Abdruck aus dem Buch »Zum ersten Mal tot«

Patsch, pitsch, patsch!

Von seinem ersten Schnellkurs in deutscher Staatsbürgerkunde und seinem ersten Blick hinter die Pforten der Wahrnehmung erzählt christian y. schmidt

Erziehung zum Schlunz

Am Anfang des Lebens stehen jedem Menschen unendlich viele Möglichkeiten offen. Man kann Priester werden oder Terrorist, Lebensmittelfachverkäufer oder Logopäde, Geheimagent oder Fleischbeschauer, Mathematiker oder Popstar, Puppenspieler oder Pornodarsteller. Mit den Jahren reduzieren sich die Möglichkeiten. Kommt einem der Glaube an Gott abhanden, taugt man kaum zum Priester. Der Mann, der feststellt, dass er an Ejaculatio praecox leidet, sollte sich nicht für das harte Pornohandwerk entscheiden. So sind die unendlich vielen Möglichkeiten wie Türen, die sich eine nach der anderen schließen. Und ganz zum Schluss gibt es nur noch eine Wahl: die zwischen Grab und Urne.
Die Türen sind allerdings nicht gleich wichtig, und wenn man sich anstrengt (z.B. in der Online-Apotheke Ständertropfen bestellt), bekommt man sogar manchmal eine wieder aufgestemmt, die sich gerade mit einem fetten Rumms geschlossen hatte. Doch dann gibt es auch welche, die sind massiv und schwer wie die von Panzerschränken; man geht einmal hindurch, dann wird fest abgeschlossen und es führt kein Weg mehr zurück. Solch eine Tür passierte ich an einem Juni- oder Juliwochenende im Jahr 1974.
Es begann am berühmten Bielefelder Spindelbrunnen. Hier stand ich an einem Samstagmittag einmal mehr mit langen, leicht verfetteten Haaren in meiner grünen Parkajacke herum, zusammen mit ein paar Leuten von der »Liga gegen den Imperialismus«. Wir verteilten Flugblätter gegen die Apartheidspolitik in Südafrika. Wahrscheinlich wurde darin zur Solidarität mit einem gewissen Nelson Mandela aufgerufen. Dieser Mann galt den meisten Politikern im damaligen Westdeutschland als gefährlicher kommunistischer Terrorist, weswegen er auch zu Recht auf Robben Island eingekerkert war. Erst viel später wurde Mandela dann zum großen Friedensteddy, dem sogar die Bild-Zeitung was abgewinnen konnte. Damals hielten nur ein paar Leute zu ihm: wir zum Beispiel von der Liga. Ein paar Meter von uns entfernt waren die Leute von der KPD/ML versammelt. Sie wedelten mit ihrer roten Fahne, auf der in einem gelben Stern ein Hammer, eine Sichel und ein Gewehr abgebildet waren, und ihr Chefagitator rief durchs Megaphon ein paar Parolen.
Die MLer waren Maoisten so wie wir. Trotzdem verstand man sich nur begrenzt. Sie waren nicht so schlimm wie die moskautreuen Kommunisten von der DKP, die wir nur »Revis« nannten. Befreundet waren wir aber auch nicht gerade. Deshalb kümmerten wir uns auch erst mal nicht weiter um die kleine Kundgebung, die sie da neben uns veranstalteten. Das änderte sich erst in dem Moment, als ein paar Polizisten aufkreuzten. Sie schnappten sich den Mann mit dem Megaphon und begannen ihn wegzuzerren. Sofort rannten wir zum Ort des Geschehens, um den MLern beizustehen. Wir konnten sie zwar nicht leiden, aber letztlich waren sie doch auch Genossen.
Die Polizisten aber waren schneller. Als wir angekommen waren, hatten sie den Agitator schon in eine Grüne Minna gesperrt und waren mit ihm davongefahren. Von den zurückgebliebenen MLern erfuhren wir den Grund für die Festnahme: Der Redner hatte zum Tod von Günter Routhier gesprochen. Auf dem Boden lagen Flugblätter, auf denen stand, worum es bei der Kundgebung gegangen war: »Günter Routhier von der Polizei ermordet!« Klar, dass die Polizei da kein großes Federlesen machte. Jeder, der das damals sagte, bekam Ärger.
Dabei gab es schon ein paar Argumente, die dafür sprachen, dass die Behauptung nicht ganz falsch war. Günter Routhier, ein 45jähriger Frührentner und Sympathisant der KPD/ML, war am 18. Juni 1974 gestorben. Zwei Wochen vorher hatte er in Duisburg einen Arbeitsgerichtsprozess gegen einen anderen MLer besucht. Dabei war es am Ende der Gerichtsverhandlung zu Tumulten gekommen. Der Gerichtssaal wurde geräumt, und wie üblich waren die eingesetzten Polizisten dabei nicht zimperlich. Sie prügelten und traten, einer griff sich den schmächtigen Routhier und schleuderte ihn durch die Stuhlreihen. Allerdings wusste der Polizist nicht, dass der Rentner ein kranker Mann war. »Mein Vater ist Bluter«, schrie ihm deshalb Routhiers Sohn zu. Der prügelnde Polizist gab sich unbeeindruckt: »Wer Bluter ist, bestimmen wir.« Dann schleppten zwei Polizisten den bereits angeschlagenen Mann aus dem Saal, einer gab ihm im Treppenhaus einen Stoß und Günter Routhier stürzte die Treppe hinunter. Dabei schlug er mit dem Kopf mehrmals auf und blieb schließlich am Fuß der Treppe bewusstlos liegen. Das berichteten jedenfalls die Zeugen später.
