Frederik Stjernfelt im Gespräch über Aufklärung, rechte Nationalkultur und linken Multikulturalismus

»Der Kulturalismus ist eine reaktionäre Kraft«

Der dänische Autor Frederik Stjernfelt, Jahrgang 1957, ist Professor am Zentrum für Semiotik an der Universität von Aarhus. Er arbeitet außerdem als Kritiker für die Wochenzeitung Weekendavisen aus Kopenhagen und für die dänische Zeitschrift Kritik. Zusammen mit Jens-Martin Eriksen hat er ein vielbeachtetes Buch zur Kritik des Kulturalismus verfasst, aus dem kürzlich Auszüge auf Deutsch übersetzt bei perlentaucher.de veröffentlicht wurden.
Von

Ihr Buch »Die Politik der Segregation. Multikulturalismus – Ideologie oder Wirklichkeit« hat eine heftige Kontroverse in Dänemark ausgelöst. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben?
Wir hatten den Eindruck, dass die Debatte über den Multikulturalismus, wie sie innerhalb und außerhalb Dänemarks geführt wurde, in eine Sackgasse geraten war. Auf der einen Seite gab es einen unübersehbaren Aufschwung des nationalistischen Populismus, der den Wert der Nationalkultur betont und von den Immigranten und von allen anderen, die in irgendeiner Weise von der Leitkultur abweichen, die größtmögliche Anpassung verlangt. Auf der anderen Seite gab es den Multikulturalismus der Linken, der die Gleichberechtigung verschiedener Kulturen verteidigt und weitgehende Sonderrechte für die Angehörigen der Minderheitskulturen fordert. Diese beiden Strömungen empfinden einander als diametrale Gegensätze, wir meinen aber, dass sie in Wahrheit eng miteinander verwandt sind. Denn es handelt sich in beiden Fällen bloß um verschiedene Varianten des Kulturalismus. Beide überschätzen die Abhängigkeit des Einzelnen von der Kultur, in die er hineingeboren wurde; beide gehen manchmal so weit, zu behaupten, dass der Einzelne ganz und gar von der Kultur, der er angehört, geprägt werde. Eine solche Auffassung widerspricht, wie wir finden, den wichtigsten Idealen der Aufklärung: der Autonomie des Einzelnen, den persönlichen Rechten, der Gleichheit vor dem Gesetz und der offenen Gesellschaft. Alle diese Werte sind bedroht, sobald man das Individuum als Produkt und Bestandteil einer bestimmten Kultur begreift; dann wird die Kultur plötzlich wichtiger als Demokratie und Aufklärung. Da wir uns selbst zur Linken zählen, richtete sich unsere Kritik vor allem gegen den »harten« Multikulturalismus; ihm stellen wir eine »sanfte« Variante entgegen, die sich innerhalb des Wertekanons der Aufklärung bewegt.
Wie sahen die Reaktionen auf Ihr Buch in Dänemark aus?
Sie haben uns ein wenig überrascht. Die ersten Rezensionen kamen aus der rechten Ecke und waren ziemlich feindselig. Die wichtigste linksliberale Zeitung des Landes, Politiken, brachte eine umfangreiche Rezension und ein ganzseitiges Gespräch zwischen mir und dem Chefredakteur. Später erschienen einige Besprechungen, die unser Buch vom linken kulturalistischen Standpunkt kritisierten. Deshalb kann man wohl sagen, dass unser Versuch, eine aufgeklärte Position im Widerspruch zum rechten wie zum linken Kulturalismus zu etablieren, durchaus gelungen ist, zumal da der Begriff des Kulturalismus inzwischen zu einem Topos in dieser Debatte geworden zu sein scheint.
Multikulturalismus und die nationale Leitkultur sind nach Ihrer Auffassung bloß verschiedene Varianten des Kulturalismus?
