Kritik an der Formel formulieren!

Die Ablehnung des Extremismusansatzes ist notwendig, um Nazismus nicht als Randphänomen erscheinen zu lassen und um eine auf die gesamte Gesellschaft gerichtete Kritik formulieren zu können.

Zehn Jahre »Aufstand der Anständigen« bieten Anlass, nach dem Zustand der Antifa zu fragen. Der seit damals häufig wiederholte Satz, die Nazis kämen aus der Mitte der Gesellschaft, steht symbolisch für den Anspruch, sich nicht allein auf Nazis zu fixieren. Doch dieser Satz verkam zur Phrase, denn in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit, auf staatlichen Ebenen aber auch bei Antifa-Gruppen, wird das Denken und Handeln von den Begriffen des Extremismusansatzes dominiert. Nur durch einen politischen Zugang, der den Extremismusansatz aufgibt, wird der Blick auf die diskriminierenden Einstellungen und Strukturen in der gesamten Gesellschaft gerichtet und die Möglichkeit einer über das Bestehende hinausweisenden linken Politik bewahrt.

Der Extremismusformel zufolge besteht die Gesellschaft aus einer bürgerlichen Mitte, die vom linken und rechten Rand bedroht wird. Die vorgenommene Parallelisierung von Linken und Rechten verharmlost nicht nur die von Nazis ausgehende Bedrohung, sondern verunmöglicht auch eine adäquate Analyse des Nazi-Problems.
Auch wenn mehrheitlich Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft ihre explizite Gegnerschaft zu den Nazis äußern, geht ihnen, wenn das Nazi-Problem zu einem Rand­phä­nomen erklärt wird, der Blick auf seine gesellschaftlichen Grundlagen verloren. Weder findet eine konsequente Auseinandersetzung mit den in weiten Teilen der Bevölkerung verbreiteten Ansichten und Ideologien wie Rassismus, Homophobie, völkischer Nationalismus und autoritäre Hierarchie- und Ordnungsvorstellungen statt. Noch werden gesellschaftliche Strukturen, die zur Verfestigung dieser Ungleichwertigkeitsideologien führen, beispielsweise die restriktiven Aufenthaltsbestimmungen für Asylsuchende oder das immer noch auf biologistischen Abstammungskategorien basierende deutsche Staatsbürgerschaftsrecht, kritisch thematisiert.

Zum Auftakt dieser Diskussionsreihe hat Mario Möller (Jungle World 13/2010) die ideologische Schnittmenge zwischen Nazis und Mehrheitsgesellschaft negiert. Im selben Text schreibt er, dass die Gesellschaft »immer noch die (…) – wenngleich postnazistische – deutsche Volksgemeinschaft« ist. Wie das aus dem Nationalsozialismus hervorgegangene Deutschland einerseits immer noch Volksgemeinschaft und andererseits nicht von Ungleichwertigkeitsideologien durchdrungen sein soll, bleibt sein Geheimnis. In dem er davon ausgeht, dass es nur noch »marginalisierte nazistische Trachtenvereine« gibt, die konträr zur deutschen Normalität stehen, offenbart er ein merkwürdiges Verständnis von Gesellschaft, in der Nazis quasi vom Himmel fallen.
Möller steht mit seiner Meinung, dass Antinazi-Politik überflüssig ist, nicht allein da. Ein Teil der sogenannten Postantideutschen sieht Deutschland vom Rassismus geheilt und versteht das Naziproblem maximal als ein reines Ostphänomen. Dies widerspricht allerdings sowohl den staatlichen als auch den nicht-staatlichen Statistiken, die für den Westen Hunderte von nazistischen Übergriffen dokumentieren.
Darüber hinaus machen sich Möller und andere mit ihrer Konzentration auf Gewaltdelikte von Nazis mit der Problemsicht von Verfassungsschutz und anderen Vertreterinnen und Vertretern der Extremismusformel gemein. Rassismus wird als eine Art Betriebsunfall in einer ansonsten modernisierten und freiheitlichen Gesellschaft interpretiert. Wer Rassismus als Herrschaftsverhältnis und gesellschaftliches Ordnungssystem analysiert, kommt jedoch zu anderen Ergebnissen. Die Lebensrealität rassistisch markierter Menschen ist auch in Westdeutschland oft von Diskriminierungen geprägt: So genannte verdachtsunabhängige Polizeikontrollen zum Beispiel zielen in Bereichen wie Bahnhöfen oder Innenstädten überwiegend auf die Feststellung von Residenzpflichtverletzungen. Auch wenn es stimmt, dass die heutigen Verhältnisse nicht mehr mit der Situation in den neunziger Jahren zu vergleichen ist, darf man nicht vergessen, dass liberale und postnazistische Kräfte miteinander ringen. Die viel beschworene Liberalisierung Deutschlands wird aber mehr von einem Teil der politischen Elite verkörpert, als dass sie grundlegend in der Bevölkerung verankert wäre.
In der breiten Öffentlichkeit findet das Extremismusschema Anerkennung, weil es den Nexus zwischen Nazis und Mehrheitsgesellschaft zu verdecken hilft und gleichzeitig eine scheinbar klare Gliederung der Gesellschaft suggeriert. Mittels der Konstruktion »Mitte versus Links- und Rechtsextremismus« wird eine Unterteilung in demokratisch und undemokratisch, also sagbare und unsagbare politische Positionen vorgenommen. Eine inhaltliche Füllung der Begriffe Links oder Rechts bleibt aus. Ohne die Inhalte auf den Grad an Freiheit und Gleichheit zu überprüfen, werden emanzipatorische und menschenverachtende Positionen auf eine Stufe gestellt.
Die Extremismusformel korreliert hier mit einem staatsfetischistischem Demokratieverständnis: Politisches Handeln drückt sich demnach vorrangig durch die Wahrnehmung des Wahlrechts aus und spielt sich damit vor allem in den Institutionen und vorgegebenen Bahnen des Staates ab. Somit werden die Spielräume für Protest und politische Selbstermächtigung klar begrenzt. Als am 13. Februar Tausende Menschen den größten europäischen Naziaufmarsch erstmalig durch Blockaden verhinderten, beurteilte Eckhardt Jesse, einer der prominentesten Vertreter der Extremismusthese, dies als »eine Niederlage für den Rechtsstaat«. Damit hätten sich die Protestierenden »über Recht und Gesetz hinweg gesetzt«, denn wenn Gerichte die Demonstration genehmigten, müsste die Ausführung auch gewährleistet werden. Im Extremismusmodell wird selbst ziviler Ungehorsam als der Demokratie zuwiderlaufend interpretiert.
In diesem Bestreben, den Status quo abzusichern, und in ihrem Grundmuster sind sich die Extremismusformel und die Totalitarismustheorie gleich. Während erstgenannte sich meist um gegenwärtig politisch Aktive im Inneren kümmert, ist letztgenannte auf die historischen Fälle gerichtet. Beiden Ansätzen ist gemein, dass sie den demokratischen Verfassungsstaat als antagonistische Gesellschaftsform zu Totalitarismus und Extremismus auffassen. Die Demokratie wird dabei als ideologiefrei charakterisiert. Dass aber in bürgerlichen Gesellschaften neben einer rassistischen auch eine kapitalistische Ideologie herrscht, die an die Konkurrenz als Garant für globalen Fortschritt glaubt, wird dabei übersehen. In der Intention, die bestehende Ordnung zu ­legitimieren, geht die Erklärungskraft verloren. Die Totalitarismustheorien können zwar formale Analogien hinsichtlich staatlicher Herrschaftstechniken und Repressionsapparate offenlegen, doch Erklärungen über historische Prozesse und Dynamiken, soziale Träger, ökonomische und ideologische Triebkräfte sucht man vergeblich.