Von diesem Sturz sollte sich Routhier nicht mehr erholen. Tagelang klagte er über Schmerzen, bis er eine Woche später in ein nahegelegenes Krankenhaus ging. Von dort wurde er in die Universitätsklinik Essen verlegt, wo er vier Tage später an einer Gehirnblutung starb. Danach wurde erst einmal gelogen und vertuscht. Die Polizisten behaupteten, Routhier kein Haar gekrümmt zu haben, und ein Gutachter erklärte, die Gehirnblutung sei keineswegs auf äußere Gewaltanwendung zurückzuführen. Erst 1981, sieben Jahre später, kam bei einem Prozess in Münster ein zweites Gutachten ans Licht, das über all die Jahre verschwunden gewesen war. Darin erklärt der damalige Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts Berlin, Professor Krauland: »Es gibt keinen Zweifel an der gewaltsamen Ursache des Todes von Günter Routhier, und als Tatzeit kommt aufgrund der erhobenen Befunde der 5. 6. 74 infrage.«
Natürlich war das juristisch allenfalls Totschlag. Doch erkläre das mal einer einem siebzehnjährigen Gymnasiasten. Mir kochte schon das Blut in den Adern, wenn ein Lehrer einen Mitschüler zu Unrecht ins Klassenbuch eintrug. Für mich war Günter Routhier ermordet worden. Viele andere Linke waren der gleichen Meinung. Aber jeder, der diese Behauptung öffentlich äußerte, wurde von der Justiz verfolgt. Gegen die für die Tötung Routhiers verantwortlichen Polizisten kam es dagegen noch nicht einmal zum Prozess.
Dass die Polizei einfach einen Menschen totschlagen konnte und man danach noch nicht einmal darüber reden durfte, empörte mich. »Hier ist es genauso schlimm wie in der DDR«, schleuderte ich den reaktionären Rentnern entgegen, die sich an der Festnahme des KPD/ML-Red­ners ergötzten. Die Rentner bildeten regelmäßig Trauben um die Büchertische der verschiedenen kommunistischen Gruppen, die jeden Samstag in der Fußgängerzone aufgebaut waren. Sie verkündeten uns auch, wir »Drecksäcke« sollten doch nach »drüben« gehen oder besser noch »ins Gas«. Natürlich hatte es keinen Sinn, diesen Mob von irgendetwas zu überzeugen. Aber jung und feurig, wie ich war, versuchte ich es trotzdem: »Wir haben mit der DDR nichts zu tun. Das da drüben ist doch gar kein Sozialismus.« Die Rentner hörten gar nicht hin. Sie schrien weiter, dass wir alle »Russen« seien und wir uns »was schämen« sollten.
Ich schrie zurück, und so war es eigentlich wie jeden Samstag, nur dass ich wegen des totgeschlagenen Rentners noch etwas aufgebrachter war. Aber dann tauchten die Polizisten wieder auf und stürzten sich ins Getümmel. Das war der Moment, in dem ein Rentner mit dem Finger auf mich zeigte. Eben hatte er mir noch ins Gesicht gegiftet, jetzt rief er den Uniformierten zu: »Der hier. Das ist der größte Schreier.« Die Polizisten ließen sich das nicht zwei Mal sagen und griffen mich. Erst war ich nur verblüfft, doch dann verstand ich: Der Rentner, der mich denunziert hatte, war ein Ziviler. Die Polizisten zerrten mich zu ihrem Streifenwagen. Hier stopften sie mich auf die Rückbank, setzten sich nach vorne und fuhren los. Ich fühlte mich mit einem Mal sehr allein. »Was habe ich denn gemacht?« fragte ich verunsichert. Die beiden Polizisten schwiegen. Das machte mich schon wieder etwas mutiger. »Ich habe doch nur meine Meinung gesagt. Das ist ja wohl nicht strafbar.« »Schnauze«, zischte da der Polizist, der am Steuer saß. »Du wirst deine Meinung gleich noch sagen können. Wart’s nur ab.«
Ein paar Minuten später bog der Wagen auf den abgesperrten Hof des Bielefelder Polizeipräsidiums ein. Der Fahrer parkte sehr weit hinten, wo uns keiner von der Straße aus sehen konnte. Dann öffnete er die Wagentür und zerrte mich von der Rückbank. Kaum stand ich, prasselten Schläge auf mich ein. Dabei schrie der Polizist: »Los, Mann, sag deine Meinung. Los, sag schon. Deine Meinung.« Er machte eine kleine Pause, holte Luft und weiter ging’s: »Los. Deine Meinung. Ich bin ganz Ohr.« Ich war so überrascht, dass ich trotz der Wucht der Schläge nichts spürte, keinen Schmerz, nur wie mir der Harn in die Schwanzspitze rutschte. Ich sah zur Seite. Hier stand der zweite Polizist. Er sah nur zu, fast gelangweilt. »Warum greift der Typ nicht ein«, dachte ich, »das ist doch ein Polizist. Der muss mir doch helfen. Wieso tut er das denn nicht?«
Ich ließ die Schläge über mich ergehen, wie jemand, der auf einem freien Feld von einem Gewitter überrascht wird und kein Unterstand ist in der Nähe. Und wie in einem Gewitter dachte ich nur an eins: Wann hört das hier denn endlich wieder auf?
