Neukölln vs. Banlieue. »Soziale Brennpunkte« im Vergleich

Problemkiez trifft Banlieue

Was haben Neukölln und Clichy-sous-Bois gemeinsam? Außer, dass sie als »soziale Brennpunkte« gelten, ziemlich wenig, wie die Teilnehmer an einem deutsch-französischen Austauschprogramm mit Schwerpunkt Integration und Bildung feststellen mussten.

»Meine kleine Schwester hatte mehr Angst bei dem, was sie im Fernsehen sah, als in der Zeit, als wir mittendrin standen«, berichtet die 19jährige Darrière über die Ausschreitungen im Herbst 2005 im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Die Lehrer aus der Berliner Delegation hören aufmerksam zu.
Gemeinsam mit Polizisten, Richtern, Kommunalpolitikern und Sozialarbeitern aus Berlin-Neukölln sind sie nach Paris gekommen, um mit Kollegen aus der Banlieue Erfahrungen auszutauschen. Lässt sich der Alltag in Deutschlands bekanntestem »Problem-Kiez« mit der Realität in der rund 29 000 Einwohner zählenden Pariser Vorstadt überhaupt vergleichen? Aus Sicht des Deutsch-Französischen Jugendwerks und des Instituts für Migrations- und Sicherheitsstudien, die den Fachkräfteaustausch mit dem Titel »Integration, Bildung und Prävention« organisiert haben, können beide Seiten im Umgang mit »sozialen Brennpunkten« voneinander lernen. Im Jahr 2008 kamen die französischen Fachkräfte nach Neukölln, jetzt sind die Deutschen dran.

Fünf Jahre ist es her, da erfuhr die ganze Welt von Clichy-sous-Bois. Der Tod zweier Teenager maghrebinischer Abstammung, die sich im Herbst 2005 auf der Flucht vor der Polizei in einem Trafohäuschen versteckten und durch einen 20 000-Volt-Elektroschock starben, löste heftige soziale Unruhen aus, die sich von der Banlieue im Großraum Paris auf weitere Städte in Frankreich ausweiteten. Drei Wochen lang brannten Autos, und es gab heftige Zusammenstöße zwischen jungen Franzosen, überwiegend aus Einwandererfamilien, und der Polizei. Clichy-sous-Bois wurde zum Synonym für den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang der französischen, mehrheitlich von Migranten bewohnten Vorstädte.
Noch nie hatte das Leben in der Banlieue die Öffentlichkeit so beschäftigt. Obwohl sich die Lage beruhigt hat, ist Clichy-sous-Bois fünf Jahre nach den Unruhen kein befriedeter Ort. Dessen Bürgermeister, Claude Dilain, warnte im April in der Tageszeitung Le Monde, die Gewalt könne jederzeit erneut explodieren.
Darrière ist Schülerin am Lycée Alfred Nobel in Clichy-sous-Bois. Das Gebäude ist ein architektonisches Verbrechen, es sieht wie ein Bunker aus. Gesichert wird die Schule von einem Sicherheitsdienst, vor dem Eingang befindet sich ein eingezäunter Bereich mit mehreren Videokameras. Der graue Klotz beherbergt eine der Schulen, die sich mit den sozialen Problemen in Clichy-sous-Bois beschäftigen und dafür vom Staat mit einem größeren Etat an Stunden und Lehrerkräften gefördert werden.
Im Versammlungsraum findet eine Veranstaltung im Rahmen der deutsch-französischen Begegnung statt. Die Mitglieder der »AG Erziehung und Bildung« aus der Neuköllner Gruppe, die aus Lehrern und Sozialarbeitern besteht, sind gekommen, um mit Lehrern und Schülern über Integration und Bildung zu diskutieren. Die meisten der anwesenden Schüler behaupten, dass sie sich nicht wegen ihrer migrantischen Abstammung diskriminiert fühlen, und dass sie sich als Franzosen verstehen. Der 19jährige Ojk ist einer der wenigen, die eine andere Meinung haben: »Ich fühle mich nicht als Franzose. Ich bin französischer Staatsbürger, aber ich komme aus Kambodscha. In Frankreich haben Franzosen mehr Chancen.« Freimütig bekennt Ojk, dass auch er »lieber einen Franzosen als ­einen Afrikaner« einstellen würde, wenn er ein Unternehmer wäre.
Die Häuser hier sehen aus, als hätten sie schon lange vor 2005 wegen Baufälligkeit gesperrt werden müssen: verrottete, offensichtlich feuchte Hauswände, bei denen das geringste Problem noch der lose Putz ist. Zwischen den Häusern und in den demolierten Hauseingängen stapelt sich Müll. Einzelne Wohnungen sind zugemauert.
Zum Erstaunen der Besucher aus Berlin berichten die französischen Kollegen, dass viele Wohnungen in den heruntergekommenen Neubauten Eigentumswohnungen sind. Wenn diese, wie es häufig vorkommt, nicht von ihren Eigentümern bewohnt werden, werden sie oftmals noch einmal aufgeteilt und zimmerweise zu hohen Preisen vermietet, etwa an Familien, die woanders gar keine Wohnung bekommen würden, weil sie keine Papiere haben.
Abriss ist vermutlich das Sinnvollste, was mit diesen Gebäuden gemacht werden kann. Mohammed von der Bürgerinitiative AC le Feu (Genug mit dem Feuer) weist darauf hin, dass auch beim Neubau die Möglichkeit nicht genutzt wird, Arbeiter aus dem Viertel zu qualifizieren und Arbeitsplätze zu schaffen: »Die großen Firmen die Bauaufträge bekommen, bringen ihre Arbeitskräfte mit.«

Zur Gruppe »AG Prävention und Sicherheit« aus Berlin gehören Polizei- und Justizbeamte sowie Mitarbeiter der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln. Florence Adam, Polizeikommissarin der zuständigen Polizei aus Le Raincy, erklärt ihnen erst einmal die Lage.
In dem Département, zu dem Clichy-sous-Bois gehört, gibt es 129 Beamte für rund 45 000 Einwohner. Dies sei ein ähnliches Verhältnis wie in Deutschland, versichern die Berliner Polizisten ihren französichen Kollegen.
Clichy-sous-Bois allein hat rund 29 000 Einwohner, aber schon lange keine eigene Polizeistation mehr. Der Rohbau für das neu geplante Revier steht gegenüber der Lycée Alfred Nobel und soll Ende des Jahres fertig werden. Die Abwesenheit einer eigenen Polizeistation verstärkt den bei einigen Besuchern aus Neukölln ohnehin verbreiteten Eindruck, der Staat habe sich aus Clichy-sous-Bois weitgehend zurückgezogen.
Im Jahr 2002 hatte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy die police de proximité, die Nachbarschaftspolizei, abgeschafft. »Polizisten sind nicht dafür da, Sportwettbewerbe für Jugendliche zu organisieren«, erklärte er damals. Die Polizei ist jedoch nicht vollkommen abwesend hier. Polizisten aus der Umgebung führen regelmäßig Kontrollen durch, oft werden Jugendliche ohne besonderen Anlass kontrolliert und, wie viele hier meinen, einfach schikaniert.

