Inspiziert die Müllberge von Neapel

Wo der Müll zu Gold wird

In Neapel werden die Müllberge immer größer. Der »Ausnahmezustand«, von dem Politiker reden, ist dort schon seit Jahren Normalität. Daran, dass keine Lösung gefunden wird, verdient vor allem die Camorra. Denn der illegale Handel mit dem Müll sorgt für Riesengewinne.

Für die Krippenbauer in der via San Gregorio Armeno läuft das Weihnachtsgeschäft auf Hochtouren. Am 8. Dezember wird in Neapel anlässlich des katholischen Hochfests der »Unbefleckten Empfängnis« die Weihnachtskrippe aufgebaut. Doch der traditionelle presepe napoletano ist keine einfache Krippe. Die Stallszene ist in eine weitläufige Pappmachélandschaft integriert, in der sich Figuren des Alltagslebens drängen: Fisch- und Obstverkäufer, Pizzabäcker, Gaukler, Bettler und Stadtheilige, ebenso wie Fußballspieler des SSC Neapel und Politiker. Die Krippe ist eine Bühne, auf der die Weihnachtsgeschichte alljährlich neu in Szene gesetzt wird. Dieses Jahr trägt die Heilige Familie Mundschutz. Das Jesuskind ist nicht auf Stroh gebettet, sondern auf schwarze Müllsäcke.
Neapel erlebt wieder einmal eine Abfallkrise. Knapp 3 000 Tonnen Müll haben sich in den Straßen der Stadt angehäuft. Täglich werden 1 450 Tonnen neu produziert, zu den Dezemberfeiertagen könnten es sogar noch mehr werden. Doch der städtische Gesundheitsbeauftragte verspricht: »Neapel wird zu Weihnachten vom Müll befreit sein, die Stadt wird sich den Festtagstouristen anständig präsentieren.« Bislang gelingt es der Stadtverwaltung allerdings nicht, wenigstens den schönen Schein zu wahren: Die Fassaden der Geschäfte in der zentralen Einkaufsstraße, der Via Toledo, sind zwar auf Hochglanz poliert und die Schaufenster festlich beleuchtet, doch vor den Eingangstüren der Boutiquen türmen sich die Müllsäcke. Hinter den Abfallbergen haben asiatische Migranten ihre Handkarren aufgestellt. Der Wall aus Plastiktüten scheint die ambulanten Händler immerhin vor den Schikanen der Polizeipatrouillen zu schützen.

Auf allen größeren Plätzen der Stadt wurden die von der Oberbürgermeisterin Rosa Russo Jervolino angeordneten »Maßnahmen zur Verringerung der Konsequenzen des Abfallnotstands« plakatiert. Öffentliche Einrichtungen und pri­vate Unternehmen werden zur strikten Mülltrennung verpflichtet, die verschiedenen Abfallbehälter dürfen nur zu genau festgelegten Zeiten auf die Straße gestellt werden. Wer gegen die Anweisung verstößt, muss ein Bußgeld bezahlen. Hohe Geldstrafen drohen auch denjenigen Stadtbewohnern, die das Müllchaos ausnutzen und ihren Sondermüll auf die liegengebliebenen Hausmüllberge werfen. Außerdem ist es auf unbestimmte Zeit verboten, aus kommerziellen oder politischen Gründen Flugblätter zu verteilen. Der Umweltschutzorganisation Legambiente gehen die Maßnahmen nicht weit genug. Gemeinsam mit den Grünen hat sie eine Petition zur vorübergehenden Reduzierung des Verpackungsmaterials vorgelegt.
Dass der Aufruf angesichts der bevorstehenden Feiertage kaum Erfolg haben wird, zeigt sich auf der Piazzetta Nilo. Dort befindet sich hinter der Statue des Flussgottes, der passenderweise ein den Überfluss symbolisierendes Füllhorn im Arm hält, der Eingang zu einem der berühmtesten Papierwarengeschäfte der Stadt. Der Laden quillt über von wunderbar unnötigem Weihnachtsschmuck und Geschenkdekorationen. Der Ladenbesitzer ist nicht ansprechbar, da er von Kundschaft umringt ist.
