Die Krawalle in Belfast und der nordirische Friedensprozess

Alarmstufe Orange

Nach den Ausschreitungen in Belfast wähnen manche Beobachter den nordirischen Friedensprozess in Gefahr. Andere glauben, dass gelangweilte Jugendliche nur Spaß haben wollten.

»In diesem Jahr war es schlimmer als sonst«, sagte der nordirische Premierminister Brian Cowen. Bei Ausschreitungen an zwei aufeinander­folgende Wochenenden waren in Belfast fast hundert Polizisten verletzt worden, unter anderem mit Schusswaffen. Die Härte der Auseinandersetzungen hat Erinnerungen an die konfliktreiche Vergangenheit Nordirlands wachgerufen.
Jährlich veranstalten die Mitglieder der protestantischen Orden Paraden am 12. Juli. Sie feiern damit den Sieg Wilhelms III. von Oranien über den katholischen Jakob II. vor 320 Jahren. Da die Routen der Paraden durch katholische Stadtviertel verlaufen, haben die Märsche immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt. In den Augen vieler Katholiken sind die Paraden eine Provokation, denn mit ihnen feiern die Protestanten ihre Vorherrschaft in Nordirland.
Seit dem Abschluss eines Friedensabkommens im Jahr 1998 hatten die Paraden an politischer Brisanz verloren. Zuletzt versuchte die Regionalregierung in Belfast sogar, sie als touristische Attraktion zu vermarkten und damit zu entpolitisieren. Zur Organisation der Paraden hatten protestantische und republikanische Parteien außerdem im Hillsborough-Abkommen, das im Februar verabschiedet wurde, eine gemeinsame Politik beschlossen. Demnach sollten alle Betroffenen frühzeitig Absprachen treffen, um Auseinandersetzungen zu verhindern. Diese Strategie der Befriedung dürfte vorerst gescheitert sein.

Die diesjährigen Auseinandersetzungen begannen nach Protesten katholischer Bewohner aus dem Westen Belfasts gegen den Marsch des Oranier-Ordens vor zwei Wochen. Nach Sitzblockaden, die von der Polizei beendet wurden, kam es im Umfeld der Paraden zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen katholischen Demonstranten und Polizeikräften. Die Protestierenden warfen Steine und Molotow-Cocktails, mehrmals wurde im Laufe der Auseinandersetzungen auch auf Polizisten geschossen. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Räumpanzer ein, außerdem feuerte sie Plastikgeschosse auf die Protestierenden. Am heftigsten waren die Ausschreitungen im katholischen Stadtteil Ardoyne im Norden Belfasts. In drei aufeinanderfolgenden Nächten wurden dort in der vergangenen Woche sechs Polizisten angeschossen.
Der stellvertretende Premierminister Nordirlands, Martin McGuinness von der katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein, verurteilte die Gewalt der Demonstranten. Wie auch die nordirische Polizei macht er radikale Nationalisten für die Ausschreitungen verantwortlich. In Nordirland gibt es eine Reihe von paramilitärischen republikanischen Gruppen, die sich von der IRA abgespalten haben, als diese in Friedensverhandlungen einwilligte und schließlich 2005 dem bewaffneten Kampf abschwor. Die Ausschreitungen seien inszeniert worden, um den Friedenprozess zu unterminieren, sagte McGuinness. Dies werde allerdings nicht gelingen: »Die Menschen in den Stadtvierteln wollen Frieden.«
Auch der britische Premierminister David Cameron verurteilte die Gewalt. Erst vor einem Monat hat er vor dem Parlament in Westminister die Ergebnisse der sogenannten Saville-Kommission präsentiert, die den »Bloody Sunday« untersucht hatte. An diesem Tag, dem 30. Januar 1972, waren 14 katholische Demonstranten von britischen Soldaten erschossen worden.