Beide Konzepte haben eine gemeinsame Wurzel in der Ideengeschichte; sie kommen von Johann Gottfried Herder und der romantischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Der politische Nationalismus war ursprünglich mit dem Liberalismus verbunden, aber im 20. Jahrhundert entfernte er sich bekanntlich vom Liberalismus und wurde zu einem Anliegen der Rechten, das seinen extremen Ausdruck im faschistischen Nationalismus fand. Der harte Multikulturalismus hat dieselben Ursprünge und findet sich schon in den Anfängen der Anthropologie. In unserem Buch zeigen wir, wie der deutsche Emigrant Franz Boas, der Begründer der amerikanischen Anthropo­logie, Herders Ideen nicht nur auf Nationen, sondern auch auf indigene Völker anwandte und wie seine Schüler den ethnologischen Kulturbegriff etablierten: Jede Kultur sei eine geschlossene Totalität, vollkommen abgesondert von anderen Kulturen. Diese Auffassung hat beispielsweise Ruth Benedict 1934 in ihrem Buch »Urformen der Kultur« entwickelt, in dem sie sich gegen den kulturellen Relativismus wandte. 1947 wurden manche Diskussionen, die wir heute erleben, quasi vorweggenommen, als die Vereinigung amerikanischer Anthropologen gegen den Entwurf der Menschenrechtserklärung der Uno protestierte, und zwar mit der Begründung, der individuelle Universalismus verletzte die Rechte der Kulturen. Seitdem konkurrieren der Kulturalismus und die Menschenrechte um die Vorherrschaft in der Uno und in der internationalen Politik.
Ist es in Dänemark so wie in Deutschland, dass die Rechte die Nationalkultur beschwört und die Linke den Multikulturalismus?
Was diesen Punkt betrifft, ähneln die meisten westlichen Länder einander sehr. Zwar gibt es Unterschiede: In Frankreich beispielsweise haben wir Alain de Benoist und seinen »Ethnopluralismus«, eine erklärtermaßen rechtsextreme Version des harten Multikulturalismus, die davon ausgeht, dass jede Kultur einmalig ist, ihre berechtigten Ansprüche hat und bewahrt werden sollte – allerdings nur auf ihrem ureigenen Territorium. Aber im Ganzen bleibt es doch ein Rätsel, wie die ursprünglich universalistische Linke dazu kam, sich des harten Multikulturalismus anzunehmen. Schließlich bleibt der Kulturalismus in allen seinen Erscheinungsformen doch ein zutiefst reaktionäres, antimodernes Konzept, denn das Individuum wird aufgefordert, sich den Traditionen seiner Kultur zu unterwerfen.
Glauben Sie, dass diese beiden Formen des Kulturalismus sich ihrer Affinität bewusst sind?
Meistens nicht; und deshalb werden ihre Vertreter auch so wütend, wenn man ihnen ihre Gemeinsamkeiten vor Augen führt. Sie sehen die Vertreter der anderen Variante immer noch als ihre Erzfeinde an.
Ist es eigentlich möglich, den politischen Islamismus von einem kulturalistischen Standpunkt zu kritisieren?
Im Grunde schon – allerdings gibt es auf diesem Gebiet einige wichtige Spezialprobleme. In unserem Buch findet sich eine umfangreiche Fallstudie des Multikulturalismus in Malaysia, der angeblich besonders gut etabliert und hoch entwickelt ist. In diesem Land leben drei große ethnische Gruppen: die Mehrheit der muslimischen Malaien, die große Minderheit der Chinesen und die kleinere Minderheit der Inder. Hier geht der Multikulturalismus so weit, dass es nicht nur eine Gesetzgebung und eine Polizei für alle gibt, sondern daneben auch noch eine besondere Gesetzgebung und eine besondere Polizei für die Muslime. Außerdem gelten zum Beispiel auf dem Immobilienmarkt verschiedene Preise für verschiedene ethnische Gruppen.
