Hausbesetzungen und Stadtentwicklungspolitik in Rio

Rio räumt um

Rio de Janeiro putzt sich für die WM und die Olympischen Spiele heraus. Die Stadtentwicklungsprogramme führen vor allem zu einer Verdrängung der Armut.

»Für die Leute drinnen waren es schreckliche Momente«, berichtet ein noch sichtlich schockierter Hausbesetzer aus der Gruppe »Guerreiro Urbano« (Urbaner Krieger) auf einer Versammlung von Unterstützern nach der einige Tage zuvor erfolgten Räumung. Dabei hatte alles so friedlich angefangen. Im Morgengrauen des 1. November besetzte eine Gruppe von 50 Familien ein seit über 15 Jahren ungenutztes Gebäude der Sozialversicherungsanstalt im zentrumsnahen Stadtteil Santo Cristo von Rio de Janeiro. Der Sicherheitsdienst hatte am Tag zuvor frei bekommen, und so konnten die Besetzer ungestört mit ihren Habseligkeiten einziehen. Doch das neue Wohnglück währte nicht lange. Ohne gerichtlichen Räumungsbefehl begann bereits gegen 8.30 Uhr die Bundespolizei zusammen mit der Militärpolizei die Räumung des Hauses und ging dabei äußerst brutal vor. Anwesende Unterstützer und Besetzer wurden mit Pfefferspray besprüht und unbewaffnete Besetzerfamilien mit Maschinenpistolen bedroht.
Die Polizei in Rio de Janeiro ist für ihre Brutalität bekannt, doch eine derart gewaltsame Räumung kam selbst für einige erfahrene Hausbesetzer überraschend. Auf dem Unterstützungsplenum wurde anschließend diskutiert, ob Besetzungen unter diesen Bedingnungen überhaupt noch erfolgreich sein können. Bei der gegenwärtig in Rio de Janeiro herrschenden Stadtentwicklungspolitik sieht es schlecht für sie aus.
»Wir wollen Wohnraum, weil es ein in der Verfassung garantiertes Recht ist«, heißt es im Manifest der Besetzergruppe. Das mag deutschen Hausbesetzern seltsam erscheinen, geht es doch bei ihnen meist um »Freiräume« und die Erkämpfung »autonomer Zonen«, doch die »Guerreiros Urbanos« fordern ganz verfassungskonform, was ihnen zusteht. Seit dem 10. Juli 2001 existiert mit dem Gesetz Nummer 10 257 das »Estatuto da Cidade«; und dieses Statut der Stadt stellt klar, dass jeder Besitz eine »soziale Funktion« erfüllen muss. Unter anderem geht es darum, die Spekulation mit städtischen Grundstücken zu unterbinden. Falls der Besitz diese soziale Funktion nicht erfüllt, handelt der Besitzer gegen die Verfassung und der Staat muss eingreifen. Theoretisch jedenfalls. Wenn ein noch bewohnbares Gebäude seit über 15 Jahren ungenutzt herumsteht, handeln die Besetzerinnen und Besetzer daher höchst verfassungstreu, wenn sie dem Staat ganz selbstverantwortlich die Suche nach Wohnraum abnehmen und das leer stehende Gebäude wieder einer sozialen Funktion zuführen. Das Gesetz rechtfertigte Besetzungen, so sehen das die »Urbanen Krieger«.

Dennoch haben die Repressalien gegen Besetzungen und die Räumungen von »illegalen« Siedlungen und Favelas zugenommen. Denn statt vom Recht auf moradia digna (würdigen Wohnraum), spricht die Stadtverwaltung von »Revitalisierung« und »Aufwertung« des Zentrums. Einziehen sollen in die »wiederbelebte« Stadt nämlich nicht die städtischen Armen, sondern Geschäfte, Büros, Menschen mit Geld. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und um überakkumuliertes Kapital neuen Verwertungsmöglichkeiten zuzuführen, sollen Investitionen in Immobilien wieder attraktiv gemacht werden. In Rio de Janeiro gibt es in Innenstadtnähe und vor allem im Hafengebiet noch jede Menge »unterbewertete« Gebäude und Grundstücke.
Die Voraussetzungen zur Gentrifizierung vieler Stadtteile sind daher relativ gut, auch weil aus historischen und geographischen Gründen viele Favelas in attraktiven Lagen, direkt neben wohlhabenden Gegenden liegen. Die Stadt liegt zwischen der Bucht von Guanabara und der Hügelkette Serra do Mar und dehnte sich im Laufe ihrer Entwicklung über verschiedene Hügel aus. In der Ebene entstanden vor allem reichere Wohngegenden, während sich die städtischen Armen meist »illegal« an Hängen ansiedelten, die als nicht bebaubar galten. So liegen einige Favelas an idyllischen Berghängen mit Blick auf das Meer und die Swimmingpools der Reichen. Die sozial-räumliche Segregation schlägt sich in den Bezeichnungen morro (Hügel) und asfalto (Asphalt, Straße) nieder, die auch völlig verschiedene Lebenswelten illustrieren: prekäre, kriminalisierte Favelas auf der einen und anerkannte Wohngegenden der Mittel- bis Oberschicht auf der anderen Seite. Die Mieten haben sich vielerorts innerhalb der vergangenen zwölf Monate mehr als verdoppelt; sie sind inzwischen mit denen in Paris und New York vergleichbar.

