Über die türkische Migrationspolitik

Abgeschoben oder umgesiedelt

Als Flüchtling anerkannt zu werden, ist in der Türkei sehr schwer. Die meisten Migranten, die dort ankommen, warten jahrelang auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Informationen über ihre Akten und recht­liche Unterstützung erhalten sie kaum. Die fehlende Transparenz in der türkischen Migrationspolitik erschwert auch die Arbeit von NGO, die Migranten unterstützen.

»Bonjour, what’s up, arkadas?« Der Call-Shop »Arbil«* ist nur einer von vielen auf der Hauptstraße im Istanbuler Stadtteil Kurtulus. Mit Markern beschriftete A4-Zettel bewerben billige Telefontarife für den Irak, den Iran, Afghanistan, Turkmenistan, Nigeria, Armenien oder die Mongolei. Der junge Mann hinter der Theke grinst. »Sorry, I don’t speak German yet.«
Zaya* kommt aus der nordirakischen Stadt Mossul und wartet seit über anderthalb Jahren in Istanbul darauf, als Flüchtling anerkannt und in ein Drittland umgesiedelt zu werden. Als assyrischer Christ wurde er in seiner Herkunftsstadt verfolgt, zweimal wurden Bombenanschläge auf seine Schule, dreimal auf die Kirche seiner Gemeinde verübt. Seine Familie entschloss sich schließlich, das Land zu verlassen. Ein Recht auf Asyl in der Türkei hat er nicht.
Die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das Zusatzprotokoll von 1967 unterschrieben. Trotzdem bleibt es weltweit das einzige Land, das an einer Klausel festhält, wonach nur Flüchtlingen aus europäischen Ländern Asyl gewährt wird. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Flüchtlinge, die die Türkei erreichen und die vor allem aus dem Irak, Iran, Afghanistan und Somalia stammen, hier nur so lange geduldet werden, bis das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) sie in Drittländer umsiedelt, meist auch Kanada, Aus­tralien oder in dieUSA. 2008 waren beim UNHCR in Ankara 18 209 Asylanträge in Bearbeitung, und nach Angaben des Kommissariats werden in diesem Jahr 10 500 neue Anträge erwartet. Die Zahl der Migranten und Flüchtlinge ohne geregelten Aufenthaltsstatus, die sich zurzeit in der Türkei aufhalten, ist unklar. Dabei handelt es sich unter anderem um Arbeitsmigranten aus benachbarten Staaten wie Armenien, Georgien, Moldawien, Aserbaidschan und der Ukraine. Das türkische Innenministerium gibt an, im Jahr 2008 rund 50 800 Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus festgenommen zu haben.