Es endete tatsächlich so überraschend, wie es begonnen hatte. Und setzte dann noch einmal genauso plötzlich wieder ein. Zuvor waren wir drei ein paar Meter über den Hof gegangen bis zu einer Tür, durch die man das Polizeipräsidium von hinten betreten konnte. Die beiden Polizisten drängten mich durch den Eingang und eine Minute später standen wir auf einem Absatz, von dem eine Betontreppe hinabführte. Ich sah gerade noch, dass sie fünf oder sechs Stufen hatte, da gab mir der Schläger schon einen Stoß. Als ich fiel, griff er noch mal nach mir, wie einer, der einen Impuls bereut. Er bekam nur noch den Ärmel der Parkajacke zu fassen. Der Ärmel riss halb ab, der Schläger ließ wieder los und jetzt flog ich endgültig die Stufen hinab. Ich knallte auf den Boden und dachte: »Das war’s.« Hinter mir versperrte eine geschlossene Stahltür den Weg, neben mir waren zwei weiße Wände. Vor mir war die Treppe, auf der die beiden Polizisten standen und spöttisch auf mich heruntersahen. »Jetzt schlagen sie dich tot«, war mein letzter Gedanke, »genauso wie diesen Mann aus Duisburg. Hier kommst du nicht mehr raus.«
Ich weiß nicht, was dann passierte. Ich weiß nur, dass mich ein Gefühl großer Verwunderung überkam. Einer der Polizisten zog mich hoch, es öffnete sich die Stahltür und wir standen auf einem langen Flur, auf dem einige Polizeibeamte in Zivil herumwuselten. Der Schläger tat so, als sei nichts geschehen. Ich wurde zur politischen Polizei gebracht. Hinter dem Schreibtisch saß ein Kommissar, kuckte mich gelangweilt an und sah dann wieder in seine Papiere. Ich protestierte sofort: »Ich bin gerade geschlagen worden. Draußen auf dem Parkplatz. Ich verlange, dass das zu Protokoll genommen wird.« Der Kommissar sah kurz auf und sagte ohne Regung: »Gibt’s nich’. Bei uns wird keiner geschlagen. Das kommt nicht vor.« Es nützte auch nichts, dass ich meine zerrissene Parkajacke vorzeigte. »Es gibt hier keine Kollegen, die schlagen«, wiederholte der Kommissar. Dann nahm er meine Personalien auf und stellte mir ein paar Fragen nach den Organisatoren der Kundgebung. Natürlich gab ich ihm keine Antwort. Nach einer halben Stunde entließ er mich, nicht ohne mir einzuschärfen, ich solle den Unsinn mit den Schlägen nicht weiter verbreiten. »Und Sie gehen auch nicht dahin zurück, wo wir Sie aufgegriffen haben. Sie gehen schön nach Hause! Sonst wird das Konsequenzen haben.«
Natürlich hielt ich mich nicht an die Anweisung. Vom Spindelbrunnen brachte mich einer meiner Genossen zum Notarzt. Bielefeld ist nicht allzu groß, und so war der Arzt zufälligerweise der Vater eines Klassenkameraden. Er kannte mich und war schockiert, als er bei der Untersuchung feststellte, dass mir der prügelnde Polizist mit seinen Backpfeifen das Trommelfell im linken Ohr eingeschlagen hatte.
Natürlich wollte ich, dass die ganze Stadt erfuhr, was mir passiert war. Also setzte ich mich zu Hause an meinen Schülerschreibtisch und schrieb einen langen Leserbrief an die Neue Westfälische, die größte Zeitung in der Stadt. Sie hatte mit ein paar dürren Zeilen aus dem Polizeibericht über den Zwischenfall am Spindelbrunnen berichtet. Meine Festnahme allerdings kam in dem Artikel nicht vor. Deshalb schilderte ich in meinem Brief ausführlich, was mir zugestoßen war. Nach ein paar Tagen bekam ich eine Antwort. Man dankte mir für mein Schreiben mit freundlichen Floskeln, teilte mir aber gleichzeitig mit, dass man den Leserbrief nicht abzudrucken gedenke: »Es tut uns leid. Aber für uns ist die Berichterstattung zu diesem Vorfall abgeschlossen.«
Mein junger Kopf konnte diese Antwort nicht fassen. Stand jedem Ereignis nur ein bestimmter Platz auf den Zeitungsseiten zu, und wenn der verbraucht war, wurde nicht mehr darüber geschrieben? Ich fragte auch meine Eltern, was das denn für ein Land sei, in dem Polizeibeamte einem Schüler das Trommelfell zerschlagen konnten, und keinen kümmerte es? Die ­Eltern, die mir sonst politisch gerne Kontra gaben, waren ratlos. Dann fiel meiner Mutter ein entfernter Onkel ein, der als Vertreter einer Partei oder gesellschaftlichen Organisation im Polizeibeirat der Stadt saß. Ihm berichtete ich meinen Fall und teilte ihm auch meinen Entschluss mit, den Prügelpolizisten wegen Körperverletzung anzuzeigen. Tatsächlich wurden ich und meine Mutter drei Wochen später ins Polizeipräsidium geladen. Hier erklärte uns ein jovialer Kommissar, ich könnte gerne Anzeige gegen den Polizisten stellen. »In diesem Fall«, sagte der Kommissar und lächelte sanft, »stellt allerdings auch unser Mann Anzeige gegen Sie wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt.« »Ich habe aber überhaupt keinen Widerstand geleistet.« »Das sagen Sie«, sagte der Kommissar. »Doch der andere ist erstens Polizist und hat zweitens einen Zeugen.« In diesem Moment verstand ich, dass ich verloren hatte. Ich würde niemals Recht bekommen.