In der Regel geht der Multikulturalismus davon aus, dass alle Kulturen gleichberechtigt sind, aber in Malaysia werden die Muslime privilegiert, weil sie die Mehrheit bilden und weil sie als Monotheisten zugleich Universalisten sind. Sie wähnen sich im Besitz religiöser Wahrheiten und beanspruchen deshalb besondere Rechte. Dazu gehört der Schutz vor Konversion, den keine andere Religionsgemeinschaft genießt; es ist für einen Malaien praktisch unmöglich, sich vom Islam abzuwenden.
Und es gilt eben für die meisten Strömungen des politischen Islamismus, dass sie sich nicht für eine Kultur unter anderen halten, sondern ganz universalistisch an ihre besondere Sendung glauben und von ihrem Sieg überzeugt sind. Sie sind eben gerade keine Multikulturalisten. Aber manchmal geben sie sich aus taktischen Gründen diesen Anschein, um den Zuspruch linker Multikulturalisten zu gewinnen, die sich dann dazu verleiten lassen, einen aggressiven religiösen Totalitarismus zu unterstützen. Eigentlich müssen wir nicht ausdrücklich betonen, dass wir jetzt vom Islamismus sprechen und nicht allgemein vom Islam als Religion. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass man nur den Islamismus in einer seiner Verkleidungen anzugreifen braucht – also zum Beispiel die Muslimbruderschaft oder eine ihrer Splittergruppen – , um sogleich von Islamisten und Multikulturalisten beschuldigt zu werden, man beleidige den Islam. Sagen wir es also ganz deutlich: Es ist hier von den politischen Zielen des Islamismus die Rede, nicht von der islamischen »Kultur« in einem weiteren und harmloseren Sinn.
In Ihrem Buch steht zu lesen, unterprivilegierte Gruppen würden von den wirklich wichtigen politischen Problemen abgelenkt, wenn sie sich zu sehr mit solchen Dingen wie Religion, Kultur und Identität beschäftigten. Das klingt wie die gute alte Linke. Erwarten Sie von der radikalen Linken, dass sie sich dem Kulturalismus am radikalsten entgegenstellt?
Dem britisch-indischen Autor Kenan Malik verdanken wir den Hinweis, dass der Multikulturalismus in Großbritannien dazu geführt hat, dass die Immigranten, die sich früher der Linken angeschlossen haben, nun in eine Unzahl religiöser oder kultureller Gruppen »balkanisiert« sind und einander nicht selten sogar bekämpfen, statt ihr gemeinsames Migrationsschicksal zu thematisieren. Der Multikulturalismus vernachlässigt die Menschenrechtsproblematik und betont stattdessen konservative Werte wie Religion und Tradition; dadurch werden gewisse reaktionäre Strömungen bestärkt, die ihre politischen Ansprüche auf ihre Religion gründen – heute vor allem der Islamismus. Einige linke Immigranten wie Kenan Malik oder Necla Kelek – um ein deutsches Beispiel zu nennen – haben das durchschaut und sprechen sich gegen den Multikulturalismus aus. Aber in der eingeborenen europäischen Linken ist diese Erkenntnis ziemlich selten.
Die französische Journalistin Caroline Fourest, die Sie in Ihrem Buch zitieren, beschreibt zwei Fraktionen der Linken, die antitotalitäre und die antiimperialistische. Ist diese Unterscheidung wichtig, um die linken Ambitionen hinsichtlich des Multikulturalismus zu verstehen?
