Der Front National wählt eine neue Führung

Mit 82 Jahren fängt die Rente an

Wer tritt die Nachfolge von Jean-Marie Le Pen an? Anfang 2011 will der Vorsitzende des rechtsextremen Front National sein Amt abgeben, die eigene Tochter ist seine Wunschkandidatin. Sie führt zurzeit einen harten Kampf gegen ihren Konkurrenten.

Es gibt keinen schlimmeren Vorwurf als den, mit »Verrätern«, »Deserteuren« oder »Dissidenten« gemeinsame Sache zu machen. Antisemitismus fällt hingegen nicht ins Gewicht, selbst strategische Differenzen scheinen vernachlässigbar zu sein. Diesen Eindruck erweckt die Debatte, die derzeit von den beiden Flügeln des französischen Front National (FN) geführt wird.
Die rechtsextreme Partei möchte auf ihrem nächsten Kongress, der im Januar 2011 im westfranzösischen Tours stattfinden soll, ihre Führung neu wählen. Der 82 Jahre alte Vorsitzende Jean-Marie Le Pen will sein Amt abgeben. Zwei Personen gelang es, die Unterstützung einer ausreichenden Zahl von Bezirksvorsitzenden der Partei zu gewinnen und sich so für die Kandidatur um Le Pens Nachfolge zu qualifizieren: der 42jährigen früheren Anwältin Marine Le Pen, der Tochter des alternden Parteivorsitzenden, und dem 60jährigen früheren Juraprofessor Bruno Gollnisch. Marine Le Pen wird von ihrem Vater ausdrücklich unterstützt.

Seit Ende September wirft die Parteiführung Gollnisch vor, er arbeite an einer Unterwanderung des FN. Der Vorwurf bezieht sich zum einen auf Neumitglieder, die vermutlich noch weiteren Organisationen angehören. Zum anderen haben es Vater und Tochter Le Pen auf Parteimitglieder abgesehen, die den FN in der Vergangenheit verlassen haben und nun aus den zwischenzeitlich gegründeten Splitterparteien zurückkehren, ohne aber die Mitgliedschaft in diesen aufzugeben. Die Parteiführung droht mit dem Ausschluss, sollten Doppelmitgliedschaften bekannt werden. Tatsächlich haben einige Funktionäre den FN in den vergangenen fünf Jahren verlassen, weil sie Jean-Marie Le Pen vorwarfen, langjährige Aktivisten und die Parteiideologie zugunsten persönlicher und familiärer Interessen zu vernachlässigen. Die Kritik betraf vor allem seine Tochter, der unterstellt wurde, sie wolle die Grundsätze des FN im Namen einer »Modernisierung« aufgeben. Bei Mitgliedern, die diese Ansichten teilen, hat Gollnisch Rückhalt.
Nicht nur er sieht sich Angriffen ausgesetzt. In den vergangenen Wochen wurde auch Yvan Bene­detti angefeindet, Gollnischs Wahlkampfkoordinator für die innerparteiliche Kampagne. Ihm wird vorgeworfen, der unverhohlen faschistischen und militant antisemitischen Splittergruppe Oeuvre française anzugehören. Nach seinen eigenen Angaben hat er diese jedoch »auf Aufforderung Jean-Marie Le Pens hin« Anfang August verlassen. Benedetti hatte im Juni kurzzeitig die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Presse erregt. Er hatte in der Strömungszeitschrift Droite ligne geschrieben, die berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion« seien »ein vorausschauendes Dokument«. Die Zeitschrift unterstützt in der gegenwärtigen Auseinandersetzung Gollnisch.
Aber es sind nicht Aussagen wie die Benedettis, die Gollnischs Anhängern von ihren Widersachern zum Vorwurf gemacht werden. Vielmehr hat Marine Le Pen im September betont, sie sehe »keinerlei inhaltliche Unterschiede« zu ihrem Rivalen, stehe aber für ein »dynamisches Erscheinungsbild« ihrer Partei. Darüber hinaus stellte sie Gollnisch für den Fall ihres Siegs den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden in Aussicht. Ihr Konkurrent schlug dieses Angebot zunächst aus. Vergangene Woche änderte er seine Meinung und sagte, er sei an einer künftigen »Arbeitsteilung mit Marine Le Pen« interessiert.

