Von der Nelkenrevolution in die Schuldenkrise

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Portugals Wirtschaftskrise kommt nicht überraschend, sie hat eine lange Vorgeschichte, die eng mit der Geschichte des Landes verknüpft ist. Und sie hat vermutlich auch eine große Zukunft.

Die Geschichte der ökonomischen Entwicklung Portugals kann als die Geschichte der Peripherisierung beschrieben werden. Portugals europäische Randlage und seine Konzentration auf die koloniale Expansion in Südamerika, Afrika und Südasien bei gleichzeitiger Abgrenzung zum großen Rivalen Spanien führten zu einer weitgehenden Abkoppelung des Landes von europäischen Entwicklungen. Der Niedergang des Kolonialreiches, der sich träge über Jahrhunderte hinweg vollzog und in vergleichbarer Weise auch Spanien zu einem Land der Halbperipherie des kapitalistischen Weltsystems machte, brachte Portugal in eine ökonomische Abhängigkeit vom britischen Empire, die sich auch im Laufe des 20. Jahrhunderts nur graduell veränderte.
Auch Salazar trug mit seiner Konservierung der agrarischen Eliten, der Macht der katholischen Kirche und des kolonialen Ausbeutungsregimes dazu bei, eine sowohl ökonomische wie auch po­litische Entwicklung des Landes zu verhindern, während die politische und militärische Elite versuchte, gegen alle Widerstände und antikolonialen Bewegungen die verbliebene Macht Portugals in seinen Kolonien Angola, Mocambique, Guinea-Bissau und Kap Verde zu halten. Selbst Goa, das bereits 1961 von indischen Truppen besetzt worden war, wurde auf portugiesischen Karten noch bis zur Revolution noch als Kolonie eingezeichnet.

Die Nelkenrevolution 1974, zunächst eine Erhebung linker Militärs, die in der Bewegung der Streitkräfte zusammengeschlossen waren, war der Ausgangspunkt für eine Vielzahl sozialer Forderungen und Bewegungen, die das Land erfassten. Die bekannteste Forderung, »A terra a quem a trabalha« (Das Land denen, die es bearbeiten), schlug sich in Landbesetzungen und der Enteignung der Großgrundbesitzer sowie der Gründung von Kooperativen nieder. Für eine kurze Zeit schien die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft möglich. Kommunistische Organisationen, vor allem der im Untergrund aktive und etwa unter den Landarbeitern des Alentejo stark verankerte PCP, hatten anfangs großen Zulauf und Einfluss. Mit dem Ende der Kolonialkriege in Angola und Mocambique, die mit der portugiesischen Revolution endlich ihre Unabhängigkeit erlangten, wurde dann auch in Portugal das Kapitel des Kolonialismus abgeschlossen.
Doch bereits mit den Wahlen vom April 1975 setzte ein gegenrevolutionärer Trend ein: Die Linke verlor Stimmen und Parlamentssitze zugunsten der sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien; die Gewerkschaften spalteten sich in zwei Verbände, die eher kommunistische CGTP-Intersindical und die eher sozialdemokratische UGT. Unter anderem hatten auch die Bemühungen der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung, die sozialdemokratische und rechtssozialdemokratische Organisationen finanziell unterstützte, einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran, politische Kräfte zu stärken, die am Abwürgen der Revolution tatkräftig mitwirkten. In den folgenden Jahren wurden durch Änderungen der Verfassung zahlreiche Errungenschaften von 1974 wieder abgeschafft, die 1975 sozialisierten Unternehmen wurden wieder privatisiert. Zwar war noch bis 1988 der Sozialismus als Staatsziel in der por­tugiesischen Verfassung verankert, doch schon bald war dies nicht mehr als Rhetorik: Auf den Trümmern einer sozialistischen Revolution wurde in Portugal eine bürgerliche Demokratie errichtet.
Die Revolution von 1974 war jedoch auch der Beginn einer umfassenden gesellschaftlichen Modernisierung, die sich zuallererst in der Abschaffung frauenfeindlicher Gesetze niederschlug. Aber auch die ökonomische Struktur begann sich zu ändern. Portugal, bis dahin überwiegend ein Agrarland, entwickelte Ansätze einer durch ausländische Direktinvestitionen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien begünstigten Industrialisierung, die sich allerdings überwiegend im Norden des Landes abspielte. Die Landwirtschaft, die noch in den siebziger Jahren der wichtigste Sektor war, erwirtschaftet heute noch fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und beschäftigt 15 Prozent der Arbeitskräfte.
Seit dem EU-Beitritt Portugals und der damit verbundenen Öffnung für billigere Agrarimporte haben viele landwirtschaftliche Betriebe aufgegeben, ein Großteil der im Land verbrauchten Nahrungsmittel wird heute importiert. Dabei schienen zunächst vor allem der Beitritt zur EU im Jahr 1986 und die Einführung des Euro die Industrialisierung des Landes durch ausländische Investitionen zu begünstigen und bescherten überdurchschnittliche Wachstumszahlen. Allerdings handelte es sich bei den neu angesiedelten Industriebetrieben oftmals um solche, die ihre Standortwahl in erster Linie vom vorhandenen Angebot an billigen und unqualifizierten Arbeitskräften abhängig machen. In diesem Fall tätigen diese zumeist arbeitsintensive Produktionsschritte, mit denen nur ein geringer Mehrwert erzielt werden kann, oder stellen Güter her, die bereits eine fortgeschrittenere Phase ihres Produktzyklus erreicht haben. Deren Fertigung wird im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung sowie aus Gründen der Rationalisierung und Kostensenkung aus den Kernräumen industrieller Produktion in der EU in die weniger entwickelten Periphergebiete wie Portugal verlagert.

