Die Debatte um die Entschädigung von Heimkindern

Am Tisch mit den Schmuddelkindern

Die strukturelle Gewalt und die Ausbeutung in den Heimen der frühen Bundes­republik können nicht mehr geleugnet werden. Eine finanzielle Entschädigung verweigern die Vertreter von Staat und Kirche jedoch. Etwas mehr Hoffnung besteht für die Missbrauchsopfer aus den Schulen und Internaten der Katholischen Kirche.

Man bedauere zutiefst die damaligen Mängel in der Heimerziehung und müsse anerkennen, dass vielen jungen Menschen Leid und Unrecht widerfahren sei, verkündete der »Runde Tisch Heim­erziehung in den fünfziger und sechziger Jahren« ganz salbungsvoll in seinem im Januar veröffentlichen Zwischenbericht.
Was das Gremium, das der Bundestag erst auf vermehrten Druck einiger Opfer hin eingerichtet hat, nun nach gut einjähriger Arbeit verkündet, ist allerdings nicht Neues mehr. Von 1945 bis in die siebziger Jahre waren in Westdeutschland etwa 800 000 Kinder und Jugendliche in ungefähr 3 000 Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen eingesperrt. Überwiegend wurden die Einrichtungen von den kirchlichen Trägern Caritas und Diakonie geführt. Die Betroffenen hatten kaum Kontakt zur Außenwelt, waren vielfach entwürdigenden Strafen und Demütigungen durch Erzieher und andere Jugendliche ausgesetzt, sexuelle Übergriffe waren keine Ausnahme. In zahlreichen Heimen machten sich auswärtige Unternehmen die Arbeitskraft der Insassen zunutze, der Großteil des Lohnes ging dabei an die Heime. Eingewiesen wurde, wer in den Augen der Behörden »verwahrlost« war. Dies traf etwa uneheliche Kinder, Jugendliche mit »auffälligem Sexualleben« oder aber auch schlicht Jungs mit langen Haaren.

Mehr als die Anerkennung dieser unbestrittenen Fakten hat der Zwischenbericht des Runden Tisches allerdings nicht zu bieten. Stattdessen wird die Kritik an der damaligen Heimerziehung sogleich relativiert, denn diese würde zwar aus heutiger Sicht skandalös erscheinen, hätte jedoch damals den allgemeinen gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen entsprochen. Die sexuelle Gewalt in den Anstalten wird nur am Rande thematisiert.
Eine Regelung der finanziellen Entschädigung bleibt vorerst ausgespart. Darüber solle erst später gesprochen werden. Als »Hinhaltetaktik« bezeichnet das Monika Tschapek-Güntner, die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), im Gespräch mit der Jungle World: »Offenbar wollen die Vertreter des Staates und der Kirchen uns am Schluss ein Entschädigungsmodell präsentieren, über das im Vorfeld nie öffentlich diskutiert wurde und das bestimmt nicht geeignet sein wird, um das erlittene Unrecht zu kompensieren.« Der VEH fordert Entschädigungen in Höhe von 25 Milliarden Euro. Bei etwa einer halben Million noch lebender Opfer würde dies 50 000 Euro für jeden Betroffenen bedeuten. Ein ähnlicher Betrag wurde bereits den ehemaligen Heimkindern in Irland und Kanada zugesprochen. Daneben fordert der Verein eine verbesserte Behandlung der Traumata, unter denen viele ehemalige Heimkinder heute noch leiden.
Mit all dem ist jedoch derzeit nicht zu rechnen. Der Runde Tisch diskutierte bislang nur einmal kurz über den Vorschlag, die ehemaligen Heimkinder nach dem Vorbild des NS-Zwangsarbeiterentschädigungsfonds für ihre geleistete Arbeit zu entschädigen. Dieser im Jahr 2000 beschlossene Fonds sah für ehemalige Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus eine eher symbolische Zahlung von durchschnittlich knapp 3 000 Euro vor, die zudem an die Voraussetzung geknüpft war, auf jegliche darüber hinausgehenden Rechtsansprüche zu verzichten.

Am Runden Tisch hofft man nun offensichtlich, die Heimkinder ebenso günstig abspeisen zu können, und begründet dies damit, dass deren Entschädigung schließlich »in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen, die andere Opfergruppen in der deutschen Geschichte erhalten haben«, stehen müsse. Tschapek-Günter hält diesen Vorschlag denn auch für absurd: »Wenn in der Vergangenheit Opfergruppen nicht angemessen entschädigt wurden, so darf dies doch nicht als Legitimation dafür gelten, dass nun auch die Heimkinder nicht angemessen entschädigt werden sollen!«
Der Rechtsanwalt Michael Witti, der bereits die Interessen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter vertrat und nun die Anwälte des VEH berät, hält die Einrichtung eines solchen Fonds im Grunde genommen für eine gute Idee. »Der Zwangsarbei­terfonds darf aber keinesfalls alleine den Maßstab für die Heimkinder bilden und damit deren Leistungen begrenzen«, so Witti gegenüber der Jungle World. Über den Fonds, auch darüber, ob es ihn überhaupt geben wird, ist noch längst nicht das letzte Wort gesprochen. Im Übrigen vermeidet der Zwischenbericht bislang, konkret von »Zwangsarbeit« oder »Menschenrechtsverletzungen« in den Heimen zu reden. Diese Begriffe nämlich könnten einen rechtlichen Anspruch auf Entschädigung begründen. Stattdessen wird schlicht darauf verwiesen, dass das geltende Recht nicht weiterhelfe: Die Rentenversicherung sei mangels Beitragszahlungen nicht zuständig, für Entschädigungen nach dem Opferentschädigungsgesetz ­lägen die Ereignisse zu weit zurück, und einschlägige Straftaten nach dem Strafgesetzbuch seien auch verjährt.
Zwar sieht Witti durchaus Möglichkeiten, einzelne Ansprüche der Opfer auf juristischem Wege durchzusetzen, schränkt aber ein: »Dies wäre mit aufwendigen und langwierigen Verfahren verbunden.« Den Rechtsweg behalte man sich deshalb nur für den Fall vor, dass am Runden Tisch keine angemessenen Lösungen gefunden werden. Denn eigentlich sei das Thema in einem solchen Gremium besser aufgehoben.

