Katalanischer Nationalismus als Antwort auf die Krise

Region bleibt Region

Nachdem das spanische Verfassungsgericht einige Artikel der katalanischen Regionalverfassung annulliert hatte, fand in Katalonien eine der größten Demonstrationen seit Ende der Franco-Diktatur statt. In der Wirtschaftskrise wird der katalanische Nationalismus stärker.

Barcelona, am 10. Juli: Über eine Million Menschen füllen die großen Straßen im Zentrum der katalanischen Hauptstadt. Wird der zu erwartende WM-Sieg der spanischen Nationalelf schon im Voraus gefeiert? Oder haben sich Linke und Arbeiter angesichts des drastischen Sparpakets der Regierung und der umstrittenen Arbeitsmarktreform nun doch organisiert und den für Ende September geplanten Generalstreik vorgezogen? Weder noch, hier geht es um das verletzte Nationalgefühl der Katalanen. Anfang des Monats annullierten die Verfassungsrichter in Madrid wichtige Punkte der bereits 2006 verabschiedeten katalanischen Regionalverfassung, des estatut. Die Antwort darauf war eine der größten Demonstrationen seit Ende der Franco-Diktatur.
Bereits während seiner Ausarbeitung vor fünf Jahren hatte der Text des estatut für große Aufregung gesorgt. Mehrfach wurde er abgeändert, bis er dann sowohl vom katalanischen als auch vom spanischen Parlament angenommen wurde. In einem anschließenden Referendum stimmten zwei Millionen Katalanen für die neue Regionalverfassung. Neben Fragen der Finanzierung ging es in der Diskussion vor allem um eine Formulierung im Vorwort des Statuts, die Katalonien als »Nation« bezeichnete. Spanische Nationalisten und Rechtskonservative widersprachen dem vehement.

Die konservative Volkspartei PP legte nach Annahme des Statuts eine Verfassungsklage gegen 114 der 223 Artikel ein. Mehrfach musste die Entscheidung darüber vertagt werden, da sich die Verfassungsrichter nicht einigen konnten. Das nun gesprochene Urteil ist eine Kompromisslösung und ist einigermaßen moderat ausgefallen. Nur 14 Artikel wurden für verfassungswidrig erklärt, bei 27 weiteren wird verlangt, dass ihre Interpretation »im Einklang mit der spanischen Verfassung« stehen müsse. Die bereits 2006 abgeschwächte Version im Vorwort, in der es nur noch hieß, »das katalanische Parlament hat Katalonien als Nation definiert«, wurde nicht als verfassungswidrig, sondern bloß als »juristisch unwirksam« bezeichnet. Als klarer Verstoß gegen die spanische Verfassung wurde hingegen das im Statut festgelegte Recht Kataloniens gewertet, eigene Steuern zu erheben. Ebenso wurden jene Artikel als verfassungswidrig verworfen, die besagten, dass bei allen Verfahren, die in Katalonien begonnen wurden, die höchste juristische Instanz beim katalanischen Obersten Gerichtshof liege.
Den Zorn der katalanischen Nationalisten hat neben der Nationenfrage vor allem die Entscheidung hervorgerufen, dass die katalanische Sprache in öffentlichen Einrichtungen nicht bevorzugten Status haben dürfe und deren Beherrschung keine juristische Verpflichtung darstelle, wie es im Statut festgeschrieben ist. Stattdessen betonte das Verfassungsgericht die offizielle Zweisprachigkeit. Als einen direkten Angriff auf die »Fundamente der Nation« und als Versuch, das »nationale Bewusstsein« auszulöschen, bewertete dies das linksnationalistische Magazin L’Accent. Die katalanischen Nationalisten, allen voran deren linke Flügel, sehen wieder einmal das Überleben ihrer Nation in Gefahr. »Die Sprache ist die DNA der Katalanen«, erklärte der bis 2006 amtierende sozialistische Regierungschef Kataloniens, Pasqual Maragall.
Die linke Unabhängigkeitsbewegung, die bereits beim Referendum vor vier Jahren dazu aufgerufen hatte, das Statut abzulehnen, fühlt sich nun in ihrer Haltung bestätigt. Das Verfassungsgericht sei ohnehin nur ein »Organ der Besatzung«, erklärte etwa die Gruppe Endavant. »Kein Statut wird uns frei machen« ist daher die Losung der Izquierda Independentista, die »Unabhängigkeit und Sozialismus« fordert.
Aber auch viele gemäßigte katalanische Nationalisten, die bisher für eine Ausweitung des Autonomiestatus eintraten und einem eigenen katalanischen Staat ein föderales System vorzogen, wurden durch den Richterspruch, der – wie sie meinen – sich immerhin über die Entscheidung zweier Parlamente und Millionen katalanischer Bürger hinwegsetze, schwer enttäuscht. Unmissverständlich wird in der 881 Seiten umfassenden Urteilsbegründung erklärt: »Die Verfassung kennt keine andere Nation als die Spanische.«
So wurde diesmal in großer Einigkeit zu den Massenprotesten mobilisiert, über 1 700 Organisationen unterzeichneten den Aufruf, darunter fast alle Parteien des katalanischen Parlaments. Selbst José Montilla, Vorsitzender der Regionalregierung und Mitglied der PSC, des katalanischen Ablegers der Regierungspartei Psoe, hatte das Urteil als »Anschlag auf die Selbstregierung« bezeichnet und mit zu den Protesten aufgerufen.
1,5 Millionen Menschen beteiligten sich nach Angaben der Veranstalter an der Demonstration, und das bei Temperaturen von über 35 Grad. In der nachfolgenden Berichterstattung wurde oft der Vergleich mit der Riesendemonstration vom 11. September 1977 gezogen. Zwei Jahre nach dem Ende des Franco-Regimes waren am katalanischen »Nationalfeiertag« über eine Million Menschen für »Freiheit, Amnestie und Autonomie­statut« auf die Straße gegangen. Im Gegensatz zu damals stand diesmal jedoch die Forderung nach Unabhängigkeit deutlich im Vordergrund: »Wir sind eine Nation. Wir entscheiden«, war das Motto der Massendemonstration. Die Flaggen der Independentistas dominierten die Szenerie, »Catalonia: the next state in Europe« prangte auf einem riesigen Transparent. Auf einem anderen stand einfach: »Adéu Espanya« (Tschüss Spanien).