Zaya und seine Familie sind im Besitz des begehrten Dokuments, das ihnen den offiziellen Flüchtlingsstatus zusichert und wegen des fluoreszierenden Siegels unter den irakischen Flüchtlingen Fosforiyay genannt wird. Aber seit 15 Monaten warten sie auf einen Interviewtermin mit der aus­tralischen Einwanderungsbehörde. Flüchtlinge haben in der Türkei kaum Möglichkeiten, die Auswahl des Drittlandes zu beeinflussen. Obwohl Zayas älterer Bruder seit mehreren Jahren in Australien lebt, dort verheiratet ist und die Staatsbürgerschaft hat, sollte die Familie in die USA umgesiedelt werden. »Aber wir kennen dort niemanden«, sagt Zaya. »Meine Mutter hat protestiert, sie will nicht nach Amerika, sondern zu ihrem ältesten Sohn nach Australien.« Ihre Akten wurden von der amerikanischen Einwanderungsbehörde zurück zum UNHCR geschickt, noch ist unklar, ob und wann die Familie den ersehnten Anruf von der australischen Botschaft erhält.
Tritt der seltene Fall ein, dass ein Asylantrag an eine europäische Behörde weitergeleitet wird, werden Flüchtlinge oft überhaupt nicht darüber informiert, und es kann vorkommen, dass sie sich im Fall einer Aufnahme unverhofft in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien wiederfinden.
Die langen Wartezeiten und fehlenden Möglichkeiten, sich über den Stand des eigenen Asylverfahrens zu informieren, nagen bei vielen an den Nerven. Handys werden nie ausgeschaltet und kaum aus der Hand gelegt aus Angst, einen wichtigen Anruf zu verpassen. Auch Sami* verbringt den Großteil seiner arbeitsfreien Zeit im Internetcafé. Er telefoniert mit seiner Frau Rana und seinen beiden kleinen Kindern, die seit zehn Monaten im US-Bundesstaat Michigan auf ihn warten. Sami, der zusammen mit seiner Familie aus Bagdad in die Türkei kam, weiß nicht, warum man ihn von seiner Familie getrennt hat, noch immer wartet er auf seinen Interviewtermin mit den amerikanischen Behörden. Eine von einem Asylverfahren unabhängige Familienzusammenführung könne bis zu fünf Jahren dauern, so hat man ihn informiert. »Ich weiß nicht, wen ich noch fragen soll. Ich werde verrückt. Jeden Abend ruft mein Sohn an und weint. Er fragt, wann ich endlich nachkomme.«
John* kommt aus Nigeria und erwartet keinen Anruf. »Ich bin nicht als Flüchtling hier. Ich bin gekommen, um Fußball zu spielen, um mir als Fußballspieler in einem der großen türkischen Teams einen Namen zu machen. Aber es ist so schwierig, hier Fuß zu fassen.« Er trainiert zweimal in der Woche mit anderen jungen Männern aus Nigeria, Somalia und dem Sudan auf einem Fußballplatz in der Nähe. Für junge Männer wie ihn, die ohne ihre Familie oft auf illegalem Weg in die Türkei einreisen, ist es noch schwieriger, den Lebensunterhalt zu bestreiten und eine Bleibe zu finden.
Ashur* kommt aus Bagdad und kam 1997 mit seiner Familie nach Istanbul. 1999 stellte er einen Asylantrag beim UNHCR, der jedoch abgelehnt wurde. Mittlerweile hat er vier Kinder. In den Irak kann und will er nicht zurück: »Ich habe dort alles aufgegeben. Ich habe vier Kinder, drei davon sind in der Türkei geboren. Bagdad ist immer noch kein sicherer Ort für eine Familie. In der Türkei habe ich keine Aussicht auf ein legales Bleiberecht, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Jetzt überlegt er, ob er auf illegalem Weg nach Europa einreisen sollte – ein unter Umständen lebensgefährliches Unternehmen.

Irem Arf von der Menschenrechtsorganisation Helsinki Citizen’s Assembly (HCA), die vor allem juristische Hilfe für Flüchtlinge und Migranten anbietet, erklärt: »Leider wird die Umsiedlung in ein Drittland nicht als Recht, sondern als eine Art Hilfe betrachtet, die jedes Land nach Lust und Laune bereitstellt.« Die Kriterien für eine mögliche Umsiedlung können aus diesem Grund je nach Aufnahmeland stark variieren. So behalten sich die USA zum Beispiel das Recht vor, Asylbewerber wegen früheren Drogengebrauchs oder Sexarbeit abzulehnen, und schließen damit eine Gruppe potentiell gefährdeter und schutzbedürftiger Flüchtlinge von vornherein von einer Aufnahme aus. Irem Arf fährt fort: »Weil bei diesem Interviewprozess keine deutlichen Richtlinien und keine klaren Kriterien existieren, ist es schwer, Entscheidungen als ›ungerecht‹ anzufechten.«
Fehlende Transparenz ist ein großes Problem für Flüchtlinge und NGO. Organisationen wie HCA werden von Entscheidungsprozessen oft ausgeschlossen, bei drohenden Abschiebungen werden ihren Mitarbeitern nötige Informationen verweigert. Trotz heftiger Kritik betreibt die Türkei weiterhin illegale Abschiebungen, bei denen Flüchtlinge mit vorgehaltener Waffe gezwungen werden, die Grenze zu einem Nachbarstaat, meist dem Iran oder dem Irak, zu überqueren. Auf öffentlichen Druck hat die Türkei zumindest die »Gästehäuser für Ausländer« – die in Wirklichkeit nichts anderes sind als abgeschottete Gebäude, in denen Flüchtlinge oft monatelang inhaftiert werden, ohne dass ihnen rechtliche Hilfe angeboten wird – im März umbenannt. Jetzt heißen sie einfach Abschiebezentren.

