Hat eine Integrationsschule in Berlin-Neukölln besucht

Prekäre Lehrer für Prekäre

Von Einwanderern, die in der Bundesrepublik leben wollen, wird verlangt, dass sie Kenntnisse der deutschen Sprache, Kultur und Gesellschaft erwerben. Wer diese Kenntnisse vermitteln soll, arbeitet oft gegen schlechte Bezahlung und unter pre­kären Bedingungen. Ein Besuch in einer Integrationsschule in Berlin-Neukölln.

Aufrecht stehend schaut er in die auf ihn gerichteten Kameras. Unter seinem zweiteiligen schwarzen Anzug trägt er ein blütenweißes Hemd mit gestärktem Kragen, darüber leuchtet eine akkurat gebundene rote Krawatte. Auch an der Brille ohne Fassung und den sauber geschnittenen Haaren lässt sich erkennen, dass dieser Mann aus besseren Verhältnissen kommt. In seinen Händen liegt eine kleine Broschüre, die er den versammelten Journalisten präsentiert. Es ist das bundesweite Integrationsprogramm, an dem der gepflegte Herr, Innenminister Thomas de Maizière, lange gearbeitet hat.
Es gebe ein Problem mit der mangelnden Integration von Ausländern, sagt er auf der Pressekonferenz Anfang September in Berlin, über eine Million Migranten beherrschten nicht richtig Deutsch. Zehn bis 15 Prozent aller Deutschen mit ausländischem Hintergrund schätzt er als »integrationsunwillig« ein, die Teilnahme an Integrationskursen würden sie ablehnen.

In die Welt abseits von Parlamentsdebatten und Pressekonferenzen ist der Bundesinnenminister mit seinen Ansichten wohl selbst nur schwer zu integrieren. Etwa in den Alltag in der Emser Straße 29 in Berlin-Neukölln. Ein Leuchtschild über dem Eingang an der Ecke des Wohnhauses weist den kleinen Laden als »Sprach- und Integrationsschule e.V.« aus. Hier wird angeboten, was von Politikern jeglicher Couleur gerne als »Kern der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft« bezeichnet wird: Integrationskurse.
Die Schülerinnen und Schüler zwischen Mitte zwanzig und Ende fünfzig haben gerade Pause und stehen plaudernd und rauchend vor der Tür. Frauen mit offenen Haaren, Kopftüchern oder Sari, Männer mit Schuhen aus Krokodilleder, eine Dame trägt enge schwarze Hosen zu ihren High-Heels und unterhält sich angeregt auf Rumänisch. Etwas abseits von den Schülern steht Martin Rösner* mit einem Kollegen und dreht sich eine Zigarette. Er ist Deutschlehrer und wohl auch starker Raucher, zumindest deutet die gelblich verfärbte Fingerkuppe seines Zeigefingers darauf hin. Auf der Nase trägt er eine studentisch anmutende Brille, und mit dem Dreitagebart und dem roten Kapuzenpulli sieht er jünger aus als seine tatsächlichen 42 Jahre.
Martin ist ausgesprochen froh, an der Sprachschule beschäftigt zu sein, auch wenn die Arbeitsbedingungen vergleichsweise schlecht sind: »Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass ich davor arbeitslos war. Ich bin Akademiker und arbeite gerne und viel. Zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen, ist nicht mein Ding.«

