Jorge Luis Borges: »Ein ewiger Traum. Essays«

Der heimliche Engländer

Ein Band mit unbekannten Essays von Jorge Luis Borges zeigt den argentinischen Dichter als Bewunderer von Wilkie Collins, G. K. Chesterton und Edgar Wallace.

Der Unterschied zwischen Rätsel und Geheimnis steht im Mittelpunkt vieler Erzählungen und Essays von Jorge Luis Borges. Beim Rätsel handelt es sich um eine barocke, beim Geheimnis um eine romantische Gedankenfigur. Das Geheimnis gehört zur Ordnung des Unbewussten und Verdrängten, der Projektionen und Phantasmen, das Rätsel folgt einer Logik der Oberfläche und des Spiels. Geheimnisse sind düster, abgründig und sinnträchtig, Rätsel sind luzide und zweckfrei. Die einzige Antwort auf ein Geheimnis ist seine innere Wahrheit, auf ein Rätsel kann man nur mit dessen Lösung antworten, die allerdings keine tiefere Bedeutung enthüllt. Geheimnisse, verborgene wie enthüllte, scheinen nur dazu da zu sein, Qualen zu bereiten, Rätsel und ihre Lösung dagegen bereiten allen Beteiligten Freude. Darum wohnt dem Geheimnis seit jeher eine Affinität zur Schwermut und zum Tiefsinn inne, während das Rätsel dem Leichtsinn, der Verführung und Zerstreuung verwandt ist.
Borges hat sich stets für das Rätsel und gegen das Geheimnis entschieden. Dies macht ihn, trotz seiner zeitweise unverhohlenen Sympathien für das Kulturpathos der Autoren des Präfaschismus, zu einem ausgesprochen undeutschen Autor, der hierzulande allenfalls als Wegbereiter der Postmoderne goutiert oder als unvermeidliche intellektuelle Grundausstattung ungelesen in den Bücherschränken beerdigt wird. Der leichtsinnig-apollinische Zug von Borges’ Werk lässt sich am besten an seiner Poetik des Traums ablesen, die keinem psychoanalytischen Interesse folgt, sondern an einem Herbarium der poetischen Imaginationen arbeitet. In seinem »Buch der Träume« von 1976 hat er Träume aus mehreren Jahrtausenden zusammengestellt, die ihn weder als ominöse Archetypen noch als Ausdruck unbewusster Prozesse interessieren, sondern als poetische Denkformen, die über Jahrhunderte hinweg in wechselnder Ausprägung die Geschichte der Imaginationen und Fiktionen durchziehen.
»Fiktionen« lautet auch eine von Borges zur Beschreibung seiner eigenen Texte erfundene Gattungsbezeichnung, die den Unterschied zwischen Rätsel und Geheimnis prägnant benennt. Bei »Fiktionen« handelt es sich nicht einfach um fiktionale Geschichten, sondern um poetische Gedankenexperimente, deren Anstrengung darauf zielt, statt der Wahrheit hinter den Dingen die imaginären Möglichkeiten freizulegen, die in den Dingen selber liegen. Die »Fiktionen« fragen nicht »Was steckt dahinter?«, sondern »Was wäre, wenn … ?«. Die Wirklichkeit ist ihnen nicht der Abglanz einer jenseitigen, tieferen Wahrheit, sondern der Vorschein unzähliger Gedankenspiele, die sich aus ihr entwickeln lassen. Auf diese Weise hat Borges, vor allem in seinen Erzählbänden »Fiktionen« und »Das Aleph«, die Lebensgeschichte realer Figuren wie Averroes oder Shakespeare fiktional weitergesponnen, aber auch erfundene, wenngleich mögliche Biografien fiktiver Dichter, Wissenschaftler und Abenteurer entworfen. In diesen Bänden findet er auch zu seiner charakteristischen Schreibweise, die den Unterschied zwischen Prosa und Essay, poetischem und diskursivem Text zunehmend auflöst. Dies liegt in der Konsequenz der »Fiktionen« selbst, die zugleich spekulativ und analytisch, poetisch und deskriptiv sind.
