Das britische Sparpaket 

Thatcher lässt grüßen

Das von der konservativ-liberalen Koalition unter David Cameron beschlossene Sparprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen gilt als eines der härtesten der britischen Nachkriegsgeschichte. Die Labour Party wirft der Regierung einen ideologisch motivierten Angriff auf den öffentlichen Sektor vor, der eine erneute Rezession zur Folge haben könnte.

Die Briten waren gewarnt. Bereits beim Amtsantritt im Juni hatte die Regierungskoalition unter David Cameron angekündigt, bis zum Ende der Legislaturperiode 2015 das Haushaltsdefizit von derzeit 150 Milliarden Pfund komplett abbauen zu wollen. Rund 28 Milliarden Pfund kommen durch Mehreinnahmen zusammen, insbesondere durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer von derzeit 17 auf 21 Prozent sowie einen Anstieg der Arbeitnehmeranteile zur staatlichen Rentenversicherung um ein Prozent. Vergangene Woche nun verkündete Finanzminister George Osborne, in welchen Bereichen die Regierung Kürzungen in Höhe von insgesamt 83 Milliarden Pfund plant.
Die Hauptlast fällt auf die Sozialausgaben, 18 Milliarden Pfund sollen bei Kindergeld, Wohnungsgeld, Sozial- und Arbeitslosenhilfe eingespart werden. Das Kindergeld wird künftig nur noch an Eltern mit einem Jahreseinkommen unter 44 000 Pfund gezahlt. Beim Wohngeld erhalten Haushalte in Zukunft kombinierte Staatshilfen nur noch bis zu einer Obergrenze, die sich am britischen Durchschnittseinkommen orientiert. Dies wird vor allem kinderreiche Familien treffen. Arbeitsunfähigkeitsbeihilfen, die viele Briten anstelle von Sozialhilfe beziehen, werden massiv reduziert.
Zusätzlich werden künftig die meisten Bereiche des öffentlichen Dienstes mit erheblich weniger Geld auskommen müssen. Viele Ministerien, darunter Innen-, Justiz- und Kommunalministerium, müssen 25 Prozent ihrer Ausgaben einsparen, was nach den Schätzungen der Regierung zum Verlust von fast 500 000 Arbeitsplätzen führen wird. Betroffen sind unter anderem die Polizei, die kommunalen Verwaltungen, die Justiz und die Gefängnisse. Das Verteidigungsministerium muss seine Ausgaben um rund zehn Prozent kürzen. Dies führt unter anderem zu einer Aufschiebung der umstrittenen Erneuerung der britischen Nuklearwaffen. Die Universitäten werden 40 Prozent weniger Förderung bekommen, wobei diese Kürzungen durch eine Erhöhung der Studiengebühren ausgeglichen werden sollen.
Die Abschaffung des umfassenden Kindergeldes hatte Premierminister David Cameron vor den Wahlen noch ausgeschlossen. Die derzeit geplante Regelung mag sozial gerecht erscheinen, kommt aber insbesondere bei der Mittelschicht nicht gut an.

Die Begrenzungen beim Wohngeld werden hingegen die Ärmsten hart treffen. In London erwarten Vertreter der lokalen Sozialbehörden einen regelrechten Exodus von Einwohnern mit niedrigem Einkommen, wenn zukünftig die hohen Mieten der Hauptstadt nicht mehr durch staatliches Wohngeld bezahlt werden. Gleichzeitig hat die Regierung Einsparungen im sozialen Wohnungsbau angekündigt. Jon Cruddas, der prominente Labour-Abgeordnete des Londoner Wahlkreises Dagenham, hat der Koalition deswegen vorgeworfen, »soziale und ökonomische Säuberungen« zu betreiben.
Die Kürzungen bei den Hochschulen machen eine Erhöhung der Studiengebühren notwendig. Derzeit dürfen britische Hochschulen bis zu 3 200 Pfund pro Jahr von den Studierenden verlangen. Die Liberaldemokraten hatten im Wahlkampf eine Abschaffung der Gebühren versprochen, doch bereits im Koalitionsvertrag waren sie von diesem Versprechen abgerückt. Nun musste ausgerechnet der Liberaldemokrat Vince Cable, inzwischen als Wirtschaftsminister für die Hochschulen verantwortlich, ankündigen, dass die Obergrenze für Gebühren möglicherweise auf bis zu 7 000 Pfund heraufgesetzt wird. Viele liberale Abgeordnete haben bereits angekündigt, gegen die Erhöhung stimmen zu wollen.
Die vom Finanzministerium veröffentlichten Statistiken, wonach die Pläne zur Haushaltskonsolidierung im Ganzen sozial gerecht seien, wurden in der vergangenen Woche von dem renommierten unabhängigen Institute for Fiscal Studies (IFS) angezweifelt. Zwar werden die reichsten zwei Prozent der Bevölkerung wohl am stärksten getroffen, allerdings durch den bereits von der alten Labour-Regierung neu eingeführten Spitzensteuersatz von 50 Prozent auf Einkommen über 100 000 Pfund. Nach den Berechungen des IFS werden von der Haushaltskonsolidierung jedoch neben den reichsten zwei Prozent die ärmsten zehn Prozent der Briten am härtesten getroffen, so das IFS. Vizepremier Nick Clegg von den Liberaldemokraten wies die Behauptungen des IFS als »kompletten Unfug« zurück, ein ungewöhnlich harter Angriff auf das anerkannte Institut.
Kritik an der Haushaltskonsolidierung kommt auch von Rechts. Die Einsparungen im Verteidigungshalt und bei der Polizei sorgen unter konservativen Abgeordneten für Unmut. Und sogar die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton kommentierte, man sei besorgt über die zukünftige militärische Kapazität der Briten.

Die Labour Party bezeichnet die radikalen Kürzungen als »ideologisch motiviert«. Der haushaltspolitische Sprecher der Partei, Alan Johnson, sagte, die Regierung treibe ein gefährliches Spiel mit der britischen Wirtschaft. Durch die Arbeitsplatzverluste im öffentlichen Sektor könnte das Land in eine erneute Rezession fallen. Die Regierung behauptet dagegen, die Sparmaßnahmen seien unausweichlich, um das Vertrauen der Märkte in die Stabilität der britischen Staatsfinanzen zu sichern und die Zinskosten im Haushalt zu reduzieren. Die verlorenen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst würden durch neue Arbeitsplätze im privaten Sektor ausgeglichen werden.
Die Liberaldemokraten hatten im Wahlkampf noch die Linie der Labour Party vertreten, die britische Haushaltskonsolidierung müsse so lange aufgeschoben werden, bis ein stabiles Wachstum erreicht sei. In den Koalitionsverhandlungen waren sie dann auf den Kurs der Konservativen eingeschwenkt, angeblich wegen des drohenden Bankrotts in Griechenland im Sommer.
Mehrere prominente Ökonomen, darunter der diesjährige Nobelpreisträger, Professor Christopher Pissarides, haben diese Argumentation der Regierung allerdings zurückgewiesen und ebenfalls vor den ökonomischen Auswirkungen des Sparprogramms gewarnt.
Die politischen Auswirkungen sind derweil vor allem für die Liberaldemokraten katastrophal. Jüngsten Umfragen zufolge würden nur rund zehn Prozent der Briten Nick Cleggs Partei bei den nächsten Wahlen unterstützen. Im britischen Mehrheitswahlrecht würde dies für sie den Verlust aller ihrer Sitze im Parlament bedeuten.