Ledig und ohne Kinder, zufrieden mit der aufreibenden Arbeit und der geringen Bezahlung: Martin ist wohl die Art von Sprachlehrer, die man sich wünscht beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das die Sprachschulen in freier Trägerschaft finanziert. Denn die Kluft zwischen den Verlautbarungen des Bundesinnenministers, die Integration fördern zu wollen, und den durchschnittlichen 15 Euro Lohn pro Stunde, die ein Integrationslehrer in Berlin mit abgeschlossenem Hochschulstudium verdient, ist eklatant. Neben der geringen Bezahlung sind auch die Arbeitsbedingungen selbst äußerst prekär. Da die Lehrer als Honorarkräfte beschäftigt sind, können sie jederzeit ihre Arbeit verlieren. Eine Kündigungsfrist gibt es nicht. Ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann eine einwöchige Wintergrippe bereits ein finanzielles Problem verursachen. Kaum einer der Kollegen kann es sich wegen der hohen Abzüge für freiberufliche Lehrer leisten, in die Renten- und Krankenversicherung einzuzahlen. Denn wer ordnungsgemäß seine Beiträge zahlt, der hat bei den niedrigen Löhnen am Ende nicht genug Geld zum Leben.
»Wenn sich die Kollegen nicht bei der Krankenversicherung melden, tun sie das aus finanziellen Gründen«, sagt Martin. Doch auch das ist nicht risikolos. »Ich habe vom Fall einer Kollegin gehört, die vier Jahre keine Rentenversicherung zahlte, vom Amt erwischt wurde und nun die Beiträge in Raten von ihrem geringen Gehalt irgendwie nachzahlen muss«, fügt er hinzu. Die von ihm beschriebenen Arbeitsverhältnisse lassen die Integrationslehrer als akademisches Proletariat erscheinen. »Ein Kollege von mir hat ein Kind bekommen und kann nicht wie ich zwei Kurse am Tag unterrichten. Das ist dann natürlich hart, und finanziell sehr knapp. Ohne Elterngeld würden sie das wohl auch nicht schaffen.«

Nach einer Einschätzung der Gewerkschaft Verdi lag 2009 der Verdienst von Integrationslehrern bei Vollzeitbeschäftigung und nach Abzug aller Abgaben bundesweit bei 900 bis 1 300 Euro monatlich. Glücklich kann sich deshalb schätzen, wer als Integrationslehrer über einen finanzkräftigen Lebenspartner verfügt.
Nach einer von der Bundesregierung bei der Firma Rambøll Management in Auftrag gegebenen Studie verdienen viele der meist weiblichen Lehrkräfte ihren Unterhalt nicht allein, sondern leben in einem Haushalt mit einem weiteren Einkommen. Diese berufstätigen Frauen bleiben also trotz Arbeit finanziell abhängig von ihren Lebenspartnern. Hingewiesen wird in der Untersuchung auch auf den Umstand, dass mit einer besseren Entlohnung die Motivation der Lehrerinnen und Lehrer steigen und die Qualität des Unterrichts sich verbessern würde. Denn Formen des Unterrichtens, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler zugeschnitten sind, werden in den Integrationsklassen, die hinsichtlich des Alters, der Herkunft und des Bildungsniveaus sehr heterogen sind, nur selten eingesetzt. Aus der Studie geht hervor, dass die Bereitschaft zur zeit­intensiven Vor- und Nachbereitung bei einer unangemessen empfundenen Vergütung bei der Lehrerschaft abnimmt. »Es ist ein strukturelles Problem«, stellt Martin fest und nimmt damit seine Schule in Schutz, der er sich offenbar sehr verbunden fühlt.
Derselben Meinung ist auch Ahmed Durgun, der Leiter der Schule. »Tatsächlich bekommen Trägervereine wie auch unsere Schule eine Pauschale von 3 000 Euro pro Kurs vom Amt bezahlt«, erzählt er. Durgun sitzt an seinem Schreibtisch im ersten Raum hinter dem Eingang und macht alles gleichzeitig. Routiniert bittet er jemanden, der an der Tür klopft, zu warten, sagt einer Mitarbeiterin die Anschaffung eines Deutsch-Ungarischen Wörterbuches zu, nimmt ein Blatt von der Sekretärin entgegen und unterhält sich kurz auf Türkisch mit ihr. Durgun weiß, dass die Arbeitsverhältnisse der Lehrkräfte äußerst prekär sind. Er ist aber auch an die Pauschale gebunden. Damit müssen Lehrmaterialien, Bürokosten, Miet- und Heizkosten und natürlich auch die Lehrer bezahlt werden. »Feste Verträge kann man mit dieser Pauschale unmöglich finanzieren«, sagt Durgun, denn damit würde auf den Arbeitgeber auch die Zahlung eines Renten- und Krankenversicherungsanteils fallen, und dies würde das Budget sprengen. »Alle Integrationsschulen in Deutschland haben dasselbe Problem«, sagt er, während er ein Papier unterschreibt.
Dass aber die Integrationslehrer, ähnlich wie die Volkshochschullehrer über den Senat oder direkt beim BAMF angestellt werden, wie Durgun vorschlägt, dazu wird es in absehbarer Zeit wohl nicht kommen. Denn tatsächlich handelt es sich bei den miserablen Bedingungen, unter denen die Integrationslehrer arbeiten, nicht um einen der Politik unbekannten Missstand. Noch im Februar hatte de Maizière im Innenausschuss des Bundestags angekündigt, zu prüfen, ob und wie die niedrigen Honorare der Lehrkräfte angehoben werden könnten. Geschehen ist seitdem nichts.