Aber das war nicht alles, was ich in diesen Tagen begriff. Bis dahin war ich zwar ein kleiner, radikaler Maoist gewesen. Aber zugleich war ich auch erst siebzehn Jahre alt. Das hieß, der Ra­dikalismus würde sich bald geben. Schließlich hatte ich noch zwei Jahre vor dem Prügelzwischenfall im Gemeinschaftskundeunterricht ein langes Referat gehalten, in dem ich Willy Brandt und die SPD gepriesen hatte. Und wochenlang war ich mit einem »Willy wählen«-Button zur Schule gegangen. Die Zeichen standen also gut, dass ich bald reumütig in den Schoß der Gesellschaft zurückkehren würde. Irgendwann Ende der Achtziger wäre ich dann Pressereferent eines Staatssekretärs in einem Landesumweltministerium geworden und hätte mein Leben damit zugebracht, seitenlange Presseerklärungen zum Thema Biogasanlagen und Streuobstwiesen zu verfassen. Nach dieser Watschen­kur ging das nicht mehr. Ich konnte unmöglich zurück zu denen, die mit Schlägen argumentierten. Ich konnte auch kein Redakteur bei der Neuen Westfälischen mehr werden oder einer ihrer Reporter. Ich hätte immer daran denken müssen, dass ich bei einem Blatt arbeite, das nur die halbe Wahrheit schreibt. Und weil die NW kaum anders war als die meisten Zeitungen im Land, konnte ich auch nicht zu denen.
Und so beraubte jedes Stück Dresche, das ich damals bekam, mich einer Menge potentieller Lebenswege. Patsch. Du wirst niemals SPD wählen. Und, pitsch, auch eine Stelle bei der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt für dich nicht mehr in Frage. Patsch. Du sollst auch kein Lehrer im Staatsdienst werden, und eigentlich, patsch, auch kein Beamter. Du wirst kein Staatsanwalt, patsch, und kein Richter, patsch, kein U-Bahn-Kontrolleur, oder, patsch, patsch, kein Gerichtsvollzieher. Du sollst auch, patsch, den Beruf des Politmagazinmoderators nicht ausüben, und weil wir gerade, patsch, dabei sind, fallen für dich, patsch, auch Berufe wie Immobilienmakler, patsch, Werber oder, pitsch, launiger Radio-DJ flach. Denn siehe, pitsch, patsch, die Berufe sind alle nicht für dich gemacht, patsch, so wahr ich dir noch eine klebe.
Als der Polizist fertig war mit Prügeln, waren ein paar Hundert Lebenspanzerschranktüren ins Schloss gefallen und mir ein ganzer Haufen lukrativer Karrieren für ewig versperrt. Eigentlich blieb kaum noch ein richtiger Beruf übrig. Arzt oder Wissenschaftler wären Möglichkeiten gewesen, Musiker oder Filmemacher. Aber dafür war ich entweder zu faul oder nicht begabt genug. Also wurde ich ein Schlunz. Als solcher verdiene ich zwar kein Geld, brauche aber nicht bei Vorgesetzten schleimen und kann jedem sagen, was ich will. Ich stehe morgens auf, wann es mir passt, und muss kein Kapitel meiner Vergangen­heit verschweigen. Ich wohne auf verschiedenen Kon­ti­nenten, und wenn mir danach ist, durchquere ich Wüs­ten oder liege wochenlang an fernen hellen Stränden. Dieses Leben, das viel besser ist als das eines Staatssekretärs oder seines Referenten, habe ich dem Prügelpolizisten zu verdanken. Deshalb bin ich dem Mann bis heute dankbar und denke gern an den Moment zurück, als er mir den gründlichsten Schnellkurs in deutscher Staatsbürgerkunde erteilte, den man sich denken kann. Halten Sie also bitte an dieser Stelle mit ihrer Lektüre für eine Minute inne, stehen Sie kurz auf und verneigen Sie sich mit mir vor diesem großen, bis heute leider unbekannten Pädagogen.

