Bulgarien kritisiert die Abschiebungen

Erst mahnen, dann nachahmen

Immer wieder hat die EU die Roma-Politik Bulgariens kritisiert, und das zu Recht. Jetzt zeigen manche antiziganistische Bulgaren nach Frankreich und fühlen sich durch die französische Abschiebepolitik in ihrem Ressentiment bestätigt.

Die Sonne brennt heiß vom Mittagshimmel über Sofia. Langsam schiebt Vaska Mihailova ihre Mülltonne über den Platz vor dem Denkmal der Sowjetischen Armee. Ihr Kollege Ivan Dimitrov fegt mit dem Besen die vertrockneten Blätter zusammen. Die Stadtangestellten sind Roma und halten hier jeden Tag den Park sauber. »Wir arbeiten für sehr wenig Geld«, erzählt die 57jährige resigniert. »So wenig, dass wir manchmal nicht wissen, was wir essen sollen. Wir kommen hungrig zur Arbeit. Von 240 Leva im Monat kann man einfach nicht leben.«
240 Leva, das sind 120 Euro – der Mindestlohn in Bulgarien. Keine Seltenheit, da Roma zum großen Teil zu den ungebildeten bzw. nichtqualifizierten Arbeitssuchenden gehören und ihre Chancen auf ein besseres Auskommen in Bulgarien schlecht stehen. Mehr als 90 Prozent der Arbeitslosen sind Roma. Mehr als die Hälfte von ihnen haben keine Sozialversicherung und halten sich mit Saison- und Gelegenheitsjobs über Wasser. Wenn ein potentieller Arbeitgeber nur ihre dunklere Hautfarbe sehe, berichtet Vaska Mihailova, dann heiße es sofort: Die Stelle ist schon besetzt. Ivan Dimitrov ist deswegen schon nach Spanien gegangen. Sechs Jahre hat er dort gearbeitet, auf verschiedenen Baustellen. Alles ganz legal, eine Firma habe ihn angeheuert. 1 300 Euro hat er da verdient. »Ich habe mich wie ein König gefühlt«, erzählt der kleine drahtige Mann und lacht. Sobald es geht, will er wieder weg. »Wir Roma werden in Bulgarien nicht geschätzt. Deswegen versuchen wir unser Glück woanders, wo wir einen höheren Lebensstandard haben können.«
Wenn sie könnte, dann würde auch Vaska Mihai­lova am liebsten auswandern. Doch sie hat einen kranken Mann zu Hause und kein Geld für die Reise. Und sie ist nicht mehr jung. Sonst wäre sie schon längst weg. Dass Frankreich die bulgarischen Roma nun in ihre Heimat abschiebt – Vaska Mihailova schüttelt den Kopf. »Auch wir sind Menschen, auch wir möchten leben«, sagt sie. »Und eine Zukunft für unsere Kinder haben.«

Frankreich hat diesem Wunsch nach Zukunft und Perspektive gerade eine Absage erteilt. Hunderte Roma wurden vergangene Woche von Paris nach Bukarest und Sofia zurückgeschickt – auf angeblich freiwilliger Basis, mit 300 Euro pro Person im Gepäck. Die Begründung der französischen Regierung basierte erst auf rassistischen Pauschalverurteilungen dieser Menschen als »Sicherheitsrisiko«. Später wurde statt potentieller Delikte ein reales gefunden: Die Menschen haben sich unerlaubterweise länger als drei Monate in Frankreich aufgehalten. Möglich ist das für die Bürger der neuen EU-Länder nur, wenn sie anschließend eine Arbeitserlaubnis bekommen – Fehlanzeige bei den meisten Roma in Frankreich.
Nach der Kritik von Menschenrechtsorganisationen, inklusive der späten Ankündigung der EU-Kommission, die Abschiebepraxis auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen, waren die Reaktionen in Bulgarien vor allem von Unverständnis und Ärger geprägt: Heuchelei und Messen mit zweierlei Maß lauteten die Vorwürfe an Westeuropa. Gemeint ist damit die Kritik, die Bulgarien seit dem EU-Beitrittsprozess ertragen musste, wenn es um die unzureichende Integration der Roma-Minderheit ging. »Und das zu Recht«, erklärt Ivan Dikov, Chefredakteur der Nachrichtenseite Novinite. »Wir haben versagt. Aber jetzt gab es die Chance für die westeuropäischen Staaten zu zeigen, wie man mit der Sache besser umgehen kann. Und was erleben wir? Abschiebungen!«
Gerade das Problem mit illegalen Siedlungen ist den Bulgaren nur zu gut bekannt. Wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten sind in Bulgarien viele Roma in die Städte abgewandert – es entstanden illegale Siedlungen auf verlassenen Brachen, derer sich die Behörden immer wieder durch Abriss entledigen. Dafür ernten sie regelmäßig Abmahnungen der Europäischen Kommission. Dass nun ausgerechnet Frankreich ebenso handelt und die Herkunftsländer sogar noch ermahnt, mehr Verantwortung für ihre Problemgruppen zu übernehmen, dafür hatte die Zeitung Sega nur Zynismus übrig: Historisch gesehen habe man den Roma in Bulgarien und Rumänien immerhin Aufenthalt gewährt, im Gegensatz zu Ländern, die diese Bevölkerungsgruppe in die Gaskammern geschickt hätten. Bulgarien und Rumänien nun ihre Armut vorzuwerfen, die der Grund sei, warum Roma ihre Heimat verlassen – das sei absolut inakzeptabel, schreibt die Zeitung.

