Die EU ist kein antinationales Projekt

Das Problem heißt Euro

Die EU und die Euro-Währung kommen strukturell den Interessen Deutschlands und anderer Exportwirtschaften entgegen und werden daher die Unterschiede zwischen den starken und den schwachen EU-Ländern weiter verfestigen. Die EU taugt daher nicht als antinationales Projekt, vielmehr wird sie immer wieder nationalistische Tendenzen hervorbringen.

Die einfache Gegenüberstellung, man müsse sich zwischen »mehr Europa und der Euro-Währung« einerseits und rückwärts gewandtem Nationalismus andererseits entscheiden, wie sie in der bisherigen Euro-Debatte in der Jungle World anklang, verwundert. Formal gesehen werden im Zuge der Europäischen Einigung zwar immer mehr Befugnisse, die bisher den einzelnen Nationalstaaten oblagen, an Institutionen der EU übertragen. Doch genau diese Institutionen und noch mehr das gesetzliche Regelwerk, auf dem sie basieren, verfestigen und vertiefen die gegebenen Strukturunterschiede zwischen den EU-Mitgliedsstaaten.
Denn in der Konzeption des Euro als Hartwährung lebt die D-Mark fort, sie entspricht der an Industrie reichen und exportstarken Wirtschaft Deutschlands. Dasselbe gilt für die Europäische Zentralbank (EZB), die ihre politische Zielvorgabe sowie ihre Organisationsstruktur und »Unabhängigkeit« – also vor allem: ihre Unabhängigkeit von anderen demokratisch legitimierten Institutionen –, von der Deutschen Bundesbank geerbt hat. Dass Euro und EZB so konzipiert sind, dass sie zuvorderst der deutschen Wirtschaft zugutekommen, war auch der wirtschaftlichen Entwicklung einer kleinen Anzahl von anderen Ländern förderlich – etwa den Niederlanden, Finnland oder Österreich. Die anderen Länder der Euro-Zone, deren Wirtschaftsstrukturen weniger kapitalintensiv und weniger exportfixiert sind, haben durch den Euro dagegen das Instrument der Geldpolitik verloren, aber kein neues Instrument gewonnen, das ihrer Wettbewerbsfähigkeit dienlich sein könnte.
Im Zuge der Krise in Griechenland und schon vorher bei den Krisen in Ungarn, Lettland und anderen Staaten wurden die negativen Folgen dieser Konzeption für die Peripherieländer offensichtlich. Dass diese nach der Einführung des Euro zunächst einen Aufschwung erlebten, war vor allem durch eine schuldengetriebene Konjunktur möglich, die die Wettbewerbsnachteile in den Peripherieländern zunächst wettzumachen schien. Mit dem Ende dieses Konjunkturzyklus sind alle diese Länder in Schwierigkeiten geraten – und wurden deshalb moralisch verurteilt. In der Bild-Zeitung oder subtiler in der FAZ und der Süddeutschen Zeitung hieß es, diese Länder hätten »über ihre Verhältnisse« gelebt und seien somit selbst an ihrer Krise schuld.
Als Maßstab für die »Verhältnisse«, über die nicht gelebt werden dürfe, gelten die Maastricht-Kriterien. Die monetaristische Politik aber, die allein die Beibehaltung dieser Kriterien gewährleisten kann, ist jedoch keine »objektiv gute« Wirtschaftspolitik, sondern eine standortgebundene, die der Wirtschaftsstruktur der BRD entgegenkommt. Angesichts dessen scheint fraglich zu sein, was Jürgen Trittin (Jungle World 29/2010) und André Brie (31/2010) unter einem europäisierten Deutschland verstehen, wenn doch die Strukturen der EU den deutschen Interessen hilfreich sind.

