Zur Semantik des deutschen Gerechtigkeitsideals

Luxus für keinen, Ohnmacht für alle

Die vergangenes Jahr ins Grundgesetz aufgenommene »Schuldenbremse« soll für »Generationengerechtigkeit« sorgen. Aber was soll man sich unter diesen Begriffen vorstellen? Anmerkungen zur Semantik und Funktion des deutschen Gerechtigkeitsideals.

In einem Land, in dessen politischem Vokabular es Abwrackprämien, Spekulationsblasen und Wertpapiervergiftungen gibt, ist jederzeit alles möglich. Auch die Installation einer Schuldenbremse. Eine solche ist nämlich, glaubt man den fast einhelligen Verlautbarungen der einheimischen Parteienvertreter, unbedingt nötig, um auch künftig für »Generationengerechtigkeit« sorgen zu können. »Das ist ein guter Tag für die Generationengerechtigkeit«, kommentierte Bundeskanzlerin Angela Merkel die bereits im vergangenen Sommer fraktionenübergreifend beschlossene Verankerung der »Schuldenbremse« im Grundgesetz. Philipp Mißfelder, Bundesvorsitzender der Jungen Union, mahnte erst kürzlich, den »nachkommenden Generationen« dürfe von der Bundesregierung kein »Schuldenberg« hinterlassen werden. Auch Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, findet die »Schuldenbremse« eine gute Sache, weil mit ihr »ein Stück Generationengerechtigkeit« verwirklicht werde. Nur seine Kollegen vom Juso-Verband Hessen-Süd widersprechen ihm und fordern auf ihrer Facebook-Seite weiterhin trotzig »Generationengerechtigkeit statt Schuldenbremse«.

Mit der Schuldenbremse selbst verhält es sich relativ einfach. Sie ist eine im Volkshaushaltswagen eingebaute Notvorrichtung, die immer dann zur Anwendung kommen soll, wenn der vom Verschwendungsrausch getriebene Motor sich derart heißgelaufen hat, dass der Fahrer die Kontrolle über die Lenkung zu verlieren droht. In einer solchen Notlage ist er deshalb berechtigt, die Karre mittels Benutzung besagter Bremse auch ohne vorherige Rückfrage bei den übrigen Passagieren mit einem einzigen Handstreich zum Stillstand zu bringen. Wenn dabei einige Mitinsassen Verrenkungen oder Genickbrüche erleiden, ist dies bedauerlich, aber nicht zu ändern. Sollte der Fahrer selbst größere Verletzungen davontragen, stellt er damit seine heroische Risikobereitschaft unter Beweis. Carl Schmitt, der noch Taxi statt Porsche fuhr, nannte Situationen, die sofortiges politisches Eingreifen ohne Vermittlung über demokratische Instanzen verlangen, den Ausnahmezustand, heute spricht man stattdessen meist von Krisenmanagement. Gemeint ist jeweils das gleiche: Es braucht eine starke Hand, einen festen Griff und keine langwierigen Diskussionen, wenn der Sturz in den Abgrund verhindert werden soll.
Die »Generationengerechtigkeit« scheint zunächst einem völlig anderen Wortfeld anzugehören als die »Schuldenbremse«. Geht es bei ihr doch nicht um die plötzliche Unterbrechung einer Bewegung, sondern um die Herstellung von Kontinuität; nicht um Krisenmanagement, sondern um Zukunftsplanung; nicht um den Ausnahmezustand, sondern um den Normalfall. »Generationengerechtigkeit« und »Schuldenbremse« zusammenzudenken, ist ein typisch deutscher Kraftakt, der sich nicht von selbst versteht. Wer ihn begreifen will, muss die Irrationalität begreifen, die der einheimischen Angst vor dem »Schuldenmachen« zugrunde liegt. Dass »wir« über »unsere Verhältnisse« gelebt hätten und »unsere Kinder« nicht mit »unseren Schulden« belasten dürften, ist hierzulande spätestens seit der in Norbert Blüm verkörperten letzten Verfallsform der katholischen Soziallehre Konsens. Im Moment erfährt diese Nummer angesichts krisengeschüttelter Askesesehnsucht eine verschärfte Neuauflage. Schulden werden dabei nicht einmal mehr ansatzweise als ein durchaus rationales Mittel begriffen, um in Zeiten von wie auch immer bedingter Geldknappheit weiterhin den eigenen Lebensstandard halten zu können, sondern als volksgemeinschaftliche Erblast, in der sich der Fluch von Dekadenz und Hedonismus von Generation zu Generation tradiert: Je bedenkenloser »wir« heute prassen, umso sicherer müssen »unsere Enkel« später die Zeche zahlen. Je besser dagegen »wir« durch totalisierte Versagung für die Zukunft vorsorgen, desto besser wird es einmal »unseren Enkeln« gehen. Für das eigene Leben nichts, für das sei es auch nur imaginäre Leben »unserer Enkel« dagegen alles übrig zu haben, gilt in dieser Logik als die sozialverträglichste Daseinsform. Nicht nach Maßgabe ökonomischer Rationalität, sondern nach Maßgabe von protestantischer Ethik und völkischem Sippendenken wird hierzulande über Verschuldung geurteilt, die einzig und allein als Schuldzusammenhang begriffen wird. Im Gegensatz zu Schulden jedoch kann Schuld niemals getilgt, sondern höchstens gesühnt werden. Deshalb ist im deutschen Volk der Glaube fest verankert, dass Schulden in letzter Instanz nicht von den Kreditgebern, sondern immer direkt vom Jüngsten Gericht eingetrieben werden. Um das zu verhindern, ist jedes Mittel recht, auch die Vollbremsung.
Der Hass auf Individualität, der sich in dieser Logik Bahn bricht, wird evident an der Verwendung des Wortes »wir« in allen einschlägigen Politikerreden. »Wir«, das ist in Deutschland niemals die Bezeichnung für eine durch gewisse gemeinsame Interessen verbundene Gruppe einzelner Menschen, sondern das ideelle völkische Gesamt-Ich, das zumindest potentiell alle Ahnen und Nachkommen mit umfasst. Daher gilt es nicht als widersprüchlich, sondern als konsequent, von jedem Einzelnen zu fordern, sich im Hier und Jetzt nichts mehr zu gönnen, den Gürtel enger zu schnallen und sich in der Verachtung des ohnehin meist schon kärglichen eigenen Daseins zu üben, damit es »uns allen« irgendwann einmal besser gehe. Denn vom »Wir« wird in Deutschland emphatisch immer erst dann gesprochen, wenn die Ichs, die das Wort doch eigentlich zusammenfassen soll, sich längst zugunsten der kollektiven Zwangsgemeinschaft abgeschafft haben, die mit dem ethisch drapierten Begriff der »Generationengerechtigkeit« in eine fiktive Zukunft projiziert wird. Wo Ich ist, soll Wir werden – das ist der kategorische Imperativ deutscher Sozialpathologie von Bismarck bis Bisky.