Den Job im Internetcafé hat Zaya seit elf Monaten, vorher betreute er die arabische Website eines türkischen Reiseunternehmens. »Es ist nicht einfach, hier eine Arbeit zu finden. Schon wegen der Sprache, mein Türkisch ist nicht besonders.« Englisch spricht er mit einem leichten amerika­nischen Akzent, den er sich in Mosul angeeignet hat: »Dort habe ich Amerikanern die Haare geschnitten.« Mit seinem jetzigen Chef, einem Türken aus Hatay, spricht er Arabisch.
Um die Zwei-Zimmer-Wohnung zu finanzieren, die er sich mit seiner Mutter, seinen beiden Schwestern Sozan* und Dina* und seinem Cousin Nino* teilt, arbeitet Zaya sieben Tage die Woche, oft bis nach Mitternacht. Er verdient 600 Lira, aber allein die Kaltmiete beläuft sich auf 550 Lira im Monat. Um für Rechnungen, Essen und alle anderen Ausgaben aufzukommen, repariert er nachts Laptops. Sozan schneidet anderen Frauen, meist Nachbarinnen oder Frauen aus der irakischen Gemeinde, gegen kleine Beträge die Haare oder zupft ihnen die Augenbrauen.
Der finanzielle Druck, der auf den Flüchtlingen lastet, ist groß. Bis auf einige wenige Ausnahmen erhalten sie keinerlei Unterstützung bei Miet- und Unterhaltsausgaben, medizinischer Versorgung oder administrativen Kosten. Nino arbeitet bis zu 60 Stunden die Woche für ein irakisch-türkisches Textilunternehmen. Er verdient nur 500 Lira im Monat. Wütend kehrt er die leeren Taschen seiner Hose nach außen. »Wie soll ich mit 500 Lira Essen, Kleidung, Rechnungen, Transport und das alles bezahlen? Es ist unmöglich, davon zu leben!« Auf dem ohnehin oft prekären türkischen Arbeitsmarkt verdienen Flüchtlinge deutlich weniger als ihre türkischen Kollegen, und wegen der fehlenden Arbeitserlaubnis haben sie keinen Anspruch auf soziale Absicherungen.
Flüchtlinge können für anfallende Arzt- und Krankenhauskosten nur in seltenen Härtefällen beim UNHCR oder bei Hilfsorganisationen wie der Caritas Zuzahlungen beantragen, und auch dann kann davon nur ein Bruchteil der entstehenden Kosten gedeckt werden. In Kurtulus, wird uns gesagt, ersetze der Apotheker Savas Asyali oft den Arzt. In der Türkei ist es nicht ungewöhnlich, vor allem bei kleineren gesundheitlichen Problemen die Arztkosten zu umgehen und sich die Medikamente direkt in der Apotheke zu besorgen. Für viele der im Viertel lebenden Flüchtlinge ist Asyalis Apotheke zu einer hilfreichen Anlaufstelle geworden. »Ich habe von den Leuten hier ein paar Brocken Arabisch gelernt«, sagt Asyali. »Die meisten haben Probleme mit dem Herzen, verlangen Schmerzmittel oder Fiebermittel für die Kinder. Ich versuche, ihnen irgendwie zu helfen, gebe ihnen die kostenlosen Proben, die ich von Pharmaunternehmen bekomme, oder ich verkaufe die Medikamente zum Einkaufspreis.«

Die lange Wartezeit bis zum Ausgang des Asylverfahrens verschärft die finanziellen Schwierigkeiten. Falls eine Familie auf Erspartes zurückgreifen kann, sind diese Mittel meist schnell aufgebraucht. Prekäre und schlecht bezahlte Arbeit ist für viele die einzige Möglichkeit, zumindest ein wenig Geld zu verdienen. Da die Türkei die Flüchtlinge nicht offiziell als solche anerkennt, ihnen aber in Absprache mit dem UNHCR ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsrecht zusichert, haben sie wie alle in der Türkei gemeldeten Ausländer theoretisch das Recht, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Der damit verbundene ­finanzielle und administrative Aufwand ist dabei für einen Manager eines internationalen Konzerns und einen Flüchtling aus Afghanistan ungefähr derselbe. Die meisten Flüchtlinge scheitern bereits an den Kosten der nötigen Aufenthaltsgenehmigung.
Alle volljährigen nicht-europäischen Flüchtlinge müssen beim UNHCR, aber auch bei den türkischen Behörden ein »temporäres Asyl« und eine kostenpflichtige Aufenthaltsgenehmigung beantragen, die alle sechs Monate erneuert werden muss. Ohne Aufenthaltsgenehmigung haben Flüchtlinge gar keine Möglichkeit, von der ohnehin spärlichen Unterstützung zu profitieren, die der türkische Staat anbietet, die Kinder können zum Beispiel in keiner Schule angemeldet werden. Im Fall von Zayas Familie kann der geforderte Betrag, der sich zurzeit auf ungefähr 500 Dollar pro Person und pro Jahr beläuft, schnell auf mehrere tausend Dollar anwachsen. Nur sehr wenige können sich bei den derzeitigen Wartezeiten im Land durchgängig eine Aufenthaltsgenehmigung leisten. Aber der Verstoß gegen diese Regelung wird mit hohen Geldstrafen geahndet. Theoretisch haben Flüchtlinge türkischen Asylgesetzen zufolge das Recht, eine Erlassung der Gebühren zu beantragen, aber die wenigsten wissen davon, und in der Praxis wird kaum einem der Anträge stattgegeben.

