Schwierige Vergangenheitsaufarbeitung in Peru

Die Last der Vergangenheit

Peruanische Menschenrechtsorganisationen versuchen, Projekte zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zum Gedenken an die Opfer des Bürgerkriegs der achtziger und neunziger Jahre voranzutreiben. Im politischen Establishment und beim Militär stößt die Arbeit an der Erinnerung jedoch auf Widerstand.

Abgetrennte Gliedmaßen, ein brennender Scheiterhaufen, entsetzte Gesichter und betende Menschen sind auf der Fassade des dreistöckigen Hauses am Rande des Stadtzentrums von Aya­cucho zu sehen. Die kleine Andenstadt war in den achtziger und neunziger Jahren eine Hochburg der maoistischen Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad). Im kleinen Park vor dem Haus steht ein Monument, auf dessen Kehrseite Messer, Sichel, Maschinenpistolen und ­andere Mordwerkzeuge montiert sind. Auf der Frontseite sind hingegen versöhnlich ineinander greifende Hände, eine Friedenstaube mit einem Olivenzweig und eine zerbrochene Maschinenpistole zu sehen.
»Symbole der Erinnerung und der Versöhnung«, sagt Mamá Angélica. Die alte Dame, die kaum jemand mit ihrem vollständigen Namen Angélica Mendoza anspricht, ist eine Symbolfigur des peruanischen Widerstands. Sie gehört zu den Frauen, die sich am 3. September 1983 zusammenfanden, um die nationale Vereinigung der Familien der Entführten, Verhafteten und Verschwundenen (Anfasep) zu gründen. Mit einer weißen Fahne und einem großen Holzkreuz, auf dem in dicken Buchstaben und mit weißer Farbe »No Matar« (»nicht töten«) gepinselt war, zogen sie vor Kasernen und Polizeiwachen und fragten nach dem Verbleib ihrer Angehörigen. Das Kreuz und die Fahne sind heute Reliquien aus dieser Zeit und stehen hinter Glas in dem kleinen von der Anfasep gegründeten »Museum der Erinnerung«.
Es ist ein privates und sehr persönliches Museum, »geboren aus dem Schmerz und dem Wunsch der Familien, wenigstens die Angehörigen begraben zu können«, sagt Adelina García Mendoza. Die Vorsitzende von Anfasep hat den dritten Stock des Gebäudes, wo das Museum untergebracht ist, und einen Teil der Ausstellung mitgestaltet. Auf den Fotos, Karten und Schaukästen geht es nicht um eine historisch korrekte Aufarbeitung der Geschichte, sondern um die Darstellung des Leids und des Terrors, dem die eigenen Angehörigen ausgesetzt waren.

Trauer und Gedenken stehen im Vordergrund des vom Deutschen Entwicklungsdienst (DED) geförderten Projekts. »Bisher gibt es in ganz Peru keinen Ort des Gedenkens, wo versucht wird, die jüngere Geschichte aufzuarbeiten«, sagt Yuber ­Alarcón. Der Anwalt der Menschenrechtsorga­nisation Aprodeh hält die Zeit für gekommen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu suchen, und kämpft dafür, dass die Stadt sich zu der Geschichte des Bürgerkriegs und des Staatsterrors in Ayacucho bekennt.
Hier wurden rund 40 Prozent der Opfer des in den achtziger und neunziger Jahren mit allen Mitteln geführten Krieges zwischen den Guerilleros des Sendero Luminoso und der Regierung registriert. Mehr als 70 000 Menschen, die meisten unschuldige Zivilisten, kamen nach Angaben der peruanischen Wahrheitskommission dabei um.
Die allermeisten waren Zivilisten, wie Zósimo Tenorio Prado. Den 27jährigen Studenten zerrten die Militärs im Dezember 1983 aus der Wohnung. »Er tauchte nie wieder auf«, klagt Adelina García Mendoza, die mit ihm verheiratet war. Jahrelang hat sie nach ihm gesucht, ist mit den Frauen von Anfasep vor die Polizeiwache und die Militärkaserne gezogen und hat die Herausgabe der Leiche verlangt. Erfolglos. Heute hat die 45jährige nur noch wenig Hoffnung, dass sie die sterb­lichen Überreste ihres Mannes je finden wird. »Es gibt noch viele Massengräber, die geöffnet werden müssen, aber hier und auch in Lima ist die Bereitschaft, zu forschen und aufzuklären, nur sehr bescheiden.« Mit dieser Einschätzung stehen die Mitglieder der Opferorganisation nicht allein da. Erinnerungsarbeit, Aufklärung und die Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der jüngeren peruanischen Geschichte stehen zehn Jahre nach dem Ende des Kriegs noch am Anfang. Einen öffentlichen, von der Stadt errichteten Ort des Gedenkens gibt es trotz der Kritik von Menschenrechtsorganisationen bisher nicht. Das soll sich schnell ändern, denn die oft miteinander konkurrierenden Opfer- und Menschenrechtsorganisationen haben sich darauf geeinigt, das Außengelände der Kaserne »Los Cabitos« zum Ort der Erinnerung zu erklären. Die Kaserne war das Folterzentrum von Ayacucho und auf dem Exerzierplatz wurden hunderte von Leichen verscharrt. »Verschwindenlassen« heißt das im Fachjargon der Menschenrechtsorganisationen. Um das auch möglichst effizient zu bewerkstelligen, wurde 1985 ein Ofen angeschafft, um die Leichen spurlos verschwinden zu lassen. Ein Grund, weshalb Alarcón genauso wie Adelina García Mendoza dafür plädiert, aus der Kaserne einen Ort der Erinnerung und des Gedenkens zu machen.
Dagegen sperrt sich zwar noch das Militär, aber seitdem klar ist, dass in Lima ein Museum der Erinnerung entstehen soll, ist es unstrittig, dass auch Ayacucho als Zentrum des Terrors einen öffentlichen Ort der Erinnerung benötigt. Das betont auch Salomón Lerner. Als Leiter der peruanischen Wahrheitskommission ist der Professor international bekannt geworden, in Peru hat ihm seine Konsequenz viel Respekt eingebracht. Sein Wort hat Gewicht, wenn es um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit geht, und als Leