Eine Debatte über Meinungsfreiheit in Frankreich

Die üblichen Verdächtigungen

Die Äußerungen des Journalisten Eric Zemmour über einen Zusamenhang zwischen Kriminalität und Abstammung haben in Frankreich eine neue Debatte um die Grenzen der Meinungsfreiheit ausgelöst.

Wie weit darf die freie Meinungsäußerung gehen? Und was fällt darunter? Diese Fragen beschäftigen derzeit Frankreich und seine Medien. Entzündet hat sich der Konflikt an den Äußerungen von Eric Zemmour. Der Journalist gehört zu den bekanntesten Stimmen Frankreichs. Eigentlich kommt er von der Printpresse, arbeitete für Le Quotidien de Paris und Le Figaro, war in den vergangenen Jahren aber vor allem im öffentlich-rechtlichen Sender France 2 sowie beim Privatsender RTL präsent. Als Talkshow-Dauergast mit der Aufgabe, die anderen Gäste zu provozieren, oder als politischer Kommentator im Frühstücksfernsehen wurde »Z wie Zemmour« zur Institution.
Politisch ist Zemmour ein französischer Nationalist der der EU-kritischen Sorte, der sich in bonapartistischer Tradition sieht, wie er in seinem gerade publizierten Buch »Mélancholie française« ausführlich darlegt. Darin schildert er Aufstieg und Niedergang des französischen Nationalstaats. Frankreichs historische Mission sei es, so führte er bei einem Fernsehauftritt aus, eine »beherrschende Stellung« in dem geografischen Raum von Köln und dem Rheinland über Paris bis nach Norditalien einzunehmen. Ganz in diesem Sinne plädierte Zemmour für eine Teilung Belgiens, das als Staat längst nur noch ein Kunstgebilde sei, und schlug eine Annäherung des französischsprachigen Südens an Frankreich vor. Zemmour, der Feministinnen und Gewerkschaften hasst, interpretiert die aktuelle Situation Frankreichs mit Hilfe historischer Schablonen, gerne aus der Zeit der Monarchie oder der Napoleon-Ära. So erklärte er, die französischen Protestanten hätten im 16. Jahrhundert einen eigenen Staat im Staat bilden wollen und seien aus diesem Grund niedergeschlagen worden. Heute strebten die Muslime z.B. im migrantisch geprägten Pariser Trabantenstadtbezirk Seine-Saint-Denis Ähnliches an. So drohten längerfristig »ein Bürgerkrieg« und »Blutvergießen«, wie er in Anspielung auf das Schicksal der Hugenotten warnte.
Am 6. März war er gleich doppelt präsent, am Vormittag im Fernsehsender France O, der sich vor allem an Karibik- und »Überseefranzosen« richtet, und am Abend in einer der Talkshows, die er ständig besucht. Beide Sendungen waren vor der Ausstrahlung aufgezeichnet worden. Eric Zemmour ist ein Vielredner, dessen Äußerungen zumeist am Publikum vorbeirauschen. Dieses Mal aber riefen sie eine Welle der Empörung hervor. Auf France O äußerte er sich zum Thema Diskriminierung, einem seiner Lieblingsthemen, denn er ist der Auffassung, Anti-Diskriminierungsregelungen seien Unfug und belästigten nur die Unternehmen. »Diskriminierung ist das Leben, man wählt eben aus«, verkündete er. Er führte dies nicht näher aus. Aber der Sinn, der hinter seinen Auslassungen steckt, erinnert an jenes Argument, das Jean-Marie Le Pen in den neunziger Jahren bekannt machte: Wenn jemand heirate und sich für einen Partner – und damit gegen zahllose andere mögliche Partner – entscheide, dann könne sich auch niemand wegen Diskriminierung beschweren. Und was »das Leben« und die familiären Beziehungen ausmache, so erklärte Le Pen damals, lasse sich auch auf die Gesellschaft übertragen.