Zwischen Gollnisch und Le Pen besteht dennoch ein Unterschied: Die Tochter hält es strategisch für kontraproduktiv und unsinnig, sich positiv auf den historischen Faschismus zu beziehen oder ausdrücklich den Antisemitismus zu propagieren. Zugleich will sie ihren Gegnern in der Partei aber möglichst wenig Anlass für den Vorwurf geben, in ideologischen Dingen nachgiebig zu sein.
Zudem möchte Marine Le Pen in der Öffentlichkeit das vermeintlich soziale Profil des FN betonen. Das Geschehen kommt der Partei jedoch nicht entgegen: Die geplante Reform des Rentensystems sorgt in Frankreich derzeit für große Konflikte. Gerade in dieser Frage vertritt der FN aber eine Politik, die eher der konservativen und wirtschaftsliberalen bürgerlichen Rechten gefallen dürfte: Jean-Marie Le Pen tritt schon seit langem dafür ein, dass die Lebensarbeitszeit verlängert wird.
Zur Frage der Rentenpolitik versammelte der FN Ende September seinen sogenannten wissenschaftlichen Beirat, der aus Akademikern und Parteifunktionären besteht. Jean-Marie Le Pen verkündete auf dem Treffen, er befürworte ein »offenes Rentenalter«: Es solle gar kein gesetzlich vorgeschriebenes Einstiegsalter für die Rente mehr geben, sondern eine »freie Wahl« – die die Betreffenden nach einer Mindestzeit von 40 Jahren treffen könnten, in der sie in die Rentenkasse eingezahlt hätten. Einem Teil der älteren Arbeiter brächte eine solche Regelung Vorteile: Wer schon vor dem Erreichen der Volljährigkeit mit der Fabrikarbeit angefangen hat und dieser über Jahrzehnte nachgegangen ist, könnte früher in Rente gehen als nach der bestehenden Gesetzeslage. Doch für einen anderen Teil der Lohnabhängigen, der in den jüngeren Generationen zunimmt, würde Le Pens Idee einen späteren Renteneintritt bedeuten.
Marine Le Pen übte sich dagegen bei einem Auftritt in einem Kabelfernsehsender vor zwei Wochen in Verbalradikalismus. Befragt nach den Demonstrationen und Straßenkämpfen, sagte sie: »Ich erwarte nur eines von diesem System: dass es implodiert.« Sie meinte allerdings nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern die Herrschaft der etablierten Parteien. Ansonsten nannte sie das Vorgehen sowohl der Gewerkschaften als auch der Regierung »unverantwortlich«, da diese die Auseinandersetzungen zuspitzten. Die Lösung der sozialen Konflikte liege hingegen allein in einer »natalistischen Politik« – die französischstämmige Bevölkerung müsse sich stärker vermehren. Vollbeschäftigung könne nur durch Protektionismus erreicht werden. Da die Gewerkschaften aber nicht nationalistisch und protektionistisch seien, solle man nicht weiter auf sie hereinfallen: »Ihr Täuschungsspiel hat lange genug gedauert.« Der Zorn von Millionen Demonstranten sei jedoch »legitim«. Marine Le Pen versucht, die Gewerkschaften mit solchen markigen Äußerungen als systemkonforme Kräfte darzustellen – im Gegensatz zu ihrer Partei. Ihre Aussagen zum sozialen Konflikt selbst bleiben sehr vage. So forderte die FN-Politikerin lediglich, arbeitenden, kinderreichen Müttern die Rente früher als im Alter von 67 zu gewähren.

Das Online-Magazin Le Post, das zur liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde gehört, deutete den Fernsehauftritt in völliger Verkennung der Tatsachen als mögliche »Annäherung an die radikale Linke«. Im FN sorgt Marine Le Pens rechte Sozialdemagogie für widersprüchliche Reaktionen. Ein Parteimitglied aus Neukaledonien – die zu Frankreich gehörende Insel im Westpazifik beherbergt eine der letzten traditionellen Kolonialgesellschaften, in ihrer weißen Bevölkerung ist die Sympathie für den FN recht groß – veröffentlichte den Artikel von Le Post zunächst unkommentiert auf der Website der örtlichen Parteisektion. Kurz darauf erschien dort jedoch auch ein kurzer Beitrag unter dem Titel: »Sarkozy will eure Renten kaputthauen! Alle auf die Demo!« Binnen weniger Stunden wurden beide Beiträge gelöscht. Anscheinend wollen die Verantwortlichen einen weiteren Konflikt in der Partei vermeiden.