Die Loveparade und der neoliberale Kontrollwahn

Raven in der Kontrollgesellschaft

Die Toten auf der Duisburger Loveparade wurden Opfer eines neoliberalen Sicherheitsdenkens.

Das ist das Altamont der Techno-Szene!« Der Satz machte nach der Katastrophe von Duisburg schnell die Runde. Altamont ist in der Popkultur das Synonym für verlorene Unschuld schlechthin, für den Höllensturz einer glückseligen Gemeinschaft. Aber nicht die Gemeinsamkeiten von Altamont und der Loveparade sind das Bemerkenswerte, sondern die Unterschiede.
Auf dem kalifornischen Altamont Speedway fand am 6. Dezember 1969 ein Konzert der Rolling Stones statt, der Abschluss ihrer bis dahin triumphalen zweiten USA-Tournee. Es war ein freies Konzert, das kurzfristig anberaumt worden war. Es sollte ein symbolischer Staatsstreich in der Welt der Popkultur werden – die Stones wollten ihr ganz persönliches Woodstock feiern. Ohne groß nachzudenken, heuerte ihr Management die Hell’s Angels als Ordnungskräfte an, die sich betranken, schlechte Pillen einschmissen, ausflippten und auf die jungen Leute vor der Bühne mit eisenbeschwerten Billardstöcken einprügelten. Sie bedrohten sogar die Stones und erstachen schließlich – unmittelbar vor der Bühne – den 18jährigen Meredith Hunter. Drei weitere Menschen starben auf dem Festival bei Unfällen.
Was an Altamont schockierte, war die Selbst-Kannibalisierung der Flower-Power-Szene, zu der auch die Hell’s Angels irgendwie zählten. Und dass Drogen nicht immer friedlich stimmen, sondern eiskalte Paranoia hervorrufen können, wer wollte das nach Woodstock, der Regen­katastrophe, die alle lächelnd durchgestanden hatten, glauben? Dass Altamont überhaupt stattfand, lag übrigens nicht zuletzt am Besitzer der drittrangigen Rennstrecke, der sich vom Konzert einen gehörigen Imagegewinn versprach.
Auch Duisburg, eine drittrangige Großstadt, wollte ihr Image aufpolieren, aber die Love­parade fand nicht auf einer als Kapitalanlage fungierenden offenen Rennstrecke statt, sondern auf einem brachliegenden, verödeten Güterbahnhof. Beobachter berichten von einem regelrecht vergitterten und eingezäunten Duisburg, ein Großteil der Sicherheitsplanung scheint darin bestanden zu haben, die Massen schön säuberlich direkt vom Hauptbahnhof auf das von der Stadt entkoppelte Festivalgelände zu leiten. »Es war ein befremdliches Bild, das Duisburg am Samstagvormittag bot«, kommentierte der Erziehungswissenschaftler Horst Zimmer, der als Beobachter an Ort und Stelle war, in der Taz. »Ein riesiges Polizeiaufgebot; Dutzende Beamte vor Spielplätzen oder Grünanlagen, denen man, wie mir eine Polizistin bestätigte, aufgetragen hatte, die Besucher abzuwehren. Schon der Anblick der Jugendlichen, die auf der Straße saßen, weil man ihnen keine Parkbank gönnte, erweckte bei mir den Eindruck: Hier geht es nicht darum, die Jugendlichen zu schützen, es geht darum, Duisburg vor den Jugendlichen zu schützen.« Die Katas­trophe von Duisburg ist das Gegenteil von Altamont: Hier zerbrach nicht die Hybris einer Jugendkultur, hier ging es darum, die Überreste einer einstigen Jugendkultur als eine nahezu beliebig formbare Masse zu behandeln.
Die Stadt versprach sich von der Veranstaltung eine symbolische Aufwertung. Die Veranstalter des ohnehin megalomanischen Kulturhauptstadt-Irrsinns »Ruhr.2010« wollten der Welt beweisen, dass man London und Rio, New York und Ballermann ganz locker übertrifft. Der Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller wollte den perfekten Image-Transfer für sein eigentliches Unternehmen, die Sportbuden-Kette McFit, wo man ganz »individuell« seinen Körper als eine beliebig formbare Masse traktieren kann.
Alle wollten das Beste – aber bitte ohne Müll in der Stadt, ohne Behinderung des Autoverkehrs, ohne allzu viele laute, pöbelnde, jauchzende Leute auf den Straßen, ohne große Kosten für Verwaltung und Einsatzkräfte.
