Die soziale Lage in Griechenland und die Sparpolitik der Regierung

Griechenland spart schneller

Die griechische Regierung macht ernst mit ihren Sparmaßnahmen und hat einen »Herbst der Privatisierungen« ausgerufen. Angesichts der katastrophalen sozialen Lage prognostizieren kritische Ökonomen und Akademiker eine finstere Zukunft für Griechenland und fordern die Aussetzung der Zahlungen an die Gläubiger und den Ausstieg aus der Eurozone.

Im Sommer hat man in Griechenland das Vergessen geübt. Man genoss den Schatten der Pinienbäume und den Geruch von Salzwasser, um zu verdrängen, dass die Krise den Alltag beherrscht. Ist man zurück in der Stadt, herrscht wieder die Herbstdepression, schreibt das Lifestyle-Magazin Lifo. Alltäglich hört man von Pleiten, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen vor der Entlassung, die jungen Menschen gehen ins Ausland, manche Ältere winken ab: »Wir haben es durch Krieg und Diktatur geschafft, wir werden das auch irgendwie verkraften.« Vielen fehlen die Worte, um die drastischen Ausmaße des vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der EU diktierten Umbaus der Gesellschaft zu beschreiben. Auf einen Schlag wurden Löhne und Renten gekürzt, die Abfindung beim Kündigungsschutz wurde halbiert, die Mehrwertsteuer angehoben, der Einstiegslohn auf 590 Euro gesenkt, das Gesundheits- und das Bildungssystem wurden »wirtschaftlicher« gemacht und die Märkte liberalisiert.

Trotz der horrenden Kürzungen geht die Rechnung nicht wie erhofft auf. Die Wirtschaft schrump­ft derzeit so schnell wie noch nie, die Schulden steigen, die Gefahr der Staatspleite ist nach wie vor vorhanden. Als Antwort drängen die Kontrollkommissionen von IWF und EU auf schnelle Privatisierungen für ausländische Investoren. Die griechische Sozialdemokratie hat unter dem Namen »Fast Track« den »Herbst der Privatisierungen« ausgerufen. »Fast Track« ist ein juristisches Eilgenehmigungsverfahren, mit dem die Veräußerung strategischer Wirtschaftssektoren beschleunigt werden soll.
Privatisierungsspiele kennt die griechische Regierung gut. Seit der Einführung des Euro dominiert ausländisches Kapital die griechischen Märkte. Leonidas Vatikiotis, Ökonom und Mitgründer einer Initiative von Wirtschaftswissenschaftlern und Akademikern gegen die Auflagen des »Rettungspakets« von IWF und EU, beschreibt dies mit einem Bild: »Ein Tourist kommt nach Griechenland, da landet er auf unserem größten Flughafen in Athen, der zur Hälfte dem deutschen Baukonzern Hochtief gehört. Um einzukaufen, geht er zu internationalen Ketten wie Lidl, Media-Markt oder Carrefour. Wenn er telefonieren will, nutzt er unsere Netze, die mehrheitlich an die Deutsche Telekom verkauft wurden.« Nun sollen weitere Anteile des Staats verkauft werden. Zur Disposition stehen die Agrotiki-Bank, die Telekommunikation, die Post, die Gas- und Wasserversorgung, die Bahn sowie Häfen, Flughäfen, Grund und Boden im ganzen Land.

Qatar kauft die Bucht Astakos, um dort Müll aus Benzinverarbeitung endzulagern, Israel interessiert sich für Land zur Endlagerung radioaktiver Abfälle, Dubai kauft die Reederei Skaramanga, und schließlich ist da der neue Freund Griechenlands, China. Die Pekinger Firma Cosco wird für die kommenden 35 Jahre den Piraios-Hafen kon­trollieren, um dort eine Drehscheibe für ihre Exporte in Europa aufzubauen. Für die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern, die in Zukunft mit chinesischen Arbeitskräften konkurrieren werden, bedeutet das nicht Gutes. Der Direktor des Forschungsinstituts der Gewerkschaften, Dimitris Stratoulis, betont, dass der Aufbau gewerkschaftlicher Organisierung in ausländischen Unternehmen sehr schwierig ist. Besonders gewerkschaftsfeindlich seien auch deutsche Ketten wie Lidl und Aldi.
Kritische Ökonomen wie Vatikiotis weisen darauf hin, dass die starke Präsenz von ausländischem Kapital die griechische Produktivität seit der Gründung der EU sehr geschwächt hat. Das Land ist zu einem Absatzmarkt für die Hauptexporteure Europas verkommen und entwickelte eine schuldenbasierte Ökonomie. Dazu kommt, dass Griechenland eines der neoliberalsten Länder in der EU ist. Anders als in der deutschen Berichterstattung behauptet, ist der griechische Staat nicht »zu fett«. Die Staatsquote war bis zur Krise niedriger als die deutsche. Die Steuern auf Vermögen und Gewinne sind die drittniedrigsten im europäischen Vergleich. Während der Finanzkrise haben griechische Banken 78 Milliarden Euro vom Staat erhalten. Diese Summe entspricht zwei Dritteln des Hilfsgeldes von IWF und EU. Gesundheit und Bildung sind scheinstaatlich. Das bedeutet, dass die staatlichen Dienstleistungen so gering sind, dass die Versorgung durch private sogenannte Health and Education Industries geregelt wird. Das unternehmerfreundliche Klima in Griechenland ließ die Staatseinnahmen schrump­fen und das Gefälle zu den wirtschaftlich mächtigeren europäischen Ländern wachsen.