Und was passiert, wenn man diesen Betrag nicht bezahlen kann? Zaya lacht. »Dann muss man hier bleiben.« Er erzählt von einem Freund, der nach Genehmigung seines Visums zwei Flüge in die USA verpasst hat, weil er das Geld für die ausstehende Aufenthaltsgenehmigung (und das entsprechende Bußgeld) auch im Nachhinein lange nicht hatte aufbringen können. Denn sobald ein Flüchtling das Visum des Drittlandes erhält, muss er, um die Türkei verlassen zu können, ein sogenanntes Exit Paper bei den türkischen Behörden beantragen, und auch das gibt es nur bei Vorlage der Aufenthaltsgenehmigung.
Während des Aufenthalts in der Türkei werden Flüchtlinge von Behörden auf eine von 30 sogenannten Satellitenstädten in Zentral- und Ostanatolien verteilt, Genehmigungen für einen Wohnsitz in Istanbul oder Ankara gibt es nur in Ausnahmefällen. Zaya und seine Familie müssten deshalb bis zur endgültigen Entscheidung in Afyon, Nino muss allein in Bilecik wohnen. Der Residenzpflicht in Deutschland nicht unähnlich, müssen sich registrierte Flüchtlinge mindestens einmal in der Woche auf der Polizeiwache »ihrer« Satellitenstadt melden und eine Unterschrift leisten. Bei Zuwiderhandlungen drohen Geldstrafen und im schlimmsten Fall sogar die Abschiebung. Es besteht die Möglichkeit, um eine formelle Erlaubnis zu bitten, die Stadt aus administrativen oder medizinischen Gründen und für maximal 15 Tage zu verlassen, wenn entsprechende Belege vorgewiesen werden können.
Viele Flüchtlinge ziehen es jedoch vor, in Istanbul zu leben, wo familiäre oder andere solidarische Netzwerke existieren und wo es Arbeit gibt. »Ich war erst einmal in Afyon, für zwei Tage«, sagt Zaya, »dort können wir nicht wohnen, wie soll ich dort Geld verdienen?« In Istanbul kann die Familie die Kirche besuchen, Freunde wohnen hier, die Caritas betreibt eine Schule für Kinder und Erwachsene, wo man Sport machen und an Englischkursen teilnehmen kann.
Nino zeigt auf die Tätowierung eines christlichen Kreuzes, das fast seinen gesamten Oberarm bedeckt: »In Istanbul habe ich damit meist keine Probleme, aber in Bilecik könnte ich das Kreuz nicht offen tragen, weil es sonst zu Streit mit Anwohnern kommt.« Zaya bestätigt, dass viele seiner Freunde aus dem Irak oder Nigeria sich nicht trauen, in konservativen anatolischen Städten wie Kayseri oder Sivas Kreuzanhänger zu tragen. Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern und homosexuelle Flüchtlinge sehen sich dort immer wieder verbalen und gewalttätigen Angriffen und Diskriminierung ausgesetzt.
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben die Türkei wiederholt gedrängt, diese räumliche Beschränkung aufzuheben und Flüchtlingen aus nichteuropäischen Ländern Asyl zu gewähren. Ein nationaler Aktionsplan über Migration und Asyl, der 2005 verabschiedet wurde, sieht vor, dass die Beschränkung bis 2012 abgeschafft wird. Die Annäherung an EU-Richtlinien in der Asyl-und Migrationspolitik schließt auch den Bau von Ausreise- und Empfangszentren ein. Irem Arf bemängelt fehlende Transparenz bei der Planung dieser Zentren und befürchtet, dass Menschenrechtsorganisationen und Anwälten der Zugang zu Flüchtlingen so nur noch weiter erschwert und schnelle Abschiebungen erleichtert werden. Der Festung Europa eilt kein guter Ruf voraus.

* Namen von der Redaktion geändert