Fourest, eine Linke der alten Schule und eine Feministin, hat die Probleme mit dem Kulturalismus erkannt, und sie fragt sich, wie die Linke quasi über Nacht kulturalistisch werden konnte. Ihre Erklärung lautet, dass es in der Linken zwei Orientierungsmuster gab: den antifaschistischen Kampf während des Zweiten Weltkriegs und den antiimperialistischen Kampf in der Nachkriegszeit. Diese beiden Vorbilder konnten in aller Ruhe gepflegt werden, bis plötzlich der radikale Islamismus auf den Plan trat. Denn vom Standpunkt des Antifaschismus musste er als Totalitarismus in einer neuen Verkleidung erscheinen. Manchmal wurde darauf hingewiesen, dass in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vier miteinander verwandte Totalitarismen entstanden sind: der Bolschewismus, der Faschismus, der Nazismus und schließlich im Jahr 1928 der Islamismus. Vom Standpunkt des Antiimperialismus nimmt sich der Islamismus allerdings ganz anders aus, nämlich wie der Erbe der antikolonialen, antiwestlichen Kräfte in der Dritten Welt, die der europäischen Linken immer sympathisch waren. Deshalb ist die Linke jetzt gespalten – je nachdem, welches der beiden Ideale man für das wertvollere hält.
Halten Sie eine Gesellschaft für möglich, in der die Kultur und die kulturelle Identität gar keine Rolle mehr spielen?
Gewiss nicht; aber ich finde, die Bedeutung der Kultur sollte auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Schließlich ist die Kultur nur eine von vielen verschiedenen Identitätsquellen. Neben ihr gibt es ja auch noch die Familie, die Arbeit, die politische Einstellung, das Geschlecht, die soziale Klasse, die Ökonomie, die Hobbys, den Sport, die Mode, die Musik usw. Wie der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen des öfteren betont hat, wird die Identität eines Menschen in der Moderne nicht von einem einzigen Umstand geprägt, sondern von einer ganzen Reihe verschiedener Gemeinschaften und Ideale, denen er sich verbunden fühlt. Im Unterschied zu einer solchen Auffassung ist der Kulturalismus eine entschieden reaktionäre Kraft, denn er will uns in eine Zeit zurückversetzen, als die individuelle Lebenswelt noch von einer einzigen Loyalität bestimmt wurde.
In Deutschland fürchten viele Menschen, und insbesondere viele Linke, dass die Kritik am Islamismus leicht in Rassismus umschlagen kann. In der Tat gibt es hier und in Europa einige, deren Ablehnung des Islam sich mit Ausländerfeindschaft verbindet. Trotzdem behaupten Sie, der klassische Rassismus sei inzwischen ausgestorben.
Wir denken dabei an biologistische Rassenlehren mit politischen Absichten. Solche Positionen haben im Westen keine Bedeutung mehr. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Fremdenfeindlichkeit mehr gäbe – ganz im Gegenteil. Aber die Behauptung, Kritik am Islamismus führe zum Rassismus, ist falsch. Man würde ja auch nicht sagen, der Antikommunismus sei eine Art von Rassismus gewesen, die sich gegen die Russen richtete, oder der Antinazismus bloß ein sich tarnender Hass auf die Deutschen. Wenn man den Islamismus angreift, wendet man sich gegen eine gewisse Sammlung religiöser und politischer Ideen und nicht gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen. Man kritisiert lediglich diejenigen, die dem Islamismus folgen und an ihn glauben. Die unbehinderte Diskussion über alle möglichen Meinungen und Weltanschauungen ist aber in einer offenen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Wir glauben, dass alle Menschen gleich sind, und halten deshalb nichts davon, die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen übermäßig zu betonen. Und genau das tut der harte Multikulturalismus, der, wenn man ihn bis an sein bitteres Ende weiterdenkt, zur Segregation führen muss. Daher auch der Titel unseres Buchs: »Die Politik der Segregation«. Die letzte Konsequenz des Kulturalismus ist eine Neuauflage der Apartheid.
Den Begriff der Islamophobie lehnen Sie ab. Aber hat es nicht doch manchmal den Anschein, als ob manche bei ihrer Kritik am Islam eher von diffusen Ängsten als von Tatsachen geleitet würden?