So wurde das Land vor allem als Billiglohnland entwickelt. Bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 475 Euro brutto liegt das portugiesische Durchschnittseinkommen heute bei rund 1 100 Euro brutto. Und trotz Wachstumsraten über dem EU-Durchschnitt ist Portugal, was den durchschnittlichen Lebensstandard der Bevölkerung betrifft, neben Griechenland eines der ärmsten Länder der Euro-Zone geblieben. Bemerkbar macht sich dies nicht etwa in der Erwerbslosenquote, die mit gut zehn Prozent im EU-Durchschnitt liegt, sondern vielmehr in dem großen informellen Sektor, der einen beträchtlichen Teil der Erwerbslosen und der Zuwanderer vom Land in die Städte auf der Basis niedrigster Löhne und ungesicherter Beschäftigung auffängt.
Etwa seit der Jahrtausendwende ist die Wirtschaft Portugals wegen der fortschreitenden Globalisierung und zunehmenden internationalen Konkurrenz unter Druck geraten. Seitdem gehören die früheren Wachstumsraten, die durch die Ansiedlung arbeitsintensiver Industrien europäischer Unternehmen erzielt worden sind, der Vergangenheit an. Während die Industrialisierung auf bestimmte Sektoren und Regionen begrenzt blieb, ist vor allem der Dienstleistungssektor in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen, was nicht nur auf den Tourismus zurückzuführen ist. Dienstleistungen sind inzwischen für zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich.
Der Außenhandel wird zu etwa 80 Prozent mit den EU-Ländern abgewickelt. Der überwiegende Anteil portugiesischer Exporte geht nach Spanien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Exportiert werden vor allem Bekleidung und Schuhe, Maschinen, Chemieprodukte, Kork sowie Zellstoff und Papier. Importiert werden Maschinen, Fahrzeuge, Öl und Ölprodukte sowie Landwirtschaftsprodukte. Dabei hat Portugal ein erhebliches Handelsbilanzdefizit. Für die portugiesische Industrie, für die Zellstoff eines der wichtigsten Exportgüter ist, werden große Flächen mit schnell wachsendem Eukalyptus als Rohstoff aufgeforstet, agrarwirtschaftliche Monokulturen sind die Folge. Dies ist nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus ökologischen Gründen problematisch, weil Eukalyptus den Boden auslaugt, den ursprünglichen Wald verdrängt und die regelmäßig ausbrechenden katastrophalen Waldbrände im Sommer begünstigt.
Als unmittelbare Folge der internationalen Wirtschaftskrise sind Im- und Exporte 2009 gleichermaßen um knapp 20 Prozent eingebrochen. Mit ihrem Sparprogramm, das in diesem Sommer verabschiedet wurde, hat die Regierung mit einem großangelegten Angriff auf den öffentlichen Sektor und dessen Beschäftigte begonnen, zugleich wird mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer der soziale Druck auf die ärmere Bevölkerung weiter erhöht.