Infolgedessen ist die Ablehnung dieser Theorien nicht, wie Sebastian Voigt in seinem Disko-Beitrag (14/2010) behauptet, »eine reflexhafte Abwehr der Linken«. Es ist eine politische Konsequenz, aufgrund der instrumentellen Funktion der Totalitarismustheorien diese zu verwerfen. Das meint nicht, dass man Stalinismus und Nationalsozialismus nicht miteinander vergleichen kann. Aber nur, weil man mit dem Wort totalitär Elemente der Herrschaft beider Verbrechensregime beschreiben kann, muss man dafür nicht auf die Totalitarismustheorien zurückgreifen. Auch Adorno hat auf die »totalitären Tendenzen der gesellschaftlichen Ordnung« in der hochkapitalistischen Gesellschaft verwiesen, ohne gleich zum Totalitarismustheoretiker zu avancieren.
Doch Voigt schneidet ein wichtiges Thema an, wenn er behauptet: »Inex homogenisiert (…) die gesellschaftliche Mitte und blendet Veränderungsprozesse aus«, die er mit den Liberalisierungstendenzen in der CDU verdeutlicht. In dem Moment jedoch, wo er selbst von der Mitte spricht, verfällt er dem dichotomen Denken von Rand und Mitte und übersieht den heterogenen Charakter der Gesellschaft. Sobald man die Mitte benennen und inhaltlich bestimmen will, ist sie nicht mehr existent. Doch wenn man die Mitte-Rand-Aufteilung der Gesellschaft ablehnt und von ideologischen Überschneidungen zwischen den klassischen politischen Lagern ausgeht, schließt sich die Frage nach adäquaten Begrifflichkeiten an, das politische Spektrum zu fassen. Statt simplifizierend zu vereinheitlichen, wäre ein genauerer Blick auf Gesellschaft und die existierenden politischen Inhalte und Ziele nötig. Ein Anfang wäre gemacht, wenn man Nazis einfach als Nazis benennt. Ansonsten kann man die Leute auch einfach als das bezeichnen, was sie sind: Rassisten oder völkische Nationalisten.
Angesichts des mit der Extremismusformel verbundenen Verständnisses von Gesellschaft und Politik, das nazistische Einstellungen nicht zu bekämpfen vermag, aber politische Spielräume einschränkt, bleibt uns rätselhaft, warum nicht nur Sebastian Voigt sondern auch linke und antifaschistische Gruppen und Zeitungen wie die Jungle World oder das Antifaschistische Infoblatt die Begrifflichkeiten in dieser oder in abgewandelter Form (»extreme Rechte«) beibehalten.
Man mag es als eine nicht besonders tief greifende Politik werten, sich um Begrifflichkeiten und Diskurshoheiten zu streiten. Aber das Vokabular der Extremismusthese zu verweigern, ist nicht nur eine semantische Spielerei. Ziel ist eine antifaschistische Politik, die weder einen alleinigen Fokus auf die Nazis legt, noch diese als marginalisierte Gruppe abtut, sondern die die Gesamtgesellschaft in ihre Analysen und Praxen einschließt. Vor allem aber verkörpert das Ablehnen des Extremismusparadigmas die Negation eines Verständnisses von Gesellschaft und Politik, in dem die Selbstbestimmung des Menschen, die Notwendigkeit politischer Konflikte und ein utopisches Moment zugunsten eines staatlichen Kontrollbedürfnisses und autoritärer Ordnungsvorstellungen aufgegeben werden.

Die Autorin ist Mitglied der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (Inex).