Da haben Sie Recht. Es gibt eine solche Art von Kritik. Sie muss korrigiert werden, und das geschieht ja auch ständig in zahllosen öffentlichen Diskussionen. Aber der Ausdruck »Islamophobie« wird in einem viel weiteren Sinn verwendet, und zwar in der Absicht, jede Kritik am Islam und am Islamismus zu unterbinden. Das beste Beispiel liefert die Menschenrechtskommission der Uno, die in den letzten zehn Jahren immer schärfere Resolutionen verabschiedet hat, um die »Diffamierung von Religionen« in allen Mitgliedsstaaten zu einem kriminellen Delikt zu machen. Dabei musste die »Islamophobie« immer als Beispiel dienen, ganz offensichtlich mit dem Ziel, die Kritik an der Religion überhaupt zu kriminalisieren und verstummen zu lassen. Übrigens halte ich es ohnehin nicht für statthaft, in politischen Diskussionen mit Begriffen zu hantieren, die aus dem Gebiet der Pathologie stammen – also zum Beispiel mit »Phobien« aller Art. Es ist nicht besonders fein, wenn man seinem Gegner unterstellt, er leide an irgendeiner Krankheit und komme deshalb zu seinen absonderlichen Meinungen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, der neue Rassismus spreche ständig von der Islamophobie. Meinen Sie damit umgekehrt, dass eigentlich diejenigen, die diesen Begriff verwenden, die wahren Rassisten sind?
Das wäre wohl übertrieben. Zwar gibt es den »Rassismus der Antirassisten«, wie der französische Philosoph Pascal Bruckner ihn genannt hat, aber er ist gewiss nicht der einzige »wahre« Rassismus. Leider ist Rassismus auch heute noch in vielen Formen und Verkleidungen anzutreffen.
Ganz allgemein: Für wie einflussreich und wie gefährlich halten Sie das politische Programm des Islamismus?
Seine Bedeutung zu beurteilen, ist nicht leicht. Zwar gibt es nur wenige Staaten, in denen der Islamismus an der Macht ist, nämlich Saudi-Arabien und den Iran, aber in einer Reihe anderer muslimischer Länder wie Pakistan, Afghanistan und Algerien verfügt er über großen Einfluss. Selbst in säkularen Staaten wie Ägypten sollte man seine indirekte Wirkung nicht unterschätzen. Was die muslimischen Immigranten in Europa betrifft, so gibt es widersprüchliche Erhebungen und Statistiken, aber meistens wird festgestellt, dass die Mehrheit den Islamismus nicht besonders attraktiv findet. Allerdings lässt sich eine beträchtliche Minderheit doch von manchen Aspekten des Islamismus beeindrucken.
Halten Sie es für nötig, in die Kritik am Islamismus auch die Lehren des Islam selbst, also den Koran, einzubeziehen? Oder handelt es sich um zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben?
Selbstverständlich besteht da eine ganz enge Verwandtschaft, aber Islam und Islamismus sind trotzdem nicht dasselbe. Wenn man den Islamismus angreift, meint man eine ganz bestimmte Interpretation des Koran. Aber es gibt viele Interpretationen, und es gibt viele ganz normale Muslime, die sich für theologische Fragen nicht sonderlich interessieren. Das ist bei den Christen ja genauso, und daran sollte man immer denken.
Welchen politischen Ansatz würden Sie vorziehen, den Islamismus zu kritisieren oder grundsätzlich für eine säkulare Gesellschaft zu kämpfen, die sich auf vernünftige Prinzipien gründet?
Ich glaube, der Säkularismus ist das wichtigste Ziel. Was aber nicht heißt, dass die ganze Gesellschaft streng rationalistisch werden soll. Denn der Säkularismus will ja nicht den Religionen alle Gläubigen abspenstig machen. Er ist viel bescheidener, er verlangt nur, dass keine Religion besondere politische Rechte beanspruchen darf. Und deshalb ist die Forderung nach besonderen religiösen und kulturellen Rechten einzelner Gruppen, die der Multikulturalismus erhebt, so beunruhigend. Man kann es nicht oft genug wiederholen, und auch die Gläubigen sollten es sich endlich klar machen: Nur der Säkularismus ist in der Lage, die Religionsfreiheit zu garantieren. Gerade die Abschaffung der politischen Sonderrechte, wie bestimmte Religionen sie bisher genossen haben, ermöglicht es den Angehörigen aller Religionen, gleichberechtigt am politischen Leben teilzunehmen.
