In Frankreich wird weiter gestreikt 

Generalstreik nicht in Sicht

Bei den Protesten gegen die Rentenreform in Frankreich wird der Lohnverlust durch die Streiktage für immer mehr Beschäftigte zum Problem. Mit Solidaritätsaktionen wird nun versucht, die Streikenden auch materiell zu unterstützen.

Psychologische Konfliktführung ist ein wichtiges Element in der Krisenverwaltung der französischen Regierung. Als Antwort auf die Streiks und Demonstrationen, die seit Wochen gegen ihre Pläne zur Reform des Rentensystems abgehalten werden, setzt sie vor allem auf eine Botschaft: Normalität soll wiederkehren. Am Dienstag wurde entsprechend die Meldung in den Vordergrund gestellt, drei von zwölf Raffinerien hätten ihren Streik beendet. In Wirklichkeit ist die Situation etwas komplexer. Zwar entschieden die Streikenden in den Raffinerien von Fos-sur-Mer in Südfrankreich, Gravenchon bei Rouen sowie Reich­stett bei Strasbourg tatsächlich, ihren Ausstand zu beenden. Aber dies im vollen Wissen, dass ihre Anlagen trotzdem nicht wieder anfahren werden. Alle drei werden über Ölterminals und Pipelines versorgt, die wegen des Streiks in den Ölhäfen von Fos-sur-Mer und Le Havre selbst trocken liegen.
Um vermelden zu können, der Streik bröckele ab, hatte die jeweilige Direktion überraschend hohe Angebote gemacht. Der Ölkonzern Esso bezahlt für seine beiden Raffinerien über zwei Wochen sämtliche Streiktage, und die Schweizer Firma Petroplus verpflichtet sich, auf die geplante Schließung der Anlage in Reichstett zu verzichten. In den übrigen Raffinerien werden erst am Abend nach dem gewerkschaftlichen Aktionstag am Donnerstag Vollversammlungen über eine Fortsetzung des Streiks oder Wiederaufnahme der Arbeit entscheiden.

