Über Blogger, Leserbriefschreiber und Journalisten

Kontrollverlust im Blogger-Dorf

Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen, warnte Heinrich Heine. Was aber gilt, wenn aus guten Gründen ein Blog gelöscht wird?

Wer in einer Kleinstadt mit eigener Tageszeitung aufgewachsen ist, kennt das Phänomen des Leserbriefschreibers besonders gut. In aller Regel männlich, füllte bereits ein einziges Exemplar dieser inzwischen aussterbenden, aber nicht besonders schützenswerten Gattung ohne Probleme viermal in der Woche die entsprechende Rubrik mit seiner Meinung zu irgendeinem am Vortag erschienenen Artikel. Und die ließ sich, egal um welches Thema es gerade ging, relativ leicht zusammenfassen: CDU toll, SPD doof.
In aller Regel wohnen allerdings selbst in ganz kleinen Kleinstädten mindestens zwei leidenschaftliche Leserbriefschreiber, mit, ganz wichtig, völlig konträren Ansichten über die Welt, das Leben und die CDU. Und so kann man davon ausgehen, dass das, was im Internet heute Flamewar heißt, in Wirklichkeit von zwei engagierten Frührentnern und Abonnenten irgendeines Blattes namens Winzigdorfer Anzeiger oder Kleinstädtischer Bote erfunden wurde, die sich selbst für die absoluten Experten und den anderen für einen doofen Nixwisser hielten.
Was das alles mit Bloggern zu tun hat? Nichts, und doch ganz viel.
Abgesehen von der Größe des Egos unterscheiden sich Blogger unter anderem durch die Sachkundigkeit, mit der sie ihre Themen präsentieren. Die coolsten Blogs sind in aller Regel die, in denen Leute sich mit ihrem eigenem Hobby vom Sammeln und kunstgerechten Befüllen japanischer Bento-Lunchboxen bis hin zur Dokumentation von internationalen Plastikstuhl-Fotos beschäftigen oder das Gebiet, in dem sie meistens auch arbeiten, so aufbereiten, dass es für Laien verständlich wird.
Viele jedoch, und darunter sind durchaus recht bekannte, wären noch vor zehn Jahren statt Blogger notorische Leserbriefschreiber geworden, denn sie haben zu allem und jedem eine Meinung.
Und diese Blogger bilden eine ganz besonders unangenehme Unterart der Spezies: Berauscht vom eigenen Erfolg, also guten Klickzahlen, wähnen sie sich allen Ernstes als investigative Journalisten. Dabei haben sie meist nichts anderes getan, als bei Spiegel online oder ähnlichen Internetsektionen bekannter Publikationen irgendeinen Artikel zu lesen und sofort ein Posting dazu zu verfassen, in dem sie ihre Sicht der häufig nicht einmal komplett verstandenen Dinge darstellen. Ergänze: sehr schnell darstellen, denn um gute Besucherzahlen zu erzielen, ist es notwendig, die Themen, die bei den großen Nachrichtenmagazinen ganz vorne stehen, so aufzubereiten, dass die Newsjunkies sie innerhalb der kurzen Zeit, in der sie die Schlagzeilen beherrschen, bei ihnen auch lesen können. Dass sie ohne die Arbeit der richtigen Journalisten auch nichts hätten, worüber sie eine Meinung haben könnten, hindert sie selbstverständlich nicht daran, die traditionellen Medien zu verachten.
Die Leichtigkeit, mit der diese Gemischtwaren-Blogger durch die verschiedensten Themen hopsen und heute zu Fragen der Gentechnik, morgen zur Steuerpolitik und übermorgen zu Personalentscheidungen großer Unternehmen Stellung nehmen, ist frappierend – zumal sie im immergleichen Wichtig-wichtig-Duktus schreiben, der impliziert, dass sie absolute Experten auf dem jeweiligen Gebiet seien. Und falls mal jemand feststellt, dass sie sich komplett geirrt haben oder einer Falschmeldung aufgesessen sind und großen Bullshit geschrieben haben, ist das auch egal, denn bis dahin sind ganz andere Themen zum Gegenstand der allgemeinen Aufregung geworden.
Ein gutes Beispiel dafür, wie das ist, wenn eine Sau durchs Blogger-Dorf getrieben wird, lieferte der Fall »CTRL-Verlust«.
Bereits am Mittag des 24. Juni hatte sich die Aufregung bei Twitter ins Exorbitante gesteigert, denn es war ein Fall von bösartigster Zensur bekannt geworden, wie er bis dato noch nie oder jedenfalls in dieser Woche noch nie vorgekommen war.
Die FAZ, die einige Blogger dafür bezahlt, dass sie ihr Online-Angebot bereichern, hatte einem dieser Schreiber namens mspr0 aka Michael Seemann nicht nur den Zugang zu seinem Blog gesperrt, sondern sein komplettes Weblog gleich ganz gelöscht.
Das folgende Klagen über Zensur, Willkür und ganz allgemein unerträgliche Zustände auf dem Gebiet der freien Meinungsäußerung nahmen rasch die üblichen Formen an, auch wenn einige etwas besonnenere Twitter-User beispielsweise darauf hinwiesen, dass es sich nicht um ein Politblog, sondern um eines, in dem sich Schreiber Seemann mit digitalen Themen wie dem neuen iPhone beschäftigte, handelte, und deswegen wohl eher nicht zu befürchten sei, dass hier die Mächtigen politisch Andersdenkende mundtot machen wollten.
Egal. Zensur! Willkür! Und überhaupt. Angefeuert vom Wehklagen Seemanns machte man sich daran, die FAZ zu beschimpfen und zu belästigen, verwies darauf, dass die verachteten Holzmedien wieder einmal ihre Fratze gezeigt hätten, und war sich einig, dass die traditionellen Zeitungen ohnehin alle abgeschafft gehören, weil die wahren, dort unterdrückten Nachrichten ohnehin nur in Blogs vermeldet werden und überhaupt.
Und dann griff Marius Sixtus ins Geschehen ein, einer jener Leute, die als A-Blogger gelten und als Meinungsführer des digitalen Zeitalters. Er twitterte: »Armutszeugnis: Die #FAZ zieht bei ihrem einzig guten Blog den Stecker: http://mspr0.de/?p=1468«. Und führte, vermutlich um die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs zu betonen, gleich ein neues, ziemlich begeistert aufgenommenes Hashtag ein. Es lautete: #buecherverbrennung.
Allerdings war nicht jeder Twitter-User der Meinung, dass man das Abschalten eines Blogs mit der öffentlich Verbrennung der Werke jüdischer oder politisch missliebiger Autoren durch die Nazis vergleichen sollte, zumal dieser in vielen Fällen die Ermordung der Schriftsteller folgte.
Auf diese Kritik legte Sixtus in einem weiteren Tweet nach: »Nein, liebe PCler, #Buecherverbrennung ist kein zu hartes Wort für die Vernichtung intelligenter Texte. Das passt schon. #faz #ctrl-verlust«.
Auch als sich am nächsten Tag herausstellte, dass die FAZ gute Gründe für die Abschaltung des Blogs geltend machen könnte, nahm der A-Blogger seine Äußerungen nicht zurück.
Gegenüber der Jungle World hatte der zuständige Redakteur der FAZ erklärt, dass Herr Seemann »mehrfach Fotos in sein Blog CTRL-Verlust gestellt« habe, »deren Rechteinhaber ausdrücklich die kommerzielle Nutzung untersagten«. Obwohl die FAZ-Blogger mehrfach darauf hingewiesen worden waren, »unter keinen Umständen geschützte Fotos zu veröffentlichen« – was richtig teuer werden kann –, hatte Blogger mspr0 in seinem Beitrag am 24. Juni erneut urheberrechtlich geschützte Bilder verwendet und war, nachdem die Redaktion seinen Blogbeitrag umgehend entfernt hatte, bockig geworden. Ohne Rücksprache versuchte er, seinen Text erneut zu veröffentlichen, wenn auch ohne Fotos, so dass das Blog schließlich »vorübergehend« gesperrt worden war.
Während man im wirklichen Leben spätestens an diesem Punkt schleunigst mit seinem Arbeitgeber – die FAZ bezahlt ihre Blogger dem Vernehmen nach sehr gut – ein klärendes Gespräch suchen würde, trug Seemann seine Sicht der Dinge via Privatblog gleich in die Öffentlichkeit. Oder jedenfalls in das, was manche Blogger dafür halten, nämlich Twitter und das ganze Social-media-Gedöhns. Die Überschätzung der Wirkung von Hashtags & Co. im Real life hatte sich kurz zuvor gezeigt, als man auf der Webseite piratenstatistiken.de vor der Wahl in den Niederlanden ganz sicher war, dass die holländischen Kollegen ins Parlament einziehen würden, schließlich sei deren Twitter-Account der sechstgrößte aller internationalen Freibeuter-Parteien und liege laut Umfrage auf twopcharts.com bei mehr als 25 Prozent – am Ende erhielt die Piratenpartij 10 413 Stimmen beziehungsweise 0,12 Prozent.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch der durch Seemann entfesselte Shitstorm: Den gut dotierten Job bei der FAZ ist er endgültig los.