Man mag die ganze Rave-Szene, die nur noch oberflächlich etwas mit dem Musikgenre Techno zu tun hat, für stumpf halten: Der Sound nervt schrecklich, die Leute taumeln irgendwo zwischen Hooliganismus und postmodernem Hippietum. Dass Oliver Pocher, der Menschenverachtung für frechen Witz hält, Moderator der Loveparade war, passte genau. Jedes Publikum hat den Animateur, den es verdient. Ja, man kann das alles so sehen. Es hat nur nichts mit der Katas­trophe selbst zu tun. Niemand ist an Herzstillstand durch zu tiefe Bassfrequenzen gestorben oder an einem Kreischanfall nach einer Pocher-Zote erstickt.
Die gegenseitigen Schuldzuweisungen – »Warum hat der Veranstalter nicht andere Zugänge freigehalten?«, »Hat die Polizei zum Zeitpunkt der Überfüllung Zugangsschleusen ohne Absprache geöffnet?« – drehen sich letztlich um die Frage, wie man die Masse noch besser hätte kneten können. Nicht die 500 000 Feierwütigen sind das Problem, sondern das Kalkül, in dem diese Menge nur eine von zahlreichen Kennziffern war. Die Leute sind an den Folgen eines neoliberalen Kontrollwahns gestorben, der an seiner Effektivität gescheitert ist und dadurch erst – innerhalb eines straffen Korsetts, in dem die Leute buchstäblich keine Bewegungsfreiheit hatten – den tödlichen Moment der Anomalie ermöglichte.
Das Wörtchen »neoliberal« ist nicht polemisch gemeint, sondern eine nüchterne Beschreibung: Nicht nur der Veranstalter schaut auf sein Geld, auch Polizei und Ordnungsamt müssen sparen, alle müssen outsourcen, Verantwortung verteilen (bis sie keiner mehr hat), Kompetenzen aus der Hand geben, privatisieren. Die Repression ist nicht mehr das, was sie mal war. Öffentliche Institutionen, die bewaffnete Staatsmacht, die Marketing-Abteilungen milliardenschwerer Unternehmen: Alle haben ihre Budgets und dürfen sie um Himmelswillen nicht überziehen.
Aber, sagen die Panikforscher, es ist ja wirklich »eine Masse«, schon nicht mehr menschlich. »Eine hoch verdichtete Masse gerät in Bewegung«, so beschreibt der Experte Michael Schreckenberg den Auslöser der Panik. Andere sprechen von einem Pfropfen, der sich auf der Rampe zum Festivalgelände gebildet habe. Panik lässt sich vollständig in physikalische und biologische Parameter auflösen. Mit sieben Menschen pro Quadratmeter wird es eng. Die sachliche Richtigkeit dieser Berechnungen mag unbestritten sein, aber es ist sozial und politisch und sowieso kulturell das Ende jedes emphatischen Begriffs von Öffentlichkeit, wenn diese unter dem Gesichtspunkt von sich verdichtenden und wieder entzerrenden Massen gedacht wird.
Und es funktioniert natürlich nicht. Eben jener Professor Schreckenberg, der am Duisburger Sicherheitskonzept mitgearbeitet hat, spricht von individuellem Versagen, von menschlichen Auslösern: Jemand ruft, da hinten ist eine Bombe, und die Leute verfallen, wie kürzlich in den Niederlanden, in rasende Angst. In Duisburg, mutmaßten die Veranstalter, könnte die Panik durch Stürze von Masten und einer zu hastig erklommenen Treppe ausgelöst worden sein, was dann aber nicht so recht zu den Obduktionsbefunden passte, wonach die Opfer an den Folgen von Brustquetschungen, nicht von Stürzen starben. Völlig unvermittelt bricht aus den biophysischen Erklärungen eine Art des tragischen menschlichen Eigensinns heraus. Was für eine schreckliche Alternative: entweder untergehen in der Masse oder aus ihr auftauchen und die Katas­trophe auslösen. Es ist das perfekte Bild für eine Gesellschaft, in der einerseits die Menschen nur noch als Manövriermasse für politische, militärische und ökonomische Kalküle fungieren, andererseits aber das Individuum absurd vergöttert wird: Jedes Glück muss individuell sein, jede Schuld auch. Zwischen der Masse und dem angeblich fehlgeleiteten Einzelnen fällt dem Panikforscher – und nicht nur ihm – kein Drittes ein.