Auf der monumentalen Piazza del Plebiscito wartet Matteo. Er kümmert sich derzeit um den Internetauftritt von Umberto Ranieri, der sich für die Demokratische Partei um das Amt des Spitzenkandidaten bei der Oberbürgermeisterwahl im Frühjahr bewirbt. Heute muss Matteo eine Informationsveranstaltung aufzeichnen, zu der die Vertreter der neapolitanischen Linksparteien eingeladen haben, um ihr Konzept für eine neue städtische Abfallpolitik vorzustellen.
In der Buchhandlung »Treves«, unter den Arkaden der Piazza, versammeln sich allerdings nur wenige Parteifreunde. Das liegt nicht nur daran, dass es seit Stunden in Strömen regnet. Nachdem die Linken jahrzehntelang Neapel, die Provinz und die Region regiert haben, klingen die Beteuerungen, in Zukunft eine »neue« Abfallpolitik betreiben zu wollen, hohl. Matteo ist die Ernsthaftigkeit, mit der Ranieri ein banales, andernorts seit Jahrzehnten praktiziertes Programm zur differenzierten Abfallbeseitigung vorstellt, peinlich. »Der Job nervt mich«, gibt er mit einem entschuldigenden Blick zu.
In den Bücherregalen finden sich viele historische Bücher. Zum Beispiel eine Biographie des Fischverkäufers Masaniello, der im 17. Jahrhundert an der Spitze eines Volksaufstands gegen die königlichen Steuereintreiber stand. Volksaufstand? »Vergangene Woche hat die Stadt die Abfallrechnungen verschickt«, sagt er leise, »jeder Haushalt zahlt in Neapel im Schnitt 400 Euro im Jahr.« In kaum einer italienischen Stadt sind die Abfallgebühren höher. »Die Leute regen sich auf, aber sie rebellieren nicht mehr. Die meisten zahlen, auch wenn vor ihrem Haus die Müllberge anwachsen.«
Bei der großen Müllkrise vor zwei Jahren war die Stimmung in der Stadt weniger apathisch. Es gab Protestaktionen und eine große nationale Demonstration. In den vergangenen Wochen blieb der Widerstand dagegen punktuell und lokal begrenzt. So verhinderte Ende Oktober eine Bürgerbewegung die Einrichtung einer zweiten Mülldeponie in Terzigno, einer Kleinstadt östlich von Neapel. Zu Freude über den Erfolg besteht wenig Anlass. Der Müll wird vorerst nur einige Kilometer weiter nach Chiaiano verschafft. Vor zwei Jahren hatte es auch dort eine starke Protestbewegung gegen die Einrichtung einer Müll­kippe gegeben, dann aber hatte die italienische Regierung das Deponiegelände zu militärischem Sperrgebiet erklärt und damit den Widerstand gebrochen. In die Tuffsteingrube werden seither unsortierte Haus- und Industrieabfälle gekippt.
Eine Delegation der Europäischen Union besuchte Ende November Chiaiano und andere Deponien rund um Neapel. EU-Umweltkommissar Janez Potocnik erklärte zum Abschluss der Inspektion, dass offensichtlich seit 2008 keine Maßnahmen zur Verbesserung der Situation eingeleitet worden seien: »Neapel fehlt nach wie vor ein System zur Mülltrennung, deshalb bestehen weiterhin erhebliche Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt.« ­Bereits im März hatte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg Italien wegen des mangelhaften Müllbeseitigungsssystems in Kampanien verurteilt. EU-Inspektionsmitglied Judith Merkies kündigte an, dass die eingefrorenen 145 Millionen Euro Fördermittel aus dem EU-Fonds für regionale Entwicklung so lange nicht ausgezahlt würden, bis Italien ein funktionierendes Konzept zur Müllbeseitigung vorgelegt habe. Sollte sich die Situa­tion innerhalb der kommenden 24 Monate nicht ändern, könnte der EU-Gerichtshof entscheiden, die Fördergelder zu streichen.