Auf der anderen Seite

Schon sehr früh hatte ich den Ehrgeiz, alle Drogen dieser Welt auszuprobieren. Bis auf Heroin. Davor hatte ich Respekt. Aber sonst alles. Opium, Koks, Psillos, LSD, Meskalin und alle Drogen, die noch erfunden werden sollten. Diesen Ehrgeiz teilte ich mit vielen meiner Freunde. Wir wollten auf die »andere Seite« durchstoßen, koste es, was es wolle. Von der anderen Seite war damals viel die Rede. Wir hatten keine rechte Vorstellung, was da sein sollte. Auf jeden Fall war es besser dort.
Mir war auch klar: Um mit den ganzen Drogen, die es gibt, in einem Leben durchzukommen, musste ich mit dem Testen früh beginnen. Als sich die erste Gelegenheit dazu bot, ergriff ich sie beim Schopf. Ich war vierzehn oder fünfzehn und in Amsterdam auf einer Freizeit mit der evangelischen Gemeindejugend. Unsere Gruppe wohnte in einem Jugendhotel, direkt am Eingang zum Rotlichtviertel. Hier setzte ich mich zu drei langhaarigen Kanadiern, die in der Mitte des Tisches einen kleinen grünbraunen Klumpen liegen hatten. Erst wusste ich nicht, worum es sich handelte. Als dann ein Kana­dier begann, das Zeug auf dem Tisch in einen Joint zu bröseln, begriff ich: Das muss diese Droge sein, von der ich schon so viel gelesen hatte. Natürlich musste ich die rauchen. Die Kanadier ließen mich auch ziehen. Keine fünf Minuten später taten sich mir die Pforten der Wahrnehmung auf. Sperrangelweit. Alles, was die Kanadier sagten, war plötzlich extrem lustig, so weit ich es verstand. Das war nicht viel, denn meine alten Nazilehrer hatten mir kaum Englisch beigebracht. Und das bisschen Englisch, das ich konnte, flog mit jeder Rauchwolke, die ich ausstieß, zum Fenster raus. Ich lachte und ächzte halb belustigt, halb verzweifelt: »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« »Schaise, Schaise, Schaise«, echoten die Kanadier und lachten auch.
So ging es eine Weile, bis die drei Burschen erklärten, sie wollten mich das Englisch, dessen ich gerade verlustig gegangen war, wieder lehren. Sie ließen mich ein paar Sätze memorieren und schickten mich dann los, um sie bei der blonden Barfrau auszuprobieren. Die lachte sich kaputt: »Wärst du kein Kind, würde ich dir jetzt eine knallen. Wer hat dir das beigebracht?« Ich kuckte mich um, aber da waren die drei Typen schon verschwunden. »Was habe ich denn gesagt?« wollte ich wissen. Die Blonde weigerte sich, mich aufzuklären.
Ich ärgerte mich, weil sie mich »Kind« genannt hatte, und setzte mich allein an einen Tisch. Meine Augen folgten den Reflektionen der Disco­kugel an der schwarzen Wand. Bald kam es mir so vor, als ob sich nicht die Kugel drehte, sondern die ganze Hotelkneipe um die Kugel. Dabei tobte in mir ein Gedankensturm wie noch nie zuvor in meinem kurzen Leben. Draußen wurde es langsam dunkel, und plötzlich saß Magdalene an meinem Tisch. Sie gehörte zu den Mädchen in unserer Jugendgruppe und ich mochte sie ein wenig. Natürlich wusste sie das nicht. Ich hätte den Teufel getan, ihr das zu sagen.
Nun aber, nachdem ich vom Baum der Erkenntnis geraucht hatte, war das kein Problem mehr. Ich starrte ihr direkt in die Augen, minutenlang. Das war mir ohne Drogen bisher höchstens für einen Sekundenbruchteil geglückt, dann hatte ich die Augen niedergeschlagen. Jetzt machte mich das Haschisch unbesiegbar. Magdalene aber fragte, was mit mir los sei. »Ich«, sagte ich stolz, weil ich den Unterschied zwischen Hasch und Gras noch nicht kannte, »habe Ma­rihuana geraucht.« Allerdings brachte ich das vertrackte Fremdwort nicht mehr heraus, sondern zerlegte es in seine Teile: »Maa Rie Hu Aaanaa«. Magdalene verstand nicht, und ich wiederholte: »Maa Rie Hu Aaanaa. Maa Rie Hu Aaanaa. Maaaa … « Als sie dann irgendwann begriff, bewunderte sie mich keineswegs. Sie fragte nur, was diese Droge denn so mache. »Toll«, antwortete ich zusammenhanglos, »es ist unglaublich toll hier, wo ich gerade bin.«
Magdalene blieb skeptisch, wie ja überhaupt das weibliche Geschlecht weniger leicht für das Drogennehmen zu begeistern ist. Wahrscheinlich geht es den meisten Frauen einfach so gut, dass für sie nichts besser werden muss. Es wurde jedenfalls nichts aus Magdalene und mir.