Auch anderswo gibt es Vollversammlungen, zu denen mitunter Streikaktivisten aus unterschiedlichen Sektoren zusammenkommen. In Paris beispielsweise trat eine berufsübergreifende Vollversammlung schon seit Ende September mehrmals zusammen. Erst in einem Schuppen am Rande des Pariser Ostbahnhofs – wo man die Diskussion immer wieder unterbrechen musste, wenn der sich aufheizende Motor eines TGV alle Beiträge übertönte –, vergangene Woche dann in einem gemütlicheren Raum im Pariser Gewerkschaftshaus. Dazu kamen Eisenbahnbeschäftigte, Lehrer und Linksradikale aus verschiedenen Sektoren.
Doch gemessen an der Gesamtdynamik einer Protestbewegung, die bislang in den meisten gesellschaftlichen Bereichen weitaus stärker auf Demonstrationen mit massenhafter Beteiligung als auf Streiks und Kämpfe am Arbeitsplatz setzte, blieben diese Versuche eher marginal. Zumal die Forderungen der radikalen Linken nach einem Generalstreik bis jetzt keine Wirkung zeigen. Der soziale Protest wird derzeit von einzelnen Sektoren mit starker Streikbeteiligung getragen, wie Raffinerien und Petrochemie, auf weiteren Gebieten, wie dem Transportsektor, ist die Resonanz geringer, in anderen Branchen gibt es keine nennenswerten Streiks. Generell unterstützen die Lohnabhängigen zwar mehrheitlich den Protest, der jüngsten Umfragen zufolge nach wie vor über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung hinter sich weiß. Aber viele gehen lieber einzeln oder in kleinen Gruppen demonstrieren, hinter einem Transparent ihrer Gewerkschaft oder auch ohne Bezug auf ihren Arbeitsplatz, als den Verlust von mehreren Tagen Lohn hintereinander durch zeitlich unbefristete Streiks zu riskieren. Die wachsende Prekarisierung, die sinkenden Reallöhne und gewerkschaftliche Niederlagen sind nicht überall spurlos vorbeigegangen. Dennoch beginnen nun Beschäftigte in manchen Sektoren, sich zu organisieren, um zu versuchen, dem Risiko eines längerfristigen Lohnverlusts im Streikfall vorzubeugen oder entgegenzuwirken.
In der Metallindustrie – wo derzeit vielfach zwei Stunden zu Schichtbeginn oder -ende gestreikt wird – oder bei der Müllabfuhr in Marseille, die bis Montag streikte, wurde etwa beschlossen, dass Beschäftigte sich abwechseln und im Rotationsverfahren streiken oder dass Nichtstreikende Geld in eine gemeinsame Kasse einzahlen, aus der die streikenden Kollegen alimentiert werden. Denn eines der Grundprobleme vieler Streiks in Frankreich ist der fehlende Lohnersatz. Die Gewerkschaften zahlen grundsätzlich kein Streikgeld, üben aber auch keinerlei Kontrolle darüber aus, wann Lohnabhängige streiken oder die Arbeit wieder aufnehmen. Die Gewerkschaft kann ihnen zwar folgen und einen Arbeitskampf unterstützen, auf keinen Fall jedoch über Ausbruch und Dauer der Aktionen entscheiden. Historisch ist das ein großer Vorzug. Aber heute macht sich der materielle Verlust stärker als in der Vergangenheit bemerkbar. Früher zahlten oft kommunistische Rathäuser den Streikenden eine Unterstützung. Zu Zeiten, in denen die Gewerkschaften stärker waren, wurde nach einem erfolgreichen Streik noch ein »Nachstreik« durchgeführt, um die Arbeitgeber zur Zahlung eines Teils der Streiktage zu zwingen. All dies ist in den vergangenen Jahren schwieriger geworden.
Die Linksfront, ein wahltaktisch motivierter Zusammenschluss aus der französischen kommunistischen Partei und der Linkspartei unter Jean-Luc Mélenchon, organisierte am Wochenende eine Solidaritäts-Spendensammlung an einigen Orten in Paris. Allein vor dem Centre Pompidou in Paris sammelte sie innerhalb einer Stunde 6 000 Euro. Solche Spendensammlungen sind inzwischen zum Massenphänomen geworden und werden etwa im Internet, durch die CGT vor dem Total-Hochhaus im Pariser Geschäftsiviertel La Défense und anderswo organisiert.

Die Antwort der Regierung auf die Streiks besteht in Dienstverpflichtungen. So wurden in Marseille, wo der Streik der Müllabfuhr am Dienstag beendet wurde, bereits vergangene Woche zum Müllräumen unter anderem Militärs verpflichtet. Allerdings blieb ihr Tun zunächst auf die psychologische Wirkung beschränkt: Von 8 000 Tonnen Müll, die sich stapelten, konnten sie gerade einmal 200 einsammeln. Und die Feuerwehr hatte alle Hände voll damit zu tun, die von genervten Nachbarn angezündeten Feuerchen an Abfallhaufen zu löschen. Gespalten hat sich dabei die örtliche Sozialdemokratie. Während der sozialistische Regionalpräsident Michel Vauzelle die Streikenden unterstützte, forderten sozialistisch geführte Rathäuser sowie Jean-Noël Guérini, Fraktionsvorsitzender der Partei im Regionalparlament, die Müllabfuhr ebenso wie die Hafenarbeiter dazu auf, den Ausstand zu beenden. Am Montagabend erklärte die Marseiller Müllabfuhr jedoch ihren Streik »aus Hygiene- und gesundheitlichen Gründen« für beendet.