In allen nicht säkularen Staaten kann man beobachten, wie die Mehrheitsreligion politische Privilegien erwirbt und die anderen Religionen zu unterdrücken beginnt. Denken Sie an die Kopten in Ägypten, an die Sunniten und die Bahai im Iran oder – um ein europäisches Beispiel aus der Zeit vor dem Säkularismus zu bemühen – an die Juden in den protestantischen Staaten Deutschlands und Skandinaviens im 18. Jahrhundert. Meistens wissen die Angehörigen von Minderheitsreligionen ganz genau, dass es der Säkularismus ist, der ihnen helfen würde, weil er ihnen das Recht zugesteht, ihren Glauben ungehindert auszuüben. Aber selbstverständlich hat die Religionsfreiheit ihren Preis. In säkularen Staaten darf keine Glaubensgemeinschaft ihre eigene Gerichtsbarkeit und ihre eigene Polizei oder Miliz unterhalten oder irgendwelche Regeln erlassen, die den staatlichen Gesetzen widersprechen.
Wie sollte nach Ihrer Meinung die Antwort auf den politischen Islamismus in Europa lauten? Und wer sollte sie ihm geben?
Ich glaube nicht, dass es nur eine Antwort gibt. Zunächst sollten wir die Einwanderung in aller Ruhe zur Kenntnis nehmen und uns klar machen, dass wir dabei mit ganz normalen Menschen zu tun haben. Wichtig ist zweitens eine furchtlose öffentliche Diskussion. Eine Figur wie Yusuf Abdallah al-Qaradawi, einer der führenden Köpfe der Muslimbruderschaft, sollte in aller Öffentlichkeit beleuchtet werden, und man sollte, ohne den Vorwurf der »Islamophobie« zu fürchten, über seine abscheulichen Ansichten sprechen: über seine Rechtfertigung ehelicher Gewalt, der Ermordung von Homosexuellen und sogar des Holocaust und über seine Unterstützung von Selbstmordattentätern. Gegen die terroristische Variante des Islamismus helfen allerdings nur polizeiliche und strafrechtliche Maßnahmen, die ja auch längst ergriffen worden sind.
Hat der Begriff des Universalismus nicht längst eine neue Definition verdient? Er spielt in der Debatte immer wieder eine große Rolle, wird von verschiedenen Leuten jedoch ganz nach Belieben und Bedarf gebraucht.
In der Tat ist dieser Begriff vieldeutig. Der Islam ist eine universalistische Religion, ebenso wie das Christentum, denn beide wollen die ganze Welt bekehren. Selbstverständlich ist diese Art von Universalismus nicht unser Anliegen. Wir meinen die klassischen universellen Freiheitsrechte, die es dem Individuum erlauben, seine politischen Überzeugungen, seine Religion und die Gemeinschaften, denen es sich verpflichtet fühlt, frei zu wählen und zu wechseln. Auch wenn sie 1789 in Frankreich zum ersten Mal formell in Kraft gesetzt wurden, sind diese Rechte nicht allein das Produkt der europäischen oder westlichen Kultur. Die Denker der Aufklärung waren beeinflusst von der Antike, vom alten China, von muslimischen Kulturen, vom präkolumbianischen Amerika. Sie waren keine engstirnigen Eurozentristen. Schließlich mussten sie sich erst in einem Jahrhunderte währenden Kampf gegen die europäische Tradition durchsetzen, gegen die christlichen Kirchen und die Aristokratie. Der Universalismus der Aufklärung entsprang eben nicht wie von selbst der europäischen Kultur – ganz im Gegenteil.

Übersetzung aus dem Englischen: Joachim Rohloff