Das machte nichts. Ich hatte ja jetzt die neue Droge: Und das Kiffen gefiel mir außerordentlich gut. Es war sogar noch viel besser als der erste Alkoholvollrausch, der mich ein Jahr zuvor ereilt hatte. Auch da war ich mit der evangelischen Gemeindejugend unterwegs, und wenn ich nicht den ganzen Wein, das Bier und den Schnaps sofort wieder ausgekotzt hätte, wäre es eventuell auch mein letzter Ausflug gewesen. Deshalb empfehle ich heute allen Eltern, die sich Sorgen darum machen, dass ihre pubertierenden Kinder Alkohol trinken oder Drogen nehmen könnten: Halten Sie Ihre Blagen von der evangelischen Gemeindejugend fern! Wer aber seinen Kindern eine anständige Drogenerziehung angedeihen lassen will, der ist bei diesem Verein genau richtig.
Nur muss sich der junge Mensch auch irgendwann von diesen Strukturen emanzipieren, um seine Drogenkarriere selbst in die Hand zu nehmen. Die verlief bei mir in Schüben. Stieß ich auf eine neue Droge, probierte ich sie aus. Entdeckte ich dann eine andere, blendete die neue Droge die alte langsam aus. Dabei musste ich mir nie eine Droge entziehen, alles passierte auf ganz natürliche Weise: Ein bestimmter Dealer war einfach nicht mehr greifbar, also ließ ich das Speed bleiben und wendete mich wieder dem Kiffen zu. Oder ich zog in eine andere Stadt, und dort gab es außer Alkohol gar keine Drogen. Auch das war kein Problem. Manche Drogen begannen mich auch zu langweilen, weil sie nach mehrmaligen Gebrauch nicht mehr denselben Effekt wie am Anfang hatten. Süchtig wurde ich bei alledem nur nach Zigaretten. Aber Nikotin ist ja auch die übelste Droge von allen, schlimmer als Heroin.
Dabei reagierte ich auf alle Drogen hochempfindlich. Wenn sich meine Kifferfreunde nicht ­sicher waren, ob das frisch gekaufte Dope tatsächlich Hasch enthielt oder doch nur wieder Schuhcreme, ließen sich mich den Stoff ausprobieren. Merkte ich was, war wenigstens eine Spur von THC vorhanden. Das hieß, man musste die Dosis nur ordentlich erhöhen, bis auch dem Durchschnittskiffer der Kopf wegflog. Ich aber brauchte sehr viel weniger. Und so lag ich oft schon nach nur ein paar Zügen stundenlang auf einer Matratze und hörte Musik, die in dicken Tropfen von der Zimmerdecke zu fließen schien. Derweil brannte sich mein heißes Kleinhirn durch das Kissen, und wenn ich die Augen schloss, stürzte ich nach hinten in einen schwarzen Schlund, der niemals enden wollte.
Meine Gras- und Haschisch-Drogenräusche ähnelten tatsächlich sehr den Plattencovern, die zur selben Zeit im Umlauf waren. Das war der Grund, weshalb ich zögerte, LSD auszuprobieren. Ich wollte es nur nehmen, wenn ein nüchterner Führer mit mir auf die Reise ginge. Das wurde in der Drogenliteratur empfohlen. Nur kannte ich keinen, der mich führen wollte. Das war auch niemanden zu verdenken, denn ich hätte sicher nicht schlecht genervt. Als ich nämlich später meinen ersten Trip warf, sah ich Dinge, die ich mir bis heute nicht erklären kann. Das mag vielleicht auch an der Pille gelegen haben. Die hatte ich nach dem Einkaufen in einer kleinen Dose in unserem feuchten Keller versteckt, aus Angst vor der Polizei, die unserem Haus immer mal wieder Besuche abstattete. Als ich das Döschen dann nach ein paar Monaten für eine Party hervorholte, hatte der Trip Schimmel angesetzt. Scheiße, dachte ich. Vielleicht ist so eine völlig neue Droge entstanden? Ein Supertrip, der meine Hirnmoleküle verändert und mich zu einem willenlosen Zombie macht? Man kennt so was ja aus Superheldencomics oder Horrorfilmen.
Ich nahm die Pille trotzdem mitten in der Nacht, nachdem ich schon einiges getrunken hatte. Eine halbe Stunde später ging es los. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass der Schulhof hinter unserem Haus hell beleuchtet war. Dann füllte er sich langsam mit Menschen. Es war eine ganz normale Große-Pausen-Szene, nur dass sie sich am Wochenende abspielte, um zwei Uhr in der Nacht. Was ich sah, konnte nicht sein, war aber deutlich zu erkennen. Ich erklärte es mir später so, dass ich entweder in die Vergangenheit dieses Schulhofs gesehen hatte oder in seine Zukunft. Sonst war auf dieser Party eigentlich alles normal, wenn man davon absieht, dass die Stufen des Treppenhauses, in dem ich saß, im Mittelmeer endeten, obwohl das Treppenhaus im Bielefelder Osten stand. Ich hörte die Wellen gegen die Stufen schlagen und sah auf dem Flur des Erdgeschosses einen Schwarm fliegender Fische in hohem Bogen auf- und wieder abtauchen. Kann sein, dass ich damals wirklich für ein paar Stunden auf der anderen Seite war.