An der Genese dieser Pathologie haben freilich gerade jene besonderen Anteil, die den Begriff der »Generationengerechtigkeit« nun gegen den gesetzlich verankerten Befehl zum Sparen ausspielen und der »Schuldenbremse« attestieren, sie sei »ungerecht«. Auch ihnen geht es in Wahrheit nicht um ein luxurierendes Leben in der je eigenen Gegenwart, sondern um negative Gleichheit im Namen von Askese und Verzicht. Allerdings machen sie – und das macht die Gerechtigkeitsfreunde potentiell noch gefährlicher als die Spar­apologeten – für diese Verschuldung nicht »uns alle«, sondern die jeweils anderen verantwortlich, mit Vorliebe »die Eliten«, »die Bosse« und »die Manager«. Die Versagung, die sich den Spar­aposteln zufolge nominell jeder Bürger auferlegen muss, fordern die Gerechtigkeitsfreunde in umstürzlerischem Populismus exklusiv von denen ein, die es angeblich besser haben und denen sie ein Adelsprivileg neiden, das in Wahrheit längst nicht mehr existiert. Dennoch bedienen sie mit dieser Neidbeißerei das gleiche Ressentiment gegen »Schmarotzertum«, dem auch ihre vermeintlichen Gegner im Kampf gegen Sozial­betrüger huldigen. Zu den Schädlingen, die die volksgemeinschaftliche Sozialpartnerschaft zu unterwandern drohen, kann nämlich längst tendenziell jeder gerechnet werden: die Sozialfälle, Schmarotzer und Kleinganoven, aber auch die nutzlosen Künstler und Denker, die Kranken und die Alten, die Behinderten und die Faulen, die Superreichen und die heimtückischen Betrüger, die ihre Guthaben listig ins Ausland transferieren, während deutsche Steuerzahler und Hartz IV-Empfänger dafür bluten müssen.
Die über den Begriff der »Generationengerechtigkeit« streiten und sich dabei scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, streiten in Wahrheit also nur noch über die praktischste Art der aktuellen Feindbestimmung. Versöhnt sind sie alle im Hass auf das Glück und in der fanatischen Überzeugung, dass jede Spur der Hoffnung auf ein besseres Leben im Dienst einer in sich selbst völlig inhaltsleeren, mit dem puren Zwang konvergierenden »Zukunftssicherung« aus der Gegenwart getilgt werden muss. Nicht weil sie dem Begriff der Menschenwürde Hohn sprechen, sollen sichtbare soziale Unterschiede im Namen der »Generationengerechtigkeit« neutralisiert werden, sondern weil sie immer noch an die fortbestehenden gesellschaftlichen Widersprüche und damit an die Möglichkeit von Freiheit erinnern. Jedes gesellschaftliche Privileg verlangt seine eigene Aufhebung im Namen der Menschheit, dem einzig legitimen Privileg. Der gegenwärtig virulente Gerechtigkeitswahn strebt dagegen einen apokalyptischen Zustand der Privilegienlosigkeit an, wie er von gewissen Endzeitfilmen in sozialreformerischem Größenwahn halluziniert wird: eine Welt, in der alle Menschen gleich im Angesicht des Todes und der Sinnlosigkeit sind. »Generationen­gerechtigkeit« bezeichnet in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Liquidation jeder Hoffnung auf das Neue im Namen einer Totenstarre, die Großeltern und Enkel zum Kollektiv der Hoffnungslosen zusammenschweißt. Dessen Insassen können in ihrer Ohnmacht nichts anderes mehr tun, als sich – je nach politischem Gusto – in »zivilgesellschaftlichem Engagement« oder »gegenseitiger Hilfe« möglichst eifrig an der Ver­waltung der eigenen Erbärmlichkeit beteiligen. Menschliches Glück aber wäre, ganz zu sich selbst gekommen, auch nichts anderes als Hilflosigkeit, ein Leben ohne Angst, in dem kein Mensch mehr der Hilfe bedarf. Weil sie sich eine solche Hilflosigkeit, die eins wäre mit erfülltem Leben, nicht einmal in ihren Träumen vorstellen mögen, richten sich die mehr und mehr auf den Status bloßer Gattungswesen regredierenden Menschen ihr Dasein als lückenloses Netz von Hilfsdiensten ein. Dieses Netz, das alle Menschen gleich macht, weil es alle um ihr Glück betrügt, nennt sich »Gerechtigkeit«. Mit linker Politik hat es alles, mit einem emphatischen Begriff von Freiheit immer weniger zu tun.