Die griechische Tragödie ist kein Fehler, sondern der Sieg der Stärkeren im Wettbewerb des europäischen Kapitals. Griechenland ist als Konkurrenz ausgeschaltet, in der inländischen Versorgung ist der Staat völlig auf den Westen angewiesen. Das Land befindet sich in einer Schuldenspirale, die garantiert, dass die Abhängigkeit für zukünftige Jahrzehnte fortbestehen wird. Aber, wie Marx sagt, die Kapitalisten sind feindliche Brüder. Sie konkurrieren, und gleichzeitig sitzen sie im gleichen Boot. Die europäische Peripherie droht die Kernländer mit ins schwarze Loch zu ziehen. Gegen die »Defizitsünder« werden nun automatische Sanktionen vorbereitet – dabei wird vor allem eine Schwächung der nationalen Souveränitätsrechte über die jeweilige Wirtschaftspolitik erzielt, und daran hat vor allem Deutschland ein großes Interesse. Das Begehren ist einleuchtend: Wenn man große Teile der Produktion, des Absatzmarktes und der Verschuldung eines Landes kontrolliert (70 Prozent der griechischen Schulden liegen bei deutschen und französischen Banken), ist man erst dann auf der sicheren Seite, wenn man auch seine Haushalts- und Innenpolitik kontrolliert.
Griechische Intellektuelle und Ökonomen scheuen sich nicht mehr vor dem Ausdruck »Besatzung mit ökonomischen Mitteln« und sehen sogar im Austritt aus der Währungsunion die einzige Lösung. Viele haben sich in der unter anderem von Vatikiotis ins Leben gerufenen »Initiative griechischer Wirtschaftswissenschaftler und Ökonomen gegen das Memorandum« zusammengefunden, die im Mai gegründet wurde und sich seither großer Beliebtheit in der Bevölkerung erfreut. Ihre Forderungen lauten: Aussetzen der Zahlungen und Ausstieg aus der Eurozone. Die Schuldenrückzahlungen müssten sofort eingestellt werden, um eine Reduzierung, wenn nicht sogar die Aufhebung der Schuldenlast zu erzwingen, ist im Gründungstext zu lesen. Das Geld soll in Löhne und Renten gehen: »Die jährlichen Zinszahlungen der Schuld sind doppelt so hoch wie die jährlichen Rentenausgaben, und die Schuldenrückzahlungen sind höher als die Personalkosten im gesamten öffentlichen Sektor.« Die Zahlungsverweigerung würde Griechenland quasi automatisch aus der Eurozone katapultieren, der zu erwartenden Kapitalflucht soll durch eine Vergesellschaftung der Banken sowie aller zur Versorgung der Bevölkerung strategisch wichtigen Wirtschaftsbereiche begegnet werden. Gefordert werden außerdem die Sofortbesteuerung von Großunternehmen mit 45 Prozent, wie es vor dem Eintritt Griechenlands in die EU der Fall war, sowie Hindernisse für internationale Kapitaltransaktionen, Kontrolle über die Preise existenzieller Güter, die Abwertung der neuen Währung und eine aktive Beschäftigungspolitik. Es unterschrieben Universitätsdozenten, Journalisten, Schriftsteller und andere Personen des öffentlichen Lebens. Die Staatspleite nach Auslaufen der Hilfskredite von IWF und EU im Jahr 2014 sei so gut wie sicher, »die Frage ist, in wessen Interesse sie gelöst wird«, meint Kostas Lapavitsas, Mitbegründer der Initiative und Ökonomieprofessor in London. Angesichts dieser Situation könne nur eine radikale Umstrukturierung der Produktionsverhältnisse und der Demokratie aus der Krise helfen. Diese Umstrukturierung könne nur durch eine starke gesellschaftliche Bewegung erzwungen werden. Damit Griechenland nicht von der sogenannten internationalen Gemeinschaft isoliert wird, müssten solche Maßnahmen auch in anderen europäischen Ländern ergriffen werden.