Feministische Paradoxa in der Debatte um das Burkaverbot

Der unfreie Wille

Die Diskussion um muslimische Bekleidungsgesetze gehorcht dem Volksglauben an die individuelle Autonomie als Natur­eigenschaft.

In der feministischen Theoriebildung der achtziger Jahre spielte der Terminus »collusion« eine wichtige Rolle. Er bezeichnete ein für jeden emphatischen Freiheitsbegriff entscheidendes Paradoxon: dass es jedem Menschen möglich ist, die eigene Unfreiheit zu wollen. Die Tatsache, dass unzählige Frauen die ihnen vom besseren Teil der Frauenbewegung zugemutete Autonomie – nicht etwa als Exemplare der Gattung Frau, sondern als weibliche Individuen frei zu sein – überhaupt nicht erlangen wollten, sondern ihre Vorstellung von Freiheit im Dasein als Mutter und Hausfrau verwirklicht sahen, war mit der Emanzipationsrhetorik des Feminismus noch nie zu vereinbaren. Musste man, wenn man den freien Willen hoch veranschlagte, dem Willen dieser Frauen, sich in ihrer relativen Unfreiheit einzurichten, nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen? Und wie konnte man sie von der Bedeutung ihrer »eigentlichen« Freiheit überzeugen, ohne in moralische Überheblichkeit zu verfallen?
Die Frauenbewegung hat sich diesem Dilemma dadurch entzogen, dass ihr »Emanzipation« mehr und mehr zum Verwaltungsakt geworden ist, mittels dessen die »Gleichstellung« von Frauen in parzellierten Lebensbereichen sichergestellt werden sollte. »Frei« war dann eben, wer formell die Möglichkeit hatte, sich von traditionellen Rollenmodellen zu befreien. Ein ähnlicher Pseudoliberalismus bestimmt auch die Diskussion um Burka- und Kopftuchverbote, ohne dass die früher unter dem Schlagwort »collusion« behandelte Problematik noch in den Blick käme: Die Verbotsgegner berufen sich auf den in einer Demokratie vorausgesetzten »freien Willen« jeder Bürgerin, sich für oder gegen ein bestimmtes Kleidungsstück zu entscheiden, und bringen diesen gegen staatliche Verbote in Anschlag. Die Befürworter führen ins Feld, dass eine solche Entscheidung eine Wahlfreiheit voraussetze, die von der in Frage stehenden Bekleidung negiert werde, so dass diese aus dem öffentlichen Raum verbannt werden müsse. Darauf antworten die Gegner, nur die Frauen selbst könnten sich »befreien«; sie per Dekret von ihrem Zwangsverband freisetzen zu wollen, sei Paternalismus.
Eine Antwort auf diesen Streit bestände in dem Hinweis, dass die meisten von der Verbotsdiskussion betroffenen Frauen nicht einmal in das als »collusion« umschriebene Dilemma geraten können: Wenn Frauen sich formell zwischen Erwerbsarbeit und Hausfrauenrolle entscheiden können und das »traditionelle« Rollenmodell wählen, mag das eine Entscheidung für eine bestimmte Form von Unfreiheit sein, es bleibt die Wahl einer spezifischen Rolle. Burkaträgerinnen aber kennen meist weder die Erfahrung der Wahl noch die Erfahrung der Rolle, weil beide jenseits des ihnen zugestandenen Handlungsspielraums liegen, der allererst überschritten werden muss, damit diese Erfahrung gemacht werden kann. Individuelle Freiheit ist entgegen einem verbreiteten Volksglauben eben keine Natureigenschaft, die lediglich gesetzlich geschützt werden muss, sondern selbst ein Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe und zivilisatorischer Prozesse. Wenn die Kämpfe zum Erliegen kommen und die Zivilisation sich selbst verachtet, tritt an die Stelle der Verteidigung individueller Freiheit der Fetischismus »kultureller« Freiheiten, die stets das Ende jener besiegeln.