In dem neuen Integrationsprogramm der Bundesregierung wird mit Hinblick auf die Rambøll-Studie damit angegeben, »dass sich das Integrationskurssystem bewährt hat und eine systematische und qualitativ hochwertige Förderung bietet«. Unerwähnt bleibt hingegen, wohl nicht ganz zufällig, die Stellungnahme des Gutachters, der neben der Reduzierung der durchschnittlichen Schülerzahl pro Klasse auch eine höhere Entlohnung der Lehrkräfte empfiehlt. Ebenso wurde in einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei »Die Linke« vom Oktober vergangenen Jahres die geringe Bezahlung problematisiert und die Arbeit der Sprachlehrer als »gesellschaftspolitisch enorm bedeutende Aufgabe« beschrieben, die »für einen Hungerlohn und ohne soziale Absicherung erbracht werden« müsse.
In der Antwort der Bundesregierung wurde zwar eine angemessene Vergütung der Lehrkräfte als »berechtigte Forderung« anerkannt. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass die Höhe der Lehrervergütung den freien Trägern unterliege. Ein Scheinargument, denn schließlich müssen die Träger mit den vom BAMF zur Verfügung gestellten Mitteln wirtschaften. Ohne Zweifel sind die prekären Arbeitsverhältnisse für die Lehrkräfte, die doch mit ihrem Unterricht den Kern der Integrationsmaßnahmen stellen, weder zufällig noch ungewollt.

