Ein Rückblick auf die Nuller Jahre. Teil II einer Serie

Wie ein Schluck Bananensaft, der aus einem umgefallenen Glas läuft

Waren die Nuller Jahre nicht eigentlich sehr langweilig und was wäre daran so schlimm?

Das Merkwürdige an den Jahren 0 bis 10 im zweiten Jahrtausend des christlichen Kalenders ist, dass an ihnen nichts wirklich merkwürdig ist. Sie waren wie die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, ein bisschen turbulent, aber eher langweilig. So kommt es den hiesigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zumindest vor. Klar, die Bundeswehr steht in Afghanistan, aber hat sie nicht auch schon im Jahr 1999 geholfen, Serbien zu bombardieren? Am 11. September 2001 wurde von einer kleinen Gruppe Todessüchtiger und ihren höchst lebendigen Religionsführern die bisherige Weltordnung erschüttert, grundsätzlich, nachhaltig, unabänderlich. Doch war die Veränderung nicht schon abzusehen gewesen? Hatte man es nicht schon vorher gewusst? Ist es nicht so, dass der 11. September 2001 gewissermaßen nur her­vorhob, was sich mit wesentlich weniger ­erschreckenden Attentaten oder Kriegen oder Kriegsdrohungen abzeichnete? Und machen die da oben nicht sowieso, was sie wollen? Und die große Wirtschaftskrise? Ja, wo denn? Hier? Bei Aldi und Rewe sind die Regale voll! Der Euro? Ach, geh mir weg. Die Bevölkerungsmehrheit hierzulande, die vermeintlich Nicht-Betroffenen, sie jedenfalls stören sich an nüscht. Und Social Networks? Schon gut, da machen wir alle mit, doch ändert es was? Ändert es uns? Außer Frank Schirrmacher mag das so recht niemand glauben. Das Fernsehen ist schlechter geworden, wie all die Jahrzehnte zuvor, die Brötchenpreise waren auch mal niedriger. Die letzte Dekade scheint einfach auszulaufen, wie ein Rest Bananensaft aus einem um­gestoßenen Glas ausläuft, langsam, glibberig, man mag nicht hinschauen.
Vor 100 Jahren dagegen, da ging es ordentlich rund: Der Erste Weltkrieg stand ja bereits vor der Tür, zugleich hatte der Halleysche Komet gedroht, alles Leben auf der Erde auszulöschen, und flog dann doch vorbei. Traurig für jene, die deshalb ihr letztes Geld verfeiert hatten. Auch sonst ging es nur zur Sache: Neue Musik und Modetänze kamen aus den USA, die ihrerseits noch ganz neu waren, jeweils noch irrere künstlerische Moden erschütterten ganz Europa, Hauptstädte wurden zu Weltstädten.
Paul Valéry hatte bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts seine profunden Schwierigkeiten mit dem herkömmlichen, epischen Romanschreiben öffentlich gemacht, Hugo von Hofmannsthal gleich die Sprache als solche mit Skepsis betrachtet, auch Rilke ging kurzzeitig die formale Strenge flöten. Freud hatte den Traum und den Sexus enträtselt, alle konnten nun in ihr Innerstes schauen. Nicht-Weiße wurden von einigen Weißen wieder als Menschen wahrgenommen. Frauen kämpften um ihre Rechte. Der Sozialismus blühte, die Bolschewiki revolutionierten ihn. Noch gab es massenhaft Könige, Kaiser und Zaren, in Schlössern voller Prunk, ihre Throne allerdings wackelten schon. Zugleich fanden die Völkischen, die die Moderne bekämpften, und die Rassisten rasch zahlreiche Anhänger, und jede noch so krude Theorie konnte sich in gedruckter Form millionenfach verkaufen. Was für eine Zeit! Verglichen mit den vergangenen zehn Jahren war damals die Hölle los, und jede und jeder war beteiligt! Jeder sein eigener Nervenzusammenbruch! Jede ihr eigener Aufstand!
So jedenfalls lesen sich heute Chroniken über die wilden Jahre zwischen Nietzsches Tod und der Gründung des FC St. Pauli. Doch die Realität sah anders aus. Nicht nur, dass viele der bis heute nachwirkenden Neuerungen und Denkansätze damals nur ein paar Happy Few zugänglich waren und dass die Mehrheit sich in Fabriken, Waschstuben und auf Äckern den Rücken rumm schuftete.