Ich sollte dort nicht lange verweilen, denn mit diesem allerersten Trip war auch meine LSD-Phase schon wieder vorbei. Erst viele Jahre später riskierte ich einen zweiten Ausflug, dieses Mal am Tag. Als die Wirkung der Pille einsetzte, saß ich gerade am Ufer eines größeren Weihers und steuerte mit meinen Gedanken ein Teichhuhn fern. Ich befahl dem Tier, zu mir zu schwimmen, was es auch bereitwillig tat. Doch kurz vor dem Ufer machte es halt, starrte mich für fünf Sekunden an und sah dann zu, dass es wegkam. Ich weiß, dass Teichhühner keinen Gesichtsausdruck haben. Doch diesem Huhn war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es hatte meine geheimsten Gedanken ­gelesen und mich bis auf den Grund durchschaut. Seitdem habe ich kein LSD mehr genommen.
Speed, Ecstasy und Koks begleiteten mich etwas länger. Mit diesen Drogen erlebt man auch viel mehr, weil sie so schön lange wachhalten. Allerdings ist das, was passiert, in der Regel wahrnehmungstechnisch auch nicht weiter bemerkenswert, vor allem, wenn man das Zeug normal dosiert. Man fühlt sich die ganze Zeit unnatürlich super, und das ist es meistens schon. Darum nur so viel: Ecstasy ist eine sehr angenehme Droge, vor allem die ersten Male. Dann wirkt es wie ein chemisches Evangelium und macht seinen Benutzer zu einem besseren Menschen. Dieser Effekt nutzt sich aber schnell ab, und zum Schluss wirkt E nur noch wie ein simpler Wachmacher. Speed ist ganz okay, so etwas wie der Traktor unter den Drogen, solide und robust. Koks allerdings wird überschätzt und kann einem sogar den Abend versauen.
So war es an einem Silvester vor etlichen Jahren. Ich war zu einem Essen eingeladen, und ein Knallkopf hatte Koks mitgebracht. Wir rauchten es in einem Joint, und zwar idiotischer­weise vor dem Essen. Danach trugen die beiden Gastgeberinnen die schönsten Speisen auf, von denen wir aber nur noch naschten, denn das kolumbianische Marschierpulver hatte uns bereits vollkommen satt gemacht. Es war eine sehr traurige Angelegenheit, die Speisen auf dem Tisch zu sehen, zu wissen, wie gut sie schmecken, und sich trotzdem vor ihnen zu ekeln. Die Gastgeberinnen waren schwer enttäuscht. Also rauchten wir noch einen Koksjoint. Die Stimmung wurde dadurch nicht besser. Dann war der Stoff aufgebraucht und alle gingen nach Hause. Es war seit meiner Kindheit das erste Silvester, an dem ich vor Zwölf im Bett war. Am nächsten Morgen wusste ich: Jetzt hast du auch mit dem ollen Koks abgeschlossen. Ich habe es dann nur noch ab und zu anstandshalber bei bestimmten Koksgeselligkeiten konsumiert. Sonst kommt mir das Zeug nicht ins Haus.
Es gibt aber auch Drogen, die ich nie genommen habe, etwa Meskalin, das in den Siebzigern einen ausgezeichneten Ruf genoss, hauptsächlich aufgrund der Schriften Carlos Castanedas. Man sollte unter ihrem Einfluss sogar fliegen können oder den eigenen, längst verrotteten Urgroßeltern begegnen, denen Haut oder Nase aus dem Gesicht fielen, wenn man mit ihnen ein Gespräch begann. Das musste ich mir nicht unbedingt geben.
Magic Mushrooms waren ein anderes Kapitel. Im Sommer und im Herbst rüsteten sich immer wieder Expeditionen, die frühmorgens vor den Toren der Stadt Pilze suchen gingen. Sie wuch­sen hier über Nacht auf Kuhfladen und mussten in der Morgendämmerung gesammelt werden. Es hieß: »Hat der Pilz den ersten Sonnenstrahl gesehen, ist er nicht mehr zu gebrauchen.« Ich habe mich nie an den Pilzfeldzügen beteiligt, denn ich mochte nicht um fünf Uhr aufstehen und im Halbdämmer auf nebelfeuchten Wiesen zwischen Scheißhaufen herumirren.
Bei Pilzen kam der Durchbruch ein paar Jahre später. Ich saß mit Freunden am Ufer des Zürichsees, als plötzlich vom See aus ein Passagierschiff begann, Jagd auf uns zu machen. Ich schwöre bei dem Gehirn von Stalin: Das Schiff hielt direkt auf uns zu und drehte erst in letzter Sekunde bei. Es liefen auch erstaunlich viele Liliputaner auf der Uferpromenade herum und zwei Meter lange Dackel. Als die Wirkung der Pilze nachließ, gingen wir in eine Giacometti-Ausstellung. Dort habe ich zum ersten Mal die Kunst dieses Mannes verstanden.
Die merkwürdigste Drogenphase, die ich durchlief, war allerdings die auf Valium. Merkwürdig, weil ich die Pillen vor dem Ausgehen einschmiss. So etwas kann man sich körperlich eigentlich nur leisten, wenn man den ganzen Tag unter Strom steht. Als ich das Valium nahm, war es so, denn ich war mitten in der Pubertät und wieder mal verliebt. Sie hieß Britta und hatte dunkle, sanfte Augen. Aber wie die meisten Mädchen hatte auch Britta diese Augen nur für Jungs, die irgendetwas waren: gutaussehend, charmant, gebildet oder großzügig. Gewöhnliche Einfaltspinsel eben. Mich, der ich nichts von all dem hatte oder war, behandelte sie wie einen Bruder. Wie sollte ich sie bloß davon überzeugen, dass ich der Richtige für sie war?