Die Demonstranten waren unbewaffnet, stellte der Saville-Report fest und kritisierte das Militär sowie die damalige politische Führung scharf. Jahrzehntelang hatte das britische Militär behauptet, man habe sich gegen bewaffnete IRA-Kommandos verteidigt. Die nordirische Justiz wird nun möglicherweise gegen die involvierten Militärs ermitteln. Premierminister Cameron entschuldigte sich im Namen des britischen Staates bei den Angehörigen der Opfer. Dies wurde als ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung des Friedensprozesses angesehen.
Im Hinblick auf die Ausschreitungen in den vergangenen Wochen lobte Cameron die Polizei für ihr »besonnenes« Vorgehen. In Nordirland gab es derweil aber auch Kritik an der Strategie der Sicherheitskräfte. Diese hätten nicht hart genug durchgegriffen, sagte der Vater einer Polizistin, die während der Auseinandersetzungen schwer verletzt worden war, als Protestierende von einem Dach eine Betonplatte auf sie warfen. »Es hätte mehr Verhaftungen geben müssen«, beschwerte sich der Mann. Die Polizeiführung entgegnete, dass Festnahmen während der Ausschreitungen die Gefahr für die Polisten erhöht hätten. Man werde in den nächsten Tagen Videoaufnahmen auswerten. Keiner der Straftäter solle sich sicher fühlen, erklärte die Polizei.
Der Hintergrund der Krawalle bleibt umstritten. Einige sehen den Friedensprozess als unmittelbar bedroht an, denn die Konflikte stehen im Zusammenhang mit einem erneuten Aufkeimen des republikanischen Terrors. Die Continuity IRA, eine der republikanischen Gruppen, die den Friedensprozess ablehnen, tötete im März 2009 einen nordirischen Polizisten und erklärte sich verantwortlich für mehrere Bombenanschläge. Eine andere Gruppe, die Real IRA, erschoss im vergangenen Jahr zwei britische Soldaten in einer Kaserne in der Provinz Antrim. Im April ließ sie eine Bombe vor dem Belfaster Büro des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 detonieren.

Während auf den Straßen Belfasts gekämpft wurde, fand die Polizei auch mehrere Bomben, unter anderem eine Sprengfalle in der Provinz Armagh. Die Gewaltbereitschaft der republikanischen Splittergruppen ist unbestritten, und die Auseinandersetzungen zeigen, dass sie durchaus in der Lage sind, Unterstützung in den katholischen Communities zu mobilisieren.
Stadtteile wie Ardoyne, der Brennpunkt der Krawalle, gehören zu den Armenvierteln Nordirlands. Selbst vor der Wirtschaftskrise, die Nordirland besonders hart getroffen hat, gab es in diesem Stadtteil keine »Friedensdividende«. Fast 25 Prozent der Männer in Ardoyne sind arbeitslos, und außer der Emigration gibt es für junge Erwachsene hier kaum Perspektiven.
Ähnlich verhält es sich in den Bezirken der protestantischen Arbeiterklasse. Auch hier hat in den vergangenen Jahren die Gewalt zugenommen, allerdings richtet sie sich nicht so sehr gegen katholische Iren oder die Polizei. Angegriffen werden vor allem Immigranten, vor einem Jahr sind Brandanschläge auf rumänische Familien verübt worden (Jungle World 27/09). Rassistische Überfälle finden weiterhin regelmäßig in vielen protestantischen Stadteilen statt. Die nordirische Polizei vermutet, dass rechtsextreme Gruppen mit wachsendem Erfolg versuchen, arme Protestanten für sich zu gewinnen.
Doch nicht alle Beobachter glauben, dass Armut die Krawalle ausgelöst hat. Einem katholischen Priester zufolge ist schlichte Langeweile das Motiv für die ritualisierte Gewalt. Father Gary Donegan sagte, Bezirke wie Ardoyne würden sich als Freizeitpark für Straßenschlachten eignen. Er habe 12jährigen Kindern während der Ausschreitungen Wurfgeschosse aus der Hand genommen. In Belfast sprechen einige Beobachter von ­recreational violence, von Gewalt als Freizeitspaß.