Natürlich ist die derzeitige Situation allemal besser als eine, in der die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten zu Konflikten oder Kriegen führt, worauf Jürgen Trittin mit seiner Idee eines denationalisierten Deutschlands verweist. Aber eine linke Perspektive muss einen Zustand, in dem die Peripherieländer nicht nur geographisch zur Peripherie gehören, infragestellen, die wirtschaftlichen Abhängigkeitsstrukturen benennen und deren politische Auswirkungen untersuchen. Dann erst lässt sich die Frage nach der Auflösung nationalistischer Zustände und nach der Gefahr eines abermaligen Aufbrechens von kriegerischen Konflikten in Europa stellen.
Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu befürworten, ohne sie in ihrer Verfasstheit und mit ihren praktischen, ins Alltägliche reichenden Konsequenzen zu kritisieren, ist falsch. Denn genauer besehen sind die EU-Institutionen nicht per se der Auflösung des nationalistischen Dispositivs förderlich. Durch die staatenübergreifend vorherrschende neoliberale Politik werden die Lohnabhängigen der verschiedenen Mitgliedsstaaten gegeneinander ausgespielt, sie stehen gegen­einander, obwohl oder weil sie alle eine Verschlechterung ihres Lebensstandards erfahren. Andererseits geraten auch die Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft der verschiedenen EU-Staaten in Widerspruch zueinander, da sie erst in ihren jeweiligen Ländern an die Spitze der Gesellschaft gebracht werden und dann im Wettbewerb der Staaten selbst unter die Räder zu kommen drohen.
Das alles wird unter der Aufsicht einer angeblich unabhängigen, angeblich objektiv handelnden EZB moderiert. Dass die von ihr bestimmten, »objektiven« Bedingungen standort- und klassenbezogen bleiben, gerät leicht aus dem Blick. Die EZB steht nicht der EU und den Euro-Ländern gegenüber, wie André Brie suggeriert, sie ist selbst ein funktionaler Bestandteil dieses Gefüges. Und dass das Demokratiedefizit der EZB und anderer europäischer Institutionen nicht durch die Ausweitung von mehr »Mitbestimmungsrechten« des Europäischen Parlaments aufgehoben wird, zeigten bereits die Verhandlungen zum sogenannten Rettungspaket als auch die Bedingungen der Erarbeitung und Ratifizierung des Lissabon-Vertrages. Wie auch bisher die wirklich entscheidenden politischen Fragen von einer Handvoll Spitzenpolitiker entschieden wurden, soll auch das »gouvernement économique« in Sarkozys Vorstellung vom Europäischen Rat bestimmt werden. Bis jetzt wurden also die Hierarchien zwischen den Mitgliedsstaaten beibehalten, die Entscheidungsgewalt wurde höchstens modifiziert, aber nicht effektiv dem Souverän, den Bürgern der EU, übergeben. Der Abbau wirtschaftlicher und sozialer Rechte wurde kontinuierlich fortgesetzt. Maastricht, Amsterdam, Nizza, Bologna, Lissabon, die Geschichte der EU führt durch ganz Europa, aber ihre Reise führt bis jetzt immer wieder zum selben Ziel, dem Abbau historisch erkämpfter Rechte.