Auf der Piazza Dante organisieren die sogenannten BROS-Arbeitslosen eine Aktion zur Mülltrennung. BROS steht für ein größtenteils von der Stadt finanziertes Programm zur Unterstützung und Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser. Mehrere tausend Menschen nahmen in den vergangenen Jahren an Pilotprojekten zur alterna­tiven Abfallentsorgung teil. Doch noch immer werden in Neapel weniger als 20 Prozent des anfallenden Hausmülls getrennt. Es gibt in ganz Kampanien keine Kompostieranlage. Kleinere Gemeinden südlich von Neapel, die damit begonnen haben, ihren Biomüll getrennt zu sammeln, sind gezwungen, diesen für 200 Euro pro Tonne zur Aufbereitung nach Sizilien zu schicken. Mit ihrer Aktion bewerben sich die BROS-Arbeitslosen um eine städtische Anstellung als »professionelle Müllentsorger«.

Ciro, der während der Müllkrise vor zwei Jahren noch ausländische Journalisten durch das giftmüllverseuchte Hinterland Neapels führte, arbeitet inzwischen für eine Kooperative, die EDV-An­lagen und sonstigen Elektroschrott beseitigt. Auch diese Kooperative entstand als öffentliches Subventionsprojekt. Die BROS-Arbeitslosen kennt er nicht. Es gibt keine Vernetzung zwischen den verschiedenen kommunalen Projekten. »Der Müll ist ein lukratives Geschäft, alle suchen für ihre jeweilige Wählerklientel einen Anteil vom großen Ganzen abzubekommen.«
2008 ließ sich Silvio Berlusconi für das »Wunder von Neapel« feiern, als er mit Hilfe der Armee die Müllberge der Innenstadt binnen weniger Tage abtragen ließ. Sein vollmundiges Versprechen, auch dieses Mal das Problem schnell zu lösen, konnte er nicht halten. In den Regionalnachrichten werden Ausschnitte der Pressekonferenz gezeigt, die der Ministerpräsident am späten Nachmittag in der Präfektur abgehalten hat.
Berlusconis »Weihnachtsmasterplan« sieht vor, dass die Regierung 150 Millionen Euro für Sofortmaßnahmen zur Verfügung stellt. 250 Tonnen Abfall pro Tag sollen in Deponien der Nachbarprovinzen Avellino und Caserta abgekippt, der Rest auf andere Regionen des Landes verteilt werden. Damit der Abtransport binnen zweier Wochen abgeschlossen werden kann, sollen 400 Soldaten in Neapel zum Einsatz kommen, um mit militärischem Gerät die Müllberge in den Vororten abzutragen. Die ersten Reaktionen auf Berlusconis Vorschlag lassen erahnen, dass der Plan nicht aufgehen wird.
Renata Polverini, Regionalpräsidentin im Latium, versprach zwar umgehend Hilfe, obwohl die Deponien rund um Rom kaum noch Kapazitäten frei haben und der Hauptstadt in wenigen Monaten ähnliche Zustände drohen wie Neapel. Hingegen weigern sich die Regionalpräsidenten der Lega Nord, sich um »den Dreck aus dem Süden« zu kümmern. Apuliens Regionalpräsident Nichi Vendola verurteilte die »rassistische Propaganda« seiner Amtskollegen und erklärte sich bereit, aus »Solidarität« mit Neapel 50 Tonnen Abfall in seiner Region zu verbrennen.