Die Polizei ist hier auch auf andere Weise präsent. Zu finden ist sie seit 1990 in einem Jugendfreizeitheim. Das vergitterte Gebäude ist in einem relativ guten Zustand und von der Ausstattung her viel näher an dem, was die Neuköllner von ihren sozialen Projekten kennen. Leidenschaftlich berichtet Pierre Wadoux, Leiter dieser Einrichtung von der Police National, über die Arbeit mitten in der Banlieue: »Jugendliche können hier mit Sport, Kultur und Handwerken ihre Freizeit verbringen. Außerdem erreicht man über die Jugendlichen auch deren Eltern.« Das Projekt kommt bei den Bewohnern von ­Clichy-sous-Bois gut an, allerdings gibt es auch Probleme, weil das Zentrum bereits am frühen Abend schließt, lange vor der kritischen Zeit. »Eines der Probleme in Clichy-sous-Bois ist, dass selbst Kinder im Vorschulalter abends alleine auf den Straßen unterwegs sind«, sagt Pierre Wadoux.
Die Defizite in der bisherigen Polizeiarbeit sollen von der 2008 eingeführten unités territoriales de quartier (Uteq), einer Art ortskundiger Spezialeinheit, beseitigt werden. Die Uteq-Patrouillen bestehen in der Regel aus sechs bis acht Beamten, deren Aufgabe es ist, mehr »Bürgernähe« herzustellen. Ihre Methoden orientieren sich allerdings nicht an der Deeskalationsstrategie der abgeschafften Nachbarschaftspolizei, sondern eher an einem repressiveren Modell.
Die Berliner sind misstrauisch. Oder vielleicht nur neugierig. Sie stellen Fragen über die Kompetenzen und die Erkennbarkeit dieser Spezialeinheiten. Die französischen Beamten führen ein konkretes und nicht gerade seltenes Beispiel an: Wenn bei einer Drogenfahndung der Rauschgiftpolizei wieder einmal in einem Hochhaus eine Wohnungstür um sechs Uhr morgens eingetreten wurde, dann sei es Aufgabe der Uteq, den Hausbewohnern die Aktion transparent zu machen. Dabei gehe es darum, Gerüchten entgegen zu ­wirken und die Unterschiede zwischen den Polizeieinheiten klarzustellen.
Was die lokale Polizei als »Transparenz« bezeichnet, interpretiert eine Jugendrichterin aus Neukölln jedoch schlicht als Autoritätsverlust. »Der Staat fängt an, sich zu rechtfertigen und in verschiedene Bereiche aufzuspalten«, meint sie.
Außerordentlich selbstkritisch gehen die französischen Beamten auf die Defizite und die Probleme in der Polizei- und Justizarbeit ein. So seien die Gefängnisse für kurze Haftstrafen um 50 Prozent überbelegt. Eine Ausweitung des Hausarrests mit elektronischer Fußfessel auf Strafen von bisher sechs Monaten auf bis zu zwei Jahre, wie sie diskutiert wurde, sei auch nicht sinnvoll. Auch der häufige Personalwechsel bei der Polizei sei hinderlich, weil Vertrauensverhältnisse und Ortskenntnis nicht mehr genutzt werden könnten. Ein Problem, das auch im Schulbetrieb immer wieder auftauche.
Bei den gemeinsamen Diskussionsrunden und Workshops von verschiedenen Arbeitsgruppen entwickelt sich bei den Fachleuten aus Neukölln Verständnis für die Kollegen aus der Banlieue.
Doch es werden auch Unterschiede in den Herangehensweisen und im Selbstverständnis der Akteure festgestellt. Die Berliner erwarteten sachliche Diskussionen über die Effektivität verschiedener praktischer Ansätze und wollten mit den französischen Partnern beispielsweise über ihre Erfahrungen mit Instrumenten zur Integration schulferner Jugendlicher und deren Eltern diskutieren. Wichtiger für die französischen Kollegen scheint jedoch das Bedürfnis zu sein, sich auch untereinander auf ein Selbstverständnis zu einigen. Der Historiker Dr. Pascal Blanchard sieht ein zentrales Problem in Hinblick auf Integration in der mangelnden Aufarbeitung der französischen Kolonialvergangenheit. Noch vor der ersten Mittagspause landet man nicht zum letzten Mal bei der Dreyfus-Affäre.
Die deutschen Pragmatiker finden darin ebenso wenig Anknüpfungspunkte wie in den Thesen des Soziologen Dr. Michel Kokoreff. »Wir haben ein System, das nur Bürger anerkennt und Minderheiten leugnet«, fasst er vorab seine Ausführungen zusammen. Die Arbeit gegen »ethnische Diskriminierung« helfe seiner Ansicht nach auch dabei, soziale Ungerechtigkeiten zu überwinden. Wer diese Unterschiede jedoch verschweige, reproduziere sie, ohne sie zu bekämpfen. Daraufhin entwickelt sich eine Debatte darüber, ob Diskriminierung oder Rassismus das größere Problem in Frankreich sei. Die Diskussion läuft fast nur unter französischen Teilnehmern ab und zeigt den Deutschen, dass hier über etwas ganz anderes gestritten wird als in den heimischen Zirkeln.
Die sozialen Projekte sind in Berlin eher damit beschäftigt, über neue Formen des Fundraisings oder über Quartiersmanagement zu diskutieren. In Clichy-sous-Bois spielen Geschichte und Politik dagegen auch eine Rolle in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, Rassismus und gesellschaftlicher Diskriminierung. Die koloniale Vergangenheit und die innenpolitischen Verwerfungen des 19. und 20. Jahrhunderts sind in der aktuellen Debatte immer gegenwärtig. Dass dieser Ansatz bei den deutschen Besuchern eher auf Unverständnis stößt, nehmen die Franzosen allerdings gelassen hin und schieben zwischen zwei Terminen ein Kurzseminar zum Thema »Aufbau des französischen Zentralismus« ein.
Bei den Schülern der Lycée Alfred Nobel wird deutlich, dass es unter Gruppen unterschiedlicher Abstammung weniger Probleme gibt als in Berlin. »Ich fühle mich nicht hier in Clichy-sous-Bois diskriminiert, ich fühle mich diskriminiert vom Staat«, erklärt ein Schüler unter breiter Zustimmung. Auch Polizisten und Juristen weisen darauf hin, dass es zwar Bandenkriminalität gebe, diese sich aber nicht ethnisch definiere. Bei einem Spaziergang durch den Wochenmarkt von Clichy-sous-Bois fällt aber auf, dass es hier fast nur türkische und arabische Händler und Kunden gibt. Die Schwarzen kaufen woanders ein.