Ich setzte mich in die Straßenbahn und fuhr in den Vorort, in dem Britta wohnte. Von der Haltestelle waren es noch zwei Kilometer bis zu ihrem Haus. Entschlossen setzte ich einen Fuß vor den anderen. Als aber das Haus in Sichtweite kam, fielen mir plötzlich Brittas Eltern ein. Meine Gedanken begannen durcheinanderzupurzeln. Ich stellte mir vor, wie ihr Vater aufmachen und ich sagen würde: »Guten Tag, ich bin Christian. Ist Britta da?« Was wäre, wenn er mich in ein Gespräch verwickeln würde? Ich musste also alles noch einmal überdenken. Unauffällig drückte ich mich am Haus vorbei und ging ums weitläufige Karree. In meinem Kopf ratterte es weiter: Was tue ich, wenn Britta gar nicht zu Hause ist? Oder aber: Sie ist da und geht mit mir auf ihr Zimmer? Worüber sollte ich nach dem Einleitungssatz mit ihr reden? Ich überlegte, dachte nach, betrachtete das Problem von allen Seiten, und als ich fertig war, stand ich wieder an der Haltestelle. Ich setzte mich in die Straßenbahn und fuhr nach Hause.
Ich war schon drauf und dran, die Sache mit Britta aufzugeben, als ich das Röhrchen mit den Valium-Tabletten entdeckte. Es stand im Medizinschrank meines Großvaters. Er ging auf die Achtzig zu und brauchte täglich einen ganzen Sack voll Medikamente. Von Valium hatte ich schon sehr viel Gutes gelesen. Viele Hausfrauen nahmen angeblich diese Pillen, wenn ihnen das Leben einmal schwer fiel. Danach sollte dann alles wie von selber gehen, so wie bei Meister Proper in der Werbung, wo sich das Angebrannte auf dem Herd praktisch von selbst wegputzte. Das musste ich probieren.
Ich steckte also einige Pillen ein und testete sie sofort. Die Wirkung war umwerfend. Von einer halben Stunde auf die andere kam mir die Welt ganz leicht und wattig vor. Besonders gut war, dass anders als bei Haschisch meine Gedanken nicht unkontrolliert durcheinanderrasselten. Es drehten sich auch keine Räume, keine Musik troff von der Decke, und die Vokabeln blieben dort, wo sie hingehörten. Am nächsten Morgen nahm ich wieder eine Pille. Ich ging zur Schule und hielt dort zu meiner eigenen Überraschung eine prahlerische Rede, in der ich meinen Mitschülern unter anderem die Weltrevolution fürs nächste Jahr versprach. Als es zur Pause schellte, war ich zum Klassensprecher gewählt. Valium, das war meine Droge!
Zwei Tage später saß ich wieder in der Straßenbahn, auf dem Weg zu Britta. Sicherheitshalber hatte ich gleich zwei Tabletten eingeworfen. Die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Diesmal steuerte ich zielstrebig auf die Haustür zu und klingelte. Die Mutter öffnete. »Guten Tag«, flötete ich, »ich bin Christian. Ist Britta da?« Sie war und schien sich über meinen Besuch zu freuen. Kurze Zeit später saßen wir in ihrem Zimmer, tranken Tee und hörten »Tubular Bells«. Sehr gesprächig war ich allerdings nicht. Eigentlich sagte ich gar nichts. Doch anders als sonst machte mich das nicht nervös. Kein Pro­blem, Britta bloß anzulächeln. Es war wunderschön. Ganz so, wie in meinen allerkühnsten Träumen.
Als ich wieder aufwachte, war es draußen schon dunkel. Brittas Mutter stand neben mir. »Guten Abend, äh, wo ist denn Britta?« »Britta ist ausgegangen. Mit einer Freundin. Sie hätte Sie gerne mitgenommen, aber Sie waren nicht wachzukriegen.« Verdammt, die zwei Tabletten waren wohl etwas zu viel. »Hmm, ja, dann werde ich wohl mal wieder gehen.« »Aber nicht doch«, säuselte Brittas Mutter. »Mein Mann und ich wollen in die Kirche. Kommen Sie doch einfach mit.«
Nur eine halbe Stunde später stand ich mit zwei älteren Herrschaften in einer ostwestfälischen Vorortkirche und war schwer irritiert, weil ich mich in der Liturgie nicht auskannte. Man musste immer wieder an bestimmten Stellen in die Knie gehen und ebenso abrupt wieder auf­stehen. Nach einer Weile dämmerte mir, dass ich, der Protestant, in eine katholische Messe geraten war. So ist also, dachte ich, die andere Seite auf Valium. Katholisch! Danach habe ich auch diese Droge gemieden.

Redaktionell gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Christian Y. Schmidt: Zum ersten Mal tot. Achtzehn Premieren. Edition Tiamat, ­Berlin 2010. 175 Seiten, 15 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.