Auch Gymnasiasten, Salondamen und Hochschullehrer waren höchst unzufrieden. So schrieb der junge Dichter Georg Heym im Jahr 1910, zwei Jahre vor seinem Unfalltod, folgendes in sein Tagebuch: »Es ist immer das Gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts, nichts. (…) Würden doch einmal wieder Barrikaden gebaut, ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es nur, dass man einen Krieg begänne, er mag auch ungerecht sein.« Dieser Eintrag ist symptomatisch für den damaligen Zeitgeist, und nicht nur junge Männer wollten gern erschossen werden. Auch ältere Herren und manche Dame, Dichter wie Politikerinnen, sie alle sehnten sich nach der blutigen Erlösung aus der zwar als anstrengend, zugleich aber auch als langweilig empfundenen Zeit – Thea von Harbou, Thomas Mann oder Robert Musil langweilten sich auch. Daher war im deutschsprachigen Raum der Jubel so groß, als das Attentat eines bosnischen Serben auf den österreichischen Thronfolger – ein Anschlag, vor dem zuvor mehrfach gewarnt wurde – gelang und so den langgesuchten Anlass zum Ersten Weltkrieg gab. Selbst Erich Mühsam verlor im August 1914 für einen Augenblick restlos den Verstand.
Die ersten zehn Jahre dieses Jahrhunderts sind jedoch nicht mit den ersten zehn Jahren des vorigen vergleichbar. Diese Vergleiche sind immer willkürlich – warum nimmt man nicht beispielsweise Jahrhunderte und vergleicht sie anstelle von Dekaden? Weil dann die Vergröberungen noch offensichtlicher wären.
Zudem gilt weiterhin der Satz Hegels, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginne, Erkenntnis sich also erst spät einstellt, nicht mitten im Gewühl. Das letzte Wort über das ablaufende Jahrzehnt ist also noch längst nicht gesprochen, viele seiner Neuerungen und Probleme sind als solche noch gar nicht erkannt. Hinterher ist man immer schlauer.
Der Topos der Langeweile ist jedoch interessant, er ist in diesen ersten zehn Jahren wieder so präsent wie lange nicht mehr, und das trotz der oben aufgezählten Ereignisse. Aber man langweilt sich und freut sich, wenn was los ist. Und diese Langeweile gleicht schon sehr der Langeweile, die Georg Heym empfand.
Man säuft in der U-Bahn, auf Schützenfesten und täglich, man kifft, kokst, fickt und ist doch nur genervt. Man arbeitet sich wund, kommt mit dem Geld nicht aus, hat Tausende von Medien gleichzeitig zur Hand, ist bestens informiert, ist hochnervös, verliert seine Konzentrationsfähigkeit, wählt grün, aber man langweilt sich zugleich und schaut sich Mario Barth oder Harald Schmidt im Fernsehen an, gähn, und die Spätnachrichten sind auch immer die gleichen, Tote im Nahen Osten, Naturkatastrophe, Serienmörder, Sozialkürzungen, gähn, gute Nacht, Schatz.
Man sucht also bessere Unterhaltung. Man schlägt sich daher um Bahnhöfe und nicht um die Rente, man schlägt sich um des Schlagens willen, regional, mit der ganzen Identität. Der Buchmarkt wird in diesem Jahr mit Büchern zu Demos, Revolten und Ungehorsam geflutet, mit Protestanleitungen, eher unpolitischen, und selbst in Springers Boulevardblättern ist nur noch selten von »Chaoten« die Rede. Der »gesunde Volkszorn« kann dagegen ungezügelt drauflosschlagen, unter Beifall, der Ton wird rauer. »Hartz-IV-Betrüger«, »Kinderschänder«, »kriminelle Ausländer«, »die Politiker«, sie erwecken noch ein bisschen Leben in den Leuten. Das ist besorgniserregend.
Angesichts dessen ist mir ein allgemeines Gefühl von Langeweile allemal lieber. Selbst da, wo es dafür überhaupt keinen Anlass gibt. Wie etwa in diesem Jahr und den Jahren davor.