Wer Martin im Klassenzimmer beobachtet, kann sich kaum vorstellen, dass er nie Lehrer werden wollte. Eigentlich wollte der studierte Germanist im kulturellen Bereich Fuß fassen. Da sich das aber als hoffnungslos herausstellte, studierte er nach einer abgebrochenen Karriere als Postbote Deutsch als Fremdsprache, um in der Erwachsenenbildung arbeiten zu können.
Im Klassenzimmer sitzt er keine Minute ruhig, sondern läuft zwischen eigenhändig auf Packpapier gezeichneten Grammatik-Tabellen und der Tafel hin und her, schreibt etwas an, gestikuliert und hält sich zu Ehren des Wortes »Zahnschmerz« die Wange. Trotz Martins Pantomime bewegt sich an diesem Tag der Zeiger der über der Tafel tickenden Uhr für die drei Männer und neun Frauen in dem Eltern-Integrationskurs wohl dennoch besonders langsam, denn es geht um Präpositionen.
Die meisten Schüler kommen aus arabischen Ländern, der Türkei oder Russland. Alle schlagen sich jetzt mit den gleichen Fragen herum: Woher? Wo? Wohin? »Der Mann tankt in, oder an, oder auf der Tankstelle?« fragt Martin mit aufgerissenen Augen. Irgendwann rebelliert in der hintersten Reihe eine ältere Frau gegen die Fragen nach Kasus und Präposition: »Ich 43 Jahre, mein Kopf voll«, setzt sie die deutschen Worte lachend zusammen. Sie wolle reden lernen, und die blöde Grammatik halte sie bloß auf. Sie erzählt, dass ihr das Lernen nicht schwer gefallen sei, als sie noch jünger war. Aber inzwischen arbeitet sie in einem Kindergarten als Putzfrau und in der Küche, und das viele Sitzen strengt sie an. Sie steht auf und hockt sich vor die warme Heizung.
Martin versteht es als seine Aufgabe, den Erwachsenen bei der Integration in die deutsche Gesellschaft durch die Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur behilflich zu sein. »Das Ziel des Integrationskurses ist, dass die Schüler im Alltag zurechtkommen. Dazu gehören Ämtergänge, Einkäufe, aber auch die Fähigkeit, deutsches Fernsehen verstehen zu können.« Und Martin ist stolz darauf, dass seine Anwesenheitslisten zu den vollständigsten an der Schule gehören. Er versucht, die Themen mit Humor zu vermitteln, um die Schüler zu motivieren. Denn nicht alle Schüler erscheinen freiwillig zum Unterricht.
Alle Einwanderer, die nach dem Zuwanderungsgesetz von 2005 nach Deutschland gekommen sind, müssen einen Sprachkurs besuchen. Wer vom BAMF zur Teilnahme an einem Integrationskurs aufgefordert wird, kann seinen Aufenthaltstitel verlieren, wenn er nicht zum Sprachunterricht erscheint. Wer vom Jobcenter geschickt wird, dem droht beim Fernbleiben eine Kürzung von zehn bis 30 Prozent der Leistungen.
»Selbstverständlich kann mir nicht wohl sein, wenn jemand gezwungen wird, zu mir in den Unterricht zu kommen«, gibt Martin zu. Dennoch spricht er sich für die Anwesenheitskontrolle aus, »denn ohne sie würden viele türkisch oder arabisch sprechende Migranten überhaupt nicht die Sprache lernen. Schließlich kann man in Neukölln mit seinen mehrsprachigen Supermärkten und Bäckereien auch ganz gut ohne Deutsch leben.« Den Zwang, in die Schule zu gehen, sieht er bei vielen als Beginn eines Prozesses, sich mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen.
»Am Anfang sind sie vielleicht nicht so motiviert, Deutsch zu lernen. Aber ich versuche, den Unterricht so zu gestalten, dass die Motivation dann kommt.« Nichtsdestoweniger bezeichnet er die Sanktionen, die denen drohen, die dem Unterricht fernbleiben, als »Hammer«.
Freiwillig darf man kurioserweise nicht an den Integrationskursen teilnehmen. Seit letzten Oktober müssen sich »Integrationswillige«, die von sich aus Deutsch lernen wollen, wegen einer Finanzierungssperre des Bundesamtes drei Monate gedulden. Bundesweit stehen derzeit 10 000 Menschen auf Wartelisten, was wohl nicht zuletzt ein Resultat der im April eingeführten Sparmaßnahmen bei den Sprachkursen ist. Bis zum Jahresende könnte sich die Zahl der Wartenden nach Angaben der Trägerorganisationen sogar noch verdoppeln.
Laut hat de Mazière zusammen mit der Einführung von strikteren Strafen auch die Verbesserung der Anwesenheitskontrollen in den Integrationskursen angekündigt, auch wenn solche Überprüfungen in der Praxis schon längst stattfinden. Mindestens einmal pro Monat erscheint ein Prüfer des BAMF unangemeldet in den Sprachschulen.
Auch in der Sprach- und Integrationsschule in der Emser Straße rufen die Mitarbeiter fehlende Teilnehmer der Sprachkurse zu Hause an und erkundigen sich nach den Gründen der Abwesenheit. Ein Vorgang, der leicht befremdlich wirkt, wenn man sich bewusst macht, dass es sich bei allen Schülern um erwachsene Menschen handelt. Darüber hinaus gibt es einer Stellungnahme der für die Integrationskurse verantwortlichen Trägerorganisationen zufolge »so gut wie keine Abbrecher aus mangelndem Integrationsinteresse«. Wenn der Kurs abgebrochen wird, dann liegt das in der Regel an Gründen wie Schwangerschaft, Krankheit, Arbeitsaufnahme, Umzug oder finanziellen Problemen.
Angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte und des mangelhaften Unterrichtsangebots für Migranten bleibt nur die Frage, welche Ziele der Innenminister mit seinem Integrationsprogramm tatsächlich verfolgt.

* Alle Namen von der Redaktion geändert