Wie wenig Clichy-sous-Bois trotz ähnlicher Probleme Neukölln ähnelt, wird auch bei anderen Aspekten im Laufe der vier Tage deutlich. Die deutschen und die französischen Realitäten liegen so weit auseinander, dass die französischen Teilnehmer am Austauschprogramm sogar die Vermutung äußerten, man habe ihnen in Berlin die wirklich schlimmen Ecken, die wirklichen sozialen Brennpunkten gar nicht gezeigt.
Von den Dächern in Clichy-sous-Bois kann man sogar den Eiffelturm sehen. Doch anders als in Neukölln ist das Zentrum der Metropole für viele Bewohner unerreichbar. Neuköllner Schüler erreichen ohne Probleme den Kurfürstendamm oder den Potsdamer Platz. Die Pariser Pracht-Boulevards kennen hingegen nur die wenigsten Bewohner der Banlieue. Dass dieser Vorort von Paris ein Mikrokosmos bleibt, hängt nicht nur mit fehlenden Bahnverbindungen zusammen, sondern auch mit einem Lebensgefühl, das vor allem von Hoffnungslosigkeit geprägt ist.
Auch wenn es in Zukunft bessere Verbindungen in die Stadt, mehr Polizei und weitere Projekte im sozialen und kulturellen Bereich geben wird, bleibt Clichy-sous-Bois mit den Folgen des staatlichen Versagens konfrontiert. Ob es Unfähigkeit oder vorsätzliches Versagen ist, wird auch am Erfolg der Initiativen der kommenden Jahre zu beurteilen sein. Die Teilnehmer des Austausches planen weitere gemeinsame Aktivitäten in den jeweiligen Fachbereichen. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen in allen Bereichen ist für die Bewohner von Clichy-sous-Bois eine notwendige Vorraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.