Am Abend dann fielen die umstrittenen Aussagen, mit denen Zemmour das ethnic profiling bei Polizeikontrollen rechtfertigte. Auf die Feststellung des Theaterregisseurs Bernard Murat, der erklärt hatte: »Wenn die Polizei dich 17 Mal am Tag kontrollieren würde, würde sich das auch auf deine Persönlichkeit auswirken«, entgegnete Zemmour: »Franzosen migrantischer Herkunft werden einfach deshalb mehr kontrolliert, weil ein Großteil der Rauschgifthändler Araber oder Schwarze sind.« Eric Zemmour müsste es besser wissen, denn ein paar seiner Verwandten flogen in den neunziger Jahren als Finanziers im Drogengeschäft auf.
In der Woche darauf standen bei den Antirassismusvereinigungen die Telefone nicht mehr still. Drei Verbände, der MRAP, SOS Racisme und die Licra, kündigten Strafanzeigen gegen Eric Zemmour an. Die eher bürgerlich-liberale Licra (Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus) zog ihre Anzeige jedoch nach einem »Entschuldigungsbrief« von Zemmour inzwischen zurück. Statt sich zu entschuldigen, hat der Journalist sich freilich eher zu rechtfertigen versucht. So führt er in dem ­Schreiben aus, Diskriminierungsbekämpfung sei ein »gefährliches Konzept«, das zu »Denunzierung« und zu »Verantwortungslosigkeit« im Erwerbsleben führe. Die Licra hat ihm inzwischen mit einem Offenen Brief geantwortet. Ende Juni wird das Gericht über die Strafanträge der anderen beiden NGO entscheiden. Der MRAP (Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft) hat zudem gemeinsam mit dem Verband schwarzer Franzosen CRAN vor einem Fernsehstudio, in dem eine Talkshow mit Eric Zemmour aufgezeichnet wurde, demons­triert. Die Kundgebung stand unter dem Motto: »Meinungsfreiheit ja, Hetze nein.«
Bei der konservativen Tageszeitung Le Figaro drohte Zemmour zur selben Zeit die Kündigung, wie ihr Chefredakteur Etienne Mougeotte öffentlich erklärte. Der eigentliche Grund dafür dürfte jedoch in einem ganz anderen Streit zu suchen sein. Chefredakteur Mougeotte vertritt eine wirtschaftsliberale und EU-freundliche Rechte, während Zemmour für eine bonapartistische Linie steht. Die ideologischen Differenzen der beiden sind schon seit längerem bekannt. Ausgesprochen wurde die angedrohte Kündigung dann allerdings nicht. Beobachter vermuten, es habe zahlreiche Fürsprecher gegeben. So sollen nicht wenige Leser mit der Abo-Kündigung gedroht haben, sollte der Journalist entlassen werden. Die meist gut informierte rechtsextreme Wochenzeitung Minute behauptet ferner, Berater von Nicolas Sarkozy hätten bei Mougeotte mit den Worten interveniert: »Bist du verrückt?«
Kaum dass sich die Debatte um Zemmour ein wenig beruhigte, entbrannte an anderer Stelle ein neuer Streit. Am 22. März, also unmittelbar nach den französischen Regionalparlamentswahlen, hatte der bekannte linke Kommentator Stéphane Guillon zugeschlagen. Der Satiriker kommentierte den erneuten Aufstieg der extremen Rechten, nachdem der Front National in den Stichwahlen in zwölf Regionen durchschnittlich fast 18 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Er bezeichnete Eric Besson, Minister für Einwanderung und nationale Identität, als den »besten Agenten Jean-Marie Le Pens in der Regierung«, weil er die »Debatte über die nationale Identität« initiiert hatte, die rassistischen Positionen ein Forum bot. Kritiker sehen einen Zusammenhang der Debatte mit dem Wiederaufstieg der extremen Rechten.
Guillon fügte scherzhafte Bemerkungen über den Werdegang des »Verräters« Besson hinzu. Der Minister war erst vor knapp drei Jahren mitten im Wahlkampf von der Sozialdemokratie zu den Konservativen übergelaufen, nachdem er zuvor noch die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal beraten hatte, und wird seitdem gerne als Verräter bezeichnet. Als Guillon über »seine Wieselaugen und sein fliehendes Kinn« spottete, nannten dies damals viele bürgerliche Politiker einen »Skandal«. Im Namen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Radio France sprach Direktor Jean-Luc Hees dem Minister in der Öffentlichkeit seine »Entschuldigung« aus. Dies brachte wiederum Satiriker wie den bekannten Humoristen Guy Bedos, der sich über das Pardon des Direktors erbost zeigte, auf die Palme.