Die Gleichzeitigkeit von Präzision und Imagination war es wohl auch, die Borges an der Tradition des britischen Kriminalromans so außerordentlich interessiert hat. Gemeinsam mit seinem Freund Adolfo Bioy Casares hat er mehrere Erzählungen geschrieben, die dem Plot von Detektivgeschichten folgen, und jüngere lateinamerikanische Autoren wie Julio Cortázar, die sich stark auf Borges beziehen, haben den labyrinthischen Rätselroman zu einem eigenen Genre entwickelt, aus dem wiederum US-amerikanische Autoren wie Thomas Pynchon oder Don DeLillo schöpfen. Ein neuer Sammelband mit bisher unveröffentlichten oder schwer zugänglichen Essays von Borges macht die Bedeutung dieses Genres für sein Werk besonders anschaulich. Gleichberechtigt neben Essays über Kafka, Joyce oder Shakespeare stehen hier skizzenhafte und längere Reflexionen über den britischen Krimi, vor allem über Wilkie Collins, G. K. Chesterton und dessen »Father Brown«, und gleich mehrfach wünscht sich Borges, »dass unsere argentinische Literatur eines unwahrscheinlichen Tages ihren eigenen Wallace verdienen wird«.
Ein wenig erscheint Borges nach Lektüre dieser Texte selbst als heimlicher Wahl-Engländer, der an der Leichtigkeit und handwerklichen Geschicklichkeit der britischen Detektivliteratur Qualitäten bewundert, die in den kanonisierten Werken der Weltliteratur eher rar sind. Bereits in einem frühen Essay über »Chesterton und die Labyrinthe der Kriminalgeschichte« von 1935 arbeitet er, ausgehend von einem Vergleich zwischen Thomas de Quinceys »Mord als schöne Kunst betrachtet« und Chestertons »Theorie vom moderaten Mörder«, »die Erregung durch zwei unvereinbare Passionen« als Quelle der britischen Begeisterung für den Krimi heraus: »die seltsame Sehnsucht nach Abenteuern und die seltsame Sehnsucht nach Legalität«. Für die abenteuerliche Komponente des Krimis stehen die finsteren Gangsterbanden, nebelumwölbten Schlösser und maskierten Mörder in Edgar Wallaces Romanen, die eine Welt voller Geheimtüren, unterirdischer Gänge und versteckter Schätze entwerfen. Für die Sehnsucht nach Legalität steht der Primat der Ratio, vor der sich im britischen Krimi noch die unwahrscheinlichste Absurdität verantworten muss. Beide Tendenzen zusammengeführt hat bereits Edgar Allan Poe, der in seinen Detektivgeschichten die Begeisterung für das Unheimliche mit kompromisslosem Vernunftglauben verbindet.
In seinem Essay leitet Borges aus den Erzählungen von Poe und Chesterton, ganz in der Tradition der Regelwerke der britischen Detektivliteratur, eine Reihe poetologischer Maximen ab, die auch für seine eigenen Texte Geltung haben: die »Beschränkung« der Figurenkonstellation, die »äußerste Knappheit der Mittel«, den »Primat des Wie gegenüber dem Wer«, der erzählerischen Konstruktion gegenüber ihren Inhalten, sowie die »notwendige und verblüffende Lösung«, die dem Bedürfnis des Lesers nach Phantasie ebenso entgegenkommt wie seinem Bedürfnis nach Rationalität. Auch in den hier versammelten Fiktionen, so in dem 1983 geschriebenen Text »Ein Plot«, der den Plot eines Romans über eine »Verschwörung der Alten gegen die Jungen, der Eltern gegen die Kinder« entwirft, »den vielleicht niemand schreiben wird«, geht das Plädoyer für die Phantasie stets mit einem Bekenntnis zur Klarheit einher. Imagination ist für Borges nichts Vages, Diffuses, dem man mit ausufernden Metaphern, Synästhesien oder Digressionen gerecht werden könnte. Sie ist im Gegenteil präzise, formstreng und folgt einer eigenen Rationalität. Das »Labyrinth« – ein Lieblingswort von Borges – ist überschaubar und unendlich zugleich. Darin gleicht es gelungenen Detektivgeschichten ebenso wie Borges’ Texten, von denen man hier einige zum ersten Mal in deutscher Übersetzung lesen kann.

Jorge Luis Borges: Ein ewiger Traum. Essays. Hg. v. Gisbert Haefs. Hanser, München 2010, 294 Seiten, 21,50 Euro