Behindertenheime in Deutschland

Heime sind immer totale Institutionen

Immer häufiger werden Behinderte aus Kostengründen in Heimen untergebracht. Gespart wird auch an ihren Menschenrechten.

Als Erziehungseinrichtung für Kinder und Jugendlich sind Heime etwas aus der Mode gekommen, was nicht heißt, dass es sie nicht mehr gäbe und dass nicht gelegentlich auch die Debatte über die Ausweitung geschlossener Unterbringungsmöglichkeiten für Jugendliche aufflackerte. Dagegen haben Sozialpolitiker das Heim für behinderte Menschen mit einem hohen Pflege- oder Assistenzbedarf erst in den vergangenen Jahren wiederentdeckt: Zwar geht es nicht um schwarze Pädagogik und die Erziehung mit Stock und anderen Zwangsmitteln. Ein unzureichender Personalschlüssel in der Pflege kann aber gerade bei Menschen, die auch Unterstützung benötigen, wenn sie sich im Bett wenden oder den Fernsehapparat ausstellen wollen, ein vergleichbares Gewaltpotential entfalten. Wer Luftnot hat, aber erst zehn Minuten nach dem Drücken der Notfallklingel versorgt wird, wer nachts nicht aufs Klo darf, sondern um Personalressourcen zu schonen gewindelt wird und bis zum nächsten Morgen im Kot liegen muss, wird wenig Trost darin finden, dass das nicht gewollt, sondern nur unvermeidlich sein soll.
Wenn ein stationäres Angebot zumutbar, die ambulante Versorgung aber unverhältnismäßig viel teurer ist, darf der Sozialhilfeträger nach dem Paragraf 13 SGB XII das stationäre Modell verordnen. Was zumutbar ist, entscheidet der Sozialhilfeträger selbst – und der schaut dafür erstmal in seine (knapp gefüllten) Kassen. Im schwarz-grün regierten Hamburg ist es für Menschen, die eine Rund-um-die-Uhr-Assistenz benötigen, derzeit eigentlich immer zumutbar, ins Heim zu kommen. Anders lassen sich die Verfahren, die derzeit in größerer Anzahl die Sozialgerichte beschäftigen, kaum erklären. Einer 45jährigen Frau, die seit annähernd 20 Jahren in ihrem Stadtteil im gleichen Haus mit ihrer Mutter lebt, wurde die Erhöhung des Hilfebedarfs um zwei Stunden täglich zum Verhängnis. Jetzt soll sie in ein Heim am Rande der Stadt ziehen, mit dem Nahverkehr knapp eine Stunde entfernt von ihrem jetzigen Lebensumfeld. Zwei Studierende, die nach Hamburg kamen, wurden in ein angeblich besonders für Studierende geeignetes Heim geschickt – in dem derzeit kein einziger Studierender lebt und der nächstjüngere Bewohner knapp 40 Jahre alt ist. Dass Heimordnung und Studienordnung nicht besonders gut harmonieren, interessiert den sparsüchtigen Senat wenig. Warum auch: Behinderte haben keine so starke und zahlungskräftige Lobby wie die altsprachlichen und business-englisch geprägten Gymnasien, die der Bildungssenatorin gerade die Hölle heiß machen.
Auch wenn Hamburg bei der Unterbringung in Pflegeheimen derzeit wohl Spitzenreiter ist, gibt es doch ernstzunehmende Konkurrenz von anderen Bundesländern. Dass Behindertenheime als akzeptable, weil kostengünstigere Lösung zu einem selbstbestimmten Leben mit ambulanter Versorgung gelten, zeigt, dass die Grundlagen der Heimkritik nicht verstanden worden sind. Heime sind zwangsläufig Einrichtungen, in denen Menschen fremdbestimmt werden. Gerade wenn sie wirtschaftlich arbeiten müssen oder ein bestimmtes pädagogisches Ziel erreichen wollen, bestimmt die Heimordnung stärker als die individuellen Wünsche der Betroffenen den Alltag. Heime sind für deren Bewohner totale Institutionen: Neben und außerhalb von ihnen gibt es für sie keinen Raum. Selbst wenn die Heime auch Eingliederungshilfe betreiben, ermöglichen sie nicht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sondern allenfalls zwei Arztbesuche im Monat oder einen etwas ausgedehnteren Spaziergang mit Kaffeehaus-Besuch. Das führt nicht zu Integration oder gar Inklusion, sondern dient höchstens der Anschauung: Seht, so leben die, die dazugehören.
Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und als Gesetz beschlossen. Es ist kein Zufall, dass diese Konvention, die die Menschenrechte auf Behinderte anwendet, es untersagt, Menschen nur wegen ihrer Behinderung in ein Heim zu zwingen. In den Gerichtsverfahren, die deswegen derzeit vor den Sozialgerichten laufen, argumentieren die Sozialleistungsträger gerne mit den hohen Kosten der ambulanten Versorgung bei »Extremfällen«. Das bedeutet, die Einhaltung von Menschenrechten unter Kostenvorbehalt zu stellen.