Nun wird für Juni, wenn die jährliche Programmliste der Sendeanstalt neu erstellt wird, vielfach erwartet, dass Guillon entlassen wird. Besonders delikat ist, dass seit wenigen Monaten Philippe Val als Programmdirektor amtiert. Er ist der frühere Chefredakteur der einst antiautoritären und heute eher linksliberalen Satirezeitung Charlie Hebdo, die bei Angriffen auf Minister wie Eric Besson nicht unbedingt als zartbesaitet gilt. Aber als ehemaliger Chef einer Zeitung mit Anarcho-Ruf muss Val sich in seiner neuen Position gerade »vernünftig«, moderat und loyal zeigen. Daher wird mit Spannung erwartet, wie er im Fall Stéphane Guillons entscheiden wird. Zumal der Satiriker sich schon bei früheren Gelegenheiten engagiert gezeigt hatte. Mit politischen Angriffen auf Präsident Nicolas Sarkozy sparte er nicht. Und Einwanderungsminister Besson hätte zu Jahresanfang beinahe Straf­anzeige gegen ihn erstattet. Damals hatte Guillon Bessons Ausspruch von den »grauen Ehen« – bei denen der ausländische Partner den »einheimischen« über seine Gefühle täusche, um an Aufenthaltspapiere zu kommen –, unter Hinweis auf die Liaison des Ministers mit einer 22jährigen Tunesierin sarkastisch kommentiert: »Eric, da es in deinem Alter weder an deiner Schönheit noch an deiner Energie liegen kann, solltest du dir selbst ein paar Fragen stellen, nicht wahr?«
Viele Medien verhandelten beide Affären zusammen. Kulturminister Frédéric Mitterrand nutzte die Gelegenheit, um sowohl Eric Zemmour als auch Stéphane Guillon verbal abzustrafen und die »Geschmacklosigkeit« und Grenzüberschreitung beider Männer zu tadeln. Andere Kommentatoren sahen die Diktatur der »politischen Korrektheit« heraufziehen, das links­nationalistische Wochenmagazin Marianne erklärte Eric Zemmour und Stéphane Guillon zu Opfern einer »Hexenjagd«.
Auf seinem Blog bei Marianne meldete sich der Pariser Oberstaatsanwalt Philippe Bilger zu Wort. Auch er verteidigte die Meinungsfreiheit, der in Frankreich so schrecklich mitgespielt werde. Der Mann ist ein politischer Aktivist, der in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen systematisch für die jeweils reaktionärste Position Partei ergriffen hat.
Aber es sollte noch schlimmer kommen: Die extreme Rechte meldete sich zu Wort und verwies auf die jeweilige Herkunft und Abstammung der Diskussionsteilnehmer.
Eric Zemmour ist ein Franzose nordafrikanisch-jüdischer Abstammung. Das Verhältnis der extremen Rechten – der er historisch nicht zugehört, die ihn jedoch zur Zeit in ihrer Mehrheit vehement verteidigt – zu ihm ist gespalten. Einerseits ist diese Herkunft für einen Gutteil der extremen Rechten, vor allem für ihre kolonial geprägten Fraktionen, eine positive Referenz: In dem von Frankreich kolonisierten Nordafrika war den einheimischen Juden Algeriens im Jahr 1870, im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung aus muslimischen Arabern und Berbern, die französische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Dies diente auch dem Versuch, die angestammte Einwohnerschaft des Landes zu spalten. Neben den Christen wurden die Juden als Teil der Elite in der Kolonialgesellschaft betrachtet, beide sollten gegen die – vor der Unabhängigkeit von 1962 besonders unterdrückte – muslimische Bevölkerungsmehrheit zusammen stehen. Im Sinne des postkolonialen Gedächtnisses der Rechten sind nordafrikanische Juden deshalb eine besonders mit dem Empire, dem früheren Kolonialreich, verbundene Bevölkerungsgruppe.