Die Nähe zu den als gefährlich geltenden Favelas senkt jedoch die Immobilienpreise, daher liegt es im Interesse des Kapitals, entweder die Favelas aufzuwerten und damit einer sogenannten weißen Vertreibung – gemeint ist damit Gentrifizierung – Vorschub zu leisten oder die arme Bevölkerung mit direkteren Methoden an den Stadtrand zu drängen. Trotz des Nebeneinanders von armen und reichen Wohngegenden, vornehmlich im Süden der Stadt, gibt es auch in Rio de Janeiro das Phänomen einer Verdrängung der Armut – wenn sie auch noch nicht die Ausmaße anderer Großstädte wie z.B. São Paulo angenommen hat. Die arme Bevölkerung soll sich an den infrastrukturell schlecht versorgten Stadtrand verziehen und dort mit ihrem Elend niemanden stören. Doch die Nähe zum Zentrum ist gerade für viele Arme überlebenswichtig. Viele arbeiten als Pförtner und Putzfrauen in den Häusern der Reichen. Schon jetzt gibt es viele »Werktagsobdachlose«, die auf den Gehwegen der Innenstadt übernachten und nur am Wochenende nach Hause zum Stadtrand pendeln, weil sie sich die Transportkosten und stundenlangen Anfahrten nicht täglich leisten können.
Zwar existieren Regierungsprogramme für den sozialen Wohnungsbau, doch führen auch sie zur Peripherisierung der Armut. Das Projekt »Minha Casa – Minha Vida« (Mein Haus – mein Leben) verspricht zwar ein Haus, aber weit weg am Stadtrand, und richtet sich vornehmlich an Wohnungssuchende, die ein Einkommen in Höhe von mindestens drei Mindestlöhnen haben. Es kann kaum die große Nachfrage der Ärmsten nach Wohnraum befriedigen. Auch das Stadtentwicklungsprojekt »Porto Maravilha« (Hafenwunder) sieht zur »Aufwertung« des Hafengebiets ausschließlich Touristenattraktionen mit schicken Cafés an den Docks und Wohnhäuser für die Mittelschicht vor.
Die Pläne zur »Revitalisierung« des Hafens und des Zentrums gibt es schon seit über 20 Jahren. Der Moment für ihre Realisierung ist jetzt jedoch günstig. Mit Blick auf die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 will sich Rio mit allen Mitteln ein besseres Image zulegen. In diesen Kontext lassen sich nicht nur die aktuelle militärische Erstürmung des »Complexo do Alemão« einordnen, sondern auch die Besetzung von ausgesuchten Favelas durch »pazifizierende Polizeieinheiten«, die UPP (Unidades de Polícia Pacificadora), und dem 2009 eingeführten Choque de Ordem, eine Art besonders dreiste Ordnungsamtsstreife.
Die Präsenz der UPP führt zwar zu einem Ende der Schießereien , aber auch zur ständigen polizeilichen Kontrolle der Anwohner. Infrastrukturelle Verbesserungen wie eine bessere Gesundheitsversorgung, funktionierende Kanalisation und gute Schulen, folgen kaum auf die vermeintliche Befriedung. Und der Choque de Ordem sorgt nicht nur für »sichere« Strände und »saubere« Gehwege, sondern verfolgt auch fliegende Händler wie Kriminelle, wodurch viele von ihnen ihre Lebensgrundlage verlieren. Derweil sind die Mieten und Grundstückspreise in einigen dieser Favelas bis zu 400 Prozent gestiegen.
So greifen die verschiedenen politischen Programme und Maßnahmen ineinander. Im Manifest von »Guerreiro Urbano« und auch von anderen sozialen Bewegungen werden sie als eine gemeinsame Strategie kapitalistischer Stadtpolitik zur sozial-räumlichen Segregation kritisiert. Ob angesichts dieser Strategie die Hausbesetzungen im Zentrum künftig noch Chancen haben? Die kriegsähnliche Gewalt, mit der Polizei und Militär vor zwei Wochen im »Complexo do Alemão« gegen die Drogenkartelle angetreten sind, lässt viele Besetzer das Schlimmste befürchten.