Die Gewerkschaften haben mit ersten Streiks ihren Widerstandswillen dokumentiert, doch diese waren bisher sehr begrenzt und betriebsbezogen, wie Francisco Louca, Koordinator des Bloco de Esquerda (BE) und Wirtschaftsprofessor an der Technischen Universität Lissabon, kürzlich in einem Interview zugab. »Niedrige Löhne und die Angst vor der Krise führen zu einer defensiven Reaktion, was Arbeitsniederlegungen anbelangt. Aber natürlich steht die Vorbereitung einer globalen Antwort auf der Tagesordnung«, führte er weiter aus.
Es herrscht Unzufriedenheit, weitere Angriffe auf den Lebensstandard der Bevölkerung könnten zu Protesten führen. Bereits die Wahlen im vergangenen Jahr führten zu einer Stärkung der politischen Linken – über 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler hatten zu fast gleichen Teilen den beiden Hauptformationen der Linken, dem Wahlbündnis der Kommunistischen Partei und der Grünen sowie dem von Trotzkisten und unabhängigen Linken gebildeten Linksblock (BE), ihre Stimme gegeben.
Ein wesentlich grundlegenderes Problem als die Staatsverschuldung allerdings ist die produktive Basis der ökonomischen Entwicklung. Portugal hat in den vergangenen Jahrzehnten in klassischer Weise eine abhängige kapitalistische Entwicklung als Region der Halbperipherie des europäischen Zentrums im Weltsystem durchlaufen und im Rahmen einer imperialen Arbeitsteilung seine Ökonomie auf die Produktion für die europäischen Märkte zu Niedriglöhnen ausgerichtet. Aufgrund der Europäischen Integration und der Einbindung in die von den kapitalistischen Zentren Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens dominierte Entwicklung eines europäischen Großwirtschaftsraums kann es mit billigeren Importen kaum konkurrieren und steht zudem als Niedriglohnland in Konkurrenz mit den osteuropäischen Standorten. Eine derartig fragile und abhängige Ökonomie ist den Schwankungen des Weltmarktes in besonderem Maße unterworfen.
So klagen denn auch mittlerweile bürgerliche Ökonomen über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Die schlägt sich in einem Außenhandelsdefizit nieder, das 2009 bei über zehn Prozent der Wirtschaftsleistung lag. In der Vergangenheit war Portugals Wirtschaft vor allem in Niedriglohnsektoren wie der Textilproduktion stark. Aber die Globalisierung und die Ost-Erweiterung der Europäischen Union haben dieses Wirtschaftsmodell infragegestellt, übersteigen die portugiesischen Löhne doch immer noch die tschechischen, rumänischen oder auch chinesischen Löhne. In der Logik der Konkurrenz um die besten Investitionsbedingungen für das Kapital und die niedrigsten Löhne können die portugiesischen Arbeiterinnen und Arbeiter nur verlieren, aber auch in der Logik einer eigenständigen kapitalistischen Entwicklung ist die Abhängigkeit Portugals von den ökonomischen und politischen Zentren der EU ein Problem, für das selbst langfristig keine Lösung absehbar ist.