Dieser Ansicht ist auch die Vorsitzende des Runden Tisches, Antje Vollmer, die deshalb großspurig von einer »kleinen Wahrheitskommission« spricht. Sie lobt das »Wir-Gefühl« in der Runde und ist erfreut, dass der Zwischenbericht im Konsens mit allen Beteiligten entstanden sei. Dies mag angesichts der Kritik des VEH verwundern. Mit am Tisch sitzen zwar auch drei ehemalige Heimkinder. Diese sind jedoch wegen ihres wenig beharrlichen Vorgehens unter den Mitgliedern des VEH sehr umstritten und stehen mit diesen auch kaum mehr in Kontakt. Als der Verein stattdessen seine anwaltlichen Berater an den Tisch entsenden wollte, wurde ihm dies von Vollmer und später vom Landgericht Berlin verwehrt. Da die Sitzungen zudem unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, erfahren die meisten Betroffenen nichts von dem, was über sie besprochen wird. Tschapek-Güntner hält dies für politisches Kalkül von Vollmer: »An einer wirklichen Vertretung der Heimkinder war sie nie interessiert. Weil wir wohl zu rabiate Forderungen gestellt haben, wurde der VEH schließlich von ihr ins politische Abseits gestellt.«
Weitere Mitglieder des Runden Tisches sind neben zwei Wissenschaftlern insgesamt 15 Vertreter von Staat und Kirche, darunter allein sieben Mitglieder aus dem »Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge«. An diesem sind auch die damals hauptverantwortlichen »Täterverbände«, Caritas und Diakonie, beteiligt. Die staatlichen und kirchlichen Verbände haben freilich ungleich erfahrenere Vertreter mit juristischem Sachverstand entsandt.
So entsteht der Eindruck, dass der Runde Tisch vor allem Harmonie und Versöhnung suggerieren und öffentlichkeitswirksam einen Schlussstrich unter die Geschichte der Heimkinder ziehen will, ohne jedoch eine annähernd befriedigende Lösung für die Opfer zu erreichen. »So, wie der Runde Tisch zusammengesetzt ist und arbeitet, können wir jedenfalls nicht viel erwarten«, sagt daher Tschapek-Güntner. Der VEH will dennoch weiter kämpfen und hofft, mit einer Demonstration am Donnerstag dieser Woche das Thema nochmals stärker in die Öffentlichkeit tragen zu können. Am gleichen Tag findet auch eine Sitzung des Runden Tisches in Berlin statt. Jedoch werden wohl nur wenige Opfer auf die Straße gehen. Viele andere trauen sich weiterhin nicht, ihre Vergangenheit offenzulegen, wie Tschapek-Güntner berichtet: »Viele der Opfer von damals stehen noch im Berufsleben und wollen sich nicht outen. Denn als Heimkind bleibt man weiterhin stigmatisiert, nachdem einem jahrelang eingetrichtert wurde, dass man an all dem selbst schuld sei. ›Bist du nicht brav, dann kommst du ins Heim!‹ hieß es ja damals immer.«

Für die Opfer sexueller Übergriffe in den Schulen und Internaten der katholischen Kirche besteht im Vergleich zu den ehemaligen Heimkindern zumindest etwas mehr Hoffnung auf eine Rehabilitierung. Jedenfalls wird darüber weitaus mehr diskutiert. Es ist ein schwacher Trost, dass den Missbrauchsopfern aus den Kollegien des Jesuiten­ordens nach Bekanntwerden der ersten Fälle im Januar Entschädigungszahlungen zumindest in Aussicht gestellt wurden.
Dieses Ungleichgewicht in der öffentlichen Debatte mag auch damit zusammenhängen, dass die personalisierte Skandalisierung einzelner Kirchenleute sehr viel medienwirksamer ist als die umfassende Auseinandersetzung mit den menschenverachtenden Strukturen der Heimerziehung. Auch fällt die Entschädigung der vergleichsweise wenigen bekannten Fälle finanziell für die Kirche viel geringer ins Gewicht als die vom VEH geforderten Milliardenzahlungen. Vor allem aber zählen viele der Opfer aus den katholischen Internaten heutzutage zur Mittelschicht oder auch zum Establishment der Gesellschaft und finden daher besser Gehör als die zahlreichen Opfer der Heime. Diese waren durch den ständigen Arbeitszwang vielfach an einer vernünftigen Schulausbildung gehindert, mussten nach dem Heimaufenthalt teilweise erst einmal Lesen und Schreiben lernen und gehören größtenteils nach wie vor zu den Subalternen der Gesellschaft. Für Tschapek-Güntner spiegelt sich daher in der gegenwärtigen Diskussion der Status wider, der den Heimkindern von Beginn an vermittelt wurde: »Es sieht so aus, als seien wir weiterhin die Schmuddelkinder.«