Dienstverpflichtet wurden in den vergangenen Tagen auch mehrere Raffinerien. Am Freitag wurden Streikposten auf dem Raffineriegelände in Grandpuits, östlich von Paris, von der Bereitschaftspolizei abgeräumt. Drei Menschen wurden dabei verletzt. Die Regierung berief sich offiziell auf »zwingende Notwendigkeiten der Landesversorgung«. Bei der Dienstverpflichtung geht es nicht darum, das gesamte streikende Personal zur Arbeit zu karren. Vielmehr ist das Ziel, den Abtransport des auf dem Raffineriegelände in Tanks lagernden und bereits zu Treibstoff verarbeiteten Rohstoffs zu gewährleisten. Dafür wird ein Teil des Personals zur Arbeit verpflichtet. Zuwiderhandlungen können, sofern die Beweggründe zur Dienstverpflichtung bei einer gerichtlichen Überprüfung als ausreichend betrachtet werden, mit Gefängnis bestraft werden.
Auf dem Gelände der Raffinerie von Grandpuits lagerten rund 20 000 Tonnen bereits fertigen Treibstoffs. Deren Abtransport sollte eine vor­übergehende Treibstoffversorgung vor allem im Raum Paris garantieren. Die Gewerkschaften kritisieren eine »gravierende Verletzung des Streikrechts«, da es sich nicht um zwingende Sicherheitsforderungen handele. »Wenn das durchkommt, können wir morgen nicht einmal mehr die Löhne streiken«, sofern der Raffineriebetrieb beeinträchtigt werde, empörte sich ein Gewerkschafter in Libération. In mehreren Fällen annullierten die Verwaltungsgerichte solche Dienstverpflichtungen, so am Freitagabend auch jene für Grandpuits, der Präfekt von Melun sprach allerdings eine neue aus. Dagegen gab im westfranzösischen Nantes ein Gericht den Behörden gegen streikwillige, dienstverpflichtete Arbeiter der Raffinerie von Donges im Nachhinein Recht.
Was die Versorgung mit Treibstoff angeht, ist unterdessen keineswegs jene Beruhigung eingekehrt, die die Regierung vorzuspiegeln sucht. Am Sonntag verkündete der Verband der französischen Erdölunternehmen Ufip, ab Montag sei eher noch mit einer Verschlechterung der Situation zu rechnen, nachdem am Wochenende jede vierte Tankstelle in Frankreich ohne Sprit gewesen ist. Am Montag drohte nun bereits jede dritte Tankstelle trocken zu liegen. Offenkundig hatte die Regierung aus psychologischen Gründen darauf gesetzt, vor allem die Tankstellen entlang der Autobahnen aufzufüllen, da am Wochenende viele Französinnen und Franzosen in die Herbstferien gefahren sind.
Unterdessen rief der Studierendenverband Unef für Dienstag die lernenden oder studierenden Jugendlichen zu einem neuen Aktionstag auf. Die Gewerkschaftsdachverbände riefen die abhängig Beschäftigten zu neuen Aktionstagen auf, mit Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen.
Am Freitag und Samstag marschierten in Lyon und Paris mehrere Hundert jugendliche Anhänger des außerparlamentarischen neofaschistischen Bloc Identitaire auf. Ihre Aufmärsche standen in Lyon unter dem Motto »Gegen das Gesocks«, in Paris lautete es: »Die andere Jugend«. Sie richteten sich vor allem gegen die subproletarischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich vergangene Woche massiv den Protesten angeschlossen hatten und sich in Lyon und Nanterre Scharmützel mit der Polizei lieferten. Vor allem in Lyon kam es dabei auch zu Plünderungen. Die »identitätstreuen« Aktivisten wurden in Lyon mit ebenso zahlreichen Gegendemonstranten konfrontiert und von der Polizei in Bussen abtransportiert. In einem Kommuniqué schäumte der Bloc Identitaire daraufhin, die Polizei habe »den Widerstand am Aufräumen gehindert«. Zu Paris hieß es, die »anderen Jugendlichen« sorgten sich um kämpferische Werte und um die »Identität ihres Volkes«, nicht um ihre Renten, »die sie im Jahr 2040 oder 2050 ohnehin nicht erhalten dürften«, weil es dann wohl ohnehin keine mehr geben werde.