Einen über die Weihnachtszeit hinausgehenden Lösungsvorschlag beinhaltet der Plan nicht. Das mag auch daran liegen, dass die Regierung noch vor Weihnachten abgewählt werden könnte. Ber­lusconis Ankündigung, im neuen Jahr zwei neue Müllverbrennungsanlagen in Kampanien bauen zu lassen, ist deshalb eher als Positionierung für den bevorstehenden Wahlkampf zu verstehen.
Dabei hat er weniger die Linken zu fürchten als den Machtkampf innerhalb des eigenen rechten Lagers. Nicola Cosentino, der Koordinator seiner Partei Volk der Freiheit (PDL) für die Region Kampanien, musste im Frühjahr als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium zurücktreten, nachdem die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen »externer Unterstützung der Camorra« gegen ihn eingeleitet hatte. Verschiedene Kronzeugen beschuldigen den aus Casal di Principe stammenden Unternehmer, mit dem ortsansässigen Clan der Casalesi illegale Müllgeschäfte organisiert zu haben. Weil der Antrag der Opposition, seine parlamentarische Immunität auf­zuheben, scheiterte, sitzt Cosentino nicht in Untersuchungshaft, sondern betreibt weiterhin seine dubiosen Geschäfte in Kampanien. Gemeinsam mit mehreren Provinzpräsidenten intrigiert er seit Monaten gegen den Regionalpräsidenten Stefano Caldoro. Auch Caldoro ist ein Politiker des PDL, er vertritt aber eine Fraktion, die die Macht von Cosentinos Seilschaft brechen möchte. »Der Bandenkrieg der Clans findet nicht nur auf der Straße, sondern auch innerhalb der Parteien statt«, erläutert Ciro. Bisher konnte sich Cosentino der Unterstützung Berlusconis sicher sein, Anfang Dezember aber musste der Ministerpräsident dem Druck der Öffentlichkeit und Cosentinos innerparteilichen Gegnern nachgeben und die Koordination des Müllnotstands dem Regionalpräsidenten Caldoro übertragen. Cosentino mag damit kurzfristig an Einfluss verloren haben, die Macht im neapolitanischen Hinterland hat er deshalb nicht eingebüßt.

»Wir können einen kleinen Umweg über Las Vegas fahren«, schlägt Ciro vor, als er wenig später im Auto sitzt, auf dem Weg zu einem Abendessen in Giuliano.
In seinem Bestseller »Gomorrha« vergleicht der Journalist Roberto Saviano die Gegend nördlich von Neapel mit der amerikanischen Wüstenstadt. Chiaiano, Marano, Mugnano, Villaricca – die Kleinstädte reihen sich in trostloser Eintönigkeit aneinander. Das Zentrum jeder Ortschaft bildet ein von Werbetafeln umstellter Kreisverkehr. Entlang der Durchgangsstraßen blinken grelle Leuchtreklamen, zwischen gigantischen Einkaufszentren und zweistöckigen Glaspalästen für Brautmoden unterhalten die Clans ihre als Fitness-Studios und Wellness-Center getarnten Bordelle. Die Abfallberge zwischen den einzelnen Ortschaften sind meterhoch und reichen gelegentlich bis auf die Fahrbahn. »Mir tut es leid für die Kleine«, sagt Tamar, die hinten sitzt und ihr drei Monate altes Baby stillt, »dass die Stadt ausgerechnet jetzt im Dreck versinkt. Sogar vor dem Gesundheitsamt, wo wir Mare vor zwei Tagen impfen ließen, war der Haupteingang von einem Müllberg versperrt.«
In Giuliano riecht es verbrannt. Tamar befürchtet, dass die Leute wieder anfangen, den Müll anzuzünden. Doch Daniele, der gerade aus dem Haus kommt, gibt Entwarnung: »Beruhigt euch, das ist nur der Nachbar, der in seinem Kamin Holz verbrennt.« Zum Abendessen gibt es Reis und Gemüse aus dem Bioladen. »Wenn uns schon den ganzen Tag der Gestank der Müllberge in die Nase steigt«, scherzt Daniele, »dann sollten wir wenigstens gesund essen.«