Der Euro ist ein politischer Kompromiss. Deswegen fallen andere supranationale Kompetenzen wie eine gemeinsame Haushalts- oder Steuerpolitik weg, die die Währung bräuchte, um ihre grundsätzliche, wirtschaftspolitische Aufgabe besser erfüllen zu können. In Hinsicht auf weitere Integrationsschritte müssten Fragen gestellt werden, die realistischerweise niemand zur Debatte stellt. Ist eine Gemeinschaftswährung erst nach der Herstellung der dazu erforderlichen Bedingungen möglich, so wie es vor allem US-amerikanische Ökonomen behauptet haben? Bedarf es bei heterogenen Regionen nicht erst einer richtigen politischen Union wie im klassischen Beispiel der Vereinigten Staaten?
Die europäische Einigung mit der EU und dem Euro gleichzusetzen, ist Propaganda, die es es als folgerichtig erscheinen lässt, dass jeder, der gegen den Euro ist, auch gegen die europäische Einigung und für ein Revival des Nationalismus steht. Was ist mit der historischen Erfahrung der Mehrheit der Bürger Europas, dass in den Sozialstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Klassenkompromiss entstanden, soziale und wirtschaft­liche Rechte existierten, die mit einer stärkeren Integration in die EG und die EU verloren gingen, teilweise sogar durch direkte Verordnungen aus Brüssel?
Es gibt kein konstantes Wesen der europäischen Integration. Es gab vielmehr einen qualitativen Wandel zwischen den Jahren 1986 (dem Jahr der Einheitlichen Europäischen Akte) und 1992 (Maastricht) – einen Wandel von einer Politik der Abwehr von Hunger und der Abkehr vom militärischen Zugriff auf die Ressourcen der Nachbarländer hin zum Europa der vier Freiheiten für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Geld (auch wenn diese natürlich schon in den Römischen Verträgen vorgesehen waren), verbunden mit »weltpolitischer Verantwortung«. Wer also für einen erneuten qualitativen Wechsel ist – hin zu sozialen Rechten als Bedingung für Denationalisierung –, der muss sagen: Nein zu Maastricht! Hier beginnt dann die schwierige Suche nach denen, die politisch und gesellschaftlich die Träger dieser Forderungen sein könnten.
Die Hoffnung, den Euro grundsätzlich ändern und ihn als Euro bewahren zu können, ist illusionär. Die EU und der Euro müssen als eine Ursache von Renationalisierungstendenzen benannt werden, denn der Standortwettbewerb bringt diese immer wieder hervor. Es sind nicht die Defizite des Euro, es sind seine wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Merkmale, die zu Sozialabbau und Renationalisierung führen. Eine demokratische Kontrolle würde ein eklatantes Defizit aufheben, aber bestimmt nicht die Renationalisierungstendenzen verhindern, da die Unterschiede der Wirtschaftsstrukturen grundsätzlich anders politisch reguliert werden müssen. Was hilft es weiterhin, wenn ein Franzose oder ein Italiener Präsident der EZB ist, wenn diese Person doch nur gemäß dem Regelwerk handeln kann? Auch wenn die EZB das Ziel des Beschäftigungswachstums ernsthaft verfolgte, könnte dies allein nicht die Strukturunterschiede und die daraus resultierenden Spannungen zwischen den Euro-Staaten beheben.

Eine sichere Prognose für die nähere Zukunft ist somit, dass die Wirtschaften der Euroländer weiter auseinanderdriften werden, so wie sie es bisher kontinuierlich taten. Dies als deutschen Sonderweg zu bezeichnen, ist zwar einseitig, weil auch andere Länder von der Euro-Politik profitieren. Fragt man aber, wer institutionell durch Stimmverteilung und die Fähigkeit zur Koalitionsbildung den Weg politisch vorzeichnen kann, lässt sich Deutschland als der Hegemon mit der größten Entscheidungsfreiheit ausmachen – und zwar mit immer größerem Abstand zu Frankreich.
Die Entwicklung hin zu »mehr Europa« ist daher ambivalent, da sie von Maastricht bis zum Vertrag von Lissabon die bestehenden Unterschiede innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten beibehält. Diese werden durch die neuen institutionellen Arrangements weiter vergrößert. Das heißt, die Unterschiede zwischen den Nationalstaaten werden immer deutlicher, als Krise immer akuter, und werden immer stärker zur Renationalisierung führen. Andererseits werden durch politisch-ins­titutionelle und wirtschaftliche »Fusionen« vormals nationalstaatliche Rahmenwerke »europäisiert«, als Entscheidungsträger erscheint die EU, doch in den Brüsseler Büros entscheiden immer noch die deutsche und die französische Regierung. Es wird vielleicht, falls die EU so lange überlebt, Regionen statt Staaten geben, aber keine Konvergenz. Daher wird die materielle Basis für die Nährung nationalistischer Ressentiments weiter bestehen bleiben.