Anders als die vorwiegend kolonialnostalgischen Fraktionen rücken andere Strömungen innerhalb der extremen Rechten den Antisemitismus in den Vordergrund. Zu ihnen zählt der »rot-braune« Intellektuelle und Schriftsteller Alain Soral. Er nahm in den vergangenen Jahren eine mehrdeutige Haltung gegenüber Eric Zemmour ein. Als der Journalist Ende 2008 im Fernsehen von der »Existenz von Rassen« – er präzisierte damals: einer »weißen« und einer »schwarzen« menschlichen Rasse – gesprochen hatte, begrüßte Soral dies lautstark, ähnlich wie die gesamte extreme Rechte, die Eric Zemmour damals ihre Unterstützung erklärte. Allerdings präzisierte Soral damals im Unterschied zu ­anderen ihrer Protagonisten, auch: »Zemmour zählt zu einer Bevölkerungsgruppe, die sich gut beschützt und die es sich deswegen leisten kann, so etwas zu sagen. Ich bin also froh, wenn er die (ideologische; B.S.) Arbeit an unserer Stelle macht.«
Bei den jüngsten Diskussionen hingegen setzte Soral, der sich mitunter – den Antisemitismus in den Vordergrund und den Rassismus gegen Migranten hintan rückend – auch an den Rändern der Einwanderungsbevölkerung um Einfluss bemüht, auf eine andere Karte. Sein Freund, der schwarze Antisemit Dieudonné M’bala M’bala, hatte auf Eric Zemmours Auslassungen über die »ethnische« Dimension von Kriminalität – Zemmour sah sie bei Schwarzen und Arabern angelegt – bereits reagiert, indem er einem Fernsehjournalisten die Replik zu Protokoll gab: »Die großen Stratfäter sind eher Juden, wie etwa Bernard Madoff«. Der amerikanische Börsenmakler Bernhard Madoff war 2008 wegen milliardenschweren Betrugs verhaftet worden.
Am Osterwochenende, während die Zemmour-Affäre einmal mehr diskutiert wurde, wurde zeitgleich bekannt, dass der Sicherheitsmann eines Geschäfts in der Pariser Vorstadt Bobigny infolge eines Streits mit Kunden getötet und seine Leiche im nahe gelegenen Kanal aufgefunden worden war. Ein Verbrechen wie viele andere auch. Die Besonderheit: Der Ermordete war Marokkaner, die fünf von der Polizei festgenommenen Täter waren junge Juden – wegen kleinerer Gewaltdelikte bekannte Rowdys. Der Totschlag hatte keinerlei politische Dimension. Manche allerdings unterstellten ihm eine politische Dimension, auch in der muslimischen Gemeinde sprachen einige wahlweise von einem »rassistischen« oder einem »zionistischen« Mord, bevor sie dies in der Mehrzahl der Fälle zurücknahmen.
Ein willkommener Anlass jedoch für einen antisemitischen Intellektuellen wie Alain Soral. Dieser zog eine Verbindung zur Zemmour-Affäre und veröffentlichte auf dem Blog seiner volksgemeinschaftlich ausgerichteten Gruppe Egalité & Réconciliation (Gleichheit und Aussöhnung) einen Eintrag unter dem Titel: »Mord in Bobigny: Der Zemmour-Effekt«. In dem Artikel wurden vor allem Videos aus den Fernsehnachrichten übernommen, die ideologische Botschaft war jedoch klar: Nun meinen die Juden in Frankreich, ihnen sei alles erlaubt.
In der breiten Öffentlichkeit kam diese Botschaft so nicht an. Aber sowohl bei der Kundgebung gegen die rassistischen Äußerungen Eric Zemmours am Karfreitag als auch bei der Pariser Trauerkundgebung für den totgeschlagenen Wachmann am Ostermontag fiel eine kleinere Gruppe von sehr energischen migrantischen, vermutlich von Dieudonné beeinflussten Frauen auf, die eine Verbindung zwischen beiden Affären zog und ungehemmt antisemitische Slogans verbreitete.
Es wäre an der Zeit, diese hetzerischen Debatten über »ethnische« Zugehörigkeit und soziale Phänomene im Zusammenhang mit »Abstammung« zu beenden.