen geleistet. Aber bloß weil die »Zahltag«-Aktionen nicht von den Medien verwurstet werden (auch um kein Vorbild zur Nachahmung zu schaffen), heißt das noch nicht, es würde keinen Widerstand mehr geben.

Viele Protestformen sind ohnehin kaum sichtbar, da sie individuell stattfinden und als Verwaltungsvorgang verbucht werden. Da stöhnt zum Beispiel das Berliner Sozialgericht, dass zwei Drittel aller neuen Verfahren Hartz IV betreffen, allein 2009 gab es in Berlin 27 000 Verfahren vor dem Sozialgericht wegen Hartz IV. Klagen gegen Hartz IV werden mittlerweile von einigen Erwerbslosen-Initiativen als wirkungsvollstes Mittel angepriesen, um die Elendsverwaltung aus dem Tritt und an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu bringen.
Das wiederum zeitigt seine Effekte in der großen Politik: In dem Drama um Guido Westerwelle und seine Widersacher verkörpern die Hartz-Bezieher den unsichtbaren oder abwesenden Dritten: Er greift nicht in die Handlung ein, aber er ist Gegenstand aller politischen Berechnungen der auftretenden Streithansel. Denn er könnte ja eingreifen, und greift vielleicht auch schon ein, ohne sich dessen in jeder Hinsicht bewusst zu sein. Genau davor hat die große Politik Angst – dass die abwesenden Dritten unkontrolliert und ausschließlich zu ihren Bedingungen die Szenerie aufmischen. Also wird das Spektakel umso schriller aufgeführt, in der Hoffnung, dass die, um die es die ganze Zeit geht, darüber nicht zum Nachdenken kommen. In der Regel geht die Rechnung der Politik auf. Ein Naturgesetz ist das aber nicht.