Nach Entrüstung ist Enttäuschung das überwiegende Gefühl vieler, die bislang auf die EU als moralische Instanz gesetzt hatten. Dazu mischt sich auch ein Schuss Häme – denn insgeheim gab es schon immer die Vermutung, dass die westeuropäischen Mahnungen zu Toleranz im Ernstfall nur Worthülsen sind. Westeuropäern, die entsetzt auf die Diskriminierung der Roma in Bulgarien reagieren, wird gerne genervt vorgehalten, dass es sich aus der Ferne leicht reden lasse. Jetzt, wo auch Westeuropa »das Romaproblem« vor der Türschwelle habe, scheint der eine oder andere Antiziganisten Genugtuung zu empfinden. Vor allem in Online-Foren ereifern sich die aufgeheizten Gemüter und lassen ihrer Abscheu gegenüber den zigani freien Lauf.
Doch für Ivan Dikov ist das Problem zu ernst, um Schadenfreude zu empfinden. »Die Abschiebungen sind für uns ein klares Signal, dass die westeuropäischen Staaten nicht bei der Lösung dieses Problems mithelfen wollen, das die gesamte EU betrifft.« Zehn Millionen Roma leben in der EU. Dringend müssten Wege gefunden werden, damit Roma den Teufelskreis aus Isolation und Armut durchbrechen können. »Aber es gibt in Europa offenbar keinen Wunsch, geschlossen zu handeln. Die französische Aktion zeigt ein totales Scheitern des Zusammenhalts in der EU«, meint der Journalist.
Die Probleme sind in der Tat riesig, gravierend die Fehler und Versäumnisse, die die bulgarische Regierung in Hinblick auf die Roma-Minderheit gemacht hat. Mit einer Politik der Ausgrenzung wurde Generationen von Roma die Möglichkeit einer gleichberechtigten Teilnahme am Arbeitsmarkt versperrt. Ignoranz, Gleichgültigkeit, Hass und Missgunst bestimmen die Haltung, mit der Roma in Bulgarien üblicherweise konfrontiert sind. Und das auch auf der Ebene der verantwortlichen Behörden. Gemeinden beantragen kaum Projektgelder für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Roma. Es gibt kein Bewusstsein dafür, dass so etwas einer Gemeinde insgesamt zugute kommt. Und die großen, vielversprechenden europaweiten Maßnahmen wie die »Dekade der Roma-Integration 2005–2015« existieren bislang nur auf dem Papier.

Migration ist kein Phänomen, das nur die Roma betrifft. Auch wenn immer wieder das vermeintliche Nomadentum der Roma als Integrationshindernis in der bulgarischen Diskussion ausgeführt wird – ebenso wie kulturalistische Selbstzuschreibungen als reiselustiges Völkchen einzelner Roma-Vertreter. Vor allem Bulgaren, die keine Roma sind, haben nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Wirtschaftssystems 1989 massenhaft ihr Land verlassen. Doch die Kriminalisierung trifft vor allem Roma.
Wie gesamteuropäische Lösungsansätze aussehen könnten, dafür gibt es auch in Bulgarien kaum konkrete Vorschläge. Greifende Integrationsprogramme, bessere Bildungschancen – Forderungen, die so abstrakt sind wie die Mahnung zu mehr Toleranz.