Weder die im Sparpaket der spanischen Regierung vorgesehenen Einschnitte noch die gegen den Willen der Gewerkschaften durchgesetzte Arbeitsmarktreform brachte so viele Menschen auf die Straßen wie ein Richterspruch aus Madrid, der kaum Auswirkungen auf die Lebensumstände der Menschen haben wird. Die eigentlich längst fälligen Massenproteste sind offenbar nur unter nationalistischen Vorzeichen zu erreichen. Der diffuse, klassenübergreifende und fast alle politischen Strömungen vereinende ethnisch geprägten Nationalismus scheint die einfachste und zugleich machtvollste Antwort auf die Krise darzustellen. Dass nationale Befindlichkeiten über den realen gesellschaftlichen Problemen stehen, liegt aber auch an der Ohnmacht der progressiven Kräfte angesichts der Krise.
Nicht erst seit dem Urteil des Verfassungsgerichts ist eine Zunahme nationalistischer Mobilisierungen zu beobachten. Über 400 kleinere Ortschaften haben in den vergangenen Monaten Referenden abgehalten, in denen die Bevölkerung über die Unabhängigkeit Kataloniens abstimmte, allerdings ohne rechtliche Grundlage. Die große Mehrheit stimmte für die Loslösung vom Zentralstaat, die Wahlbeteiligung war jedoch auffallend gering.
Dass sich auch die gemäßigten Parteien diesmal den Protesten anschlossen, hat wohl vor allem pragmatische Gründe. Katalonien ist die wohlhabendste Region Spaniens und seit Jahren herrscht dort Unmut, dass man durch den Finanzausgleich überproportional viel Geld an die ärmeren Teile des Landes abgeben muss. Das Verfassungsgericht nun den Artikel gestrichen, der es der katalanischen Regierung ermöglicht hätte, aus dem spanischen Solidarpakt mit den anderen Regionen auszutreten. Im Herbst stehen in Katalonien Wahlen an und der Bezug auf die nationale Identität ist für die Parteien bekanntlich ein gutes Instrument, um von realen Problemen abzulenken. Warum jedoch die Gründung eines katalanischen Staats deren Lösung sowie die geforderte »Freiheit« bringen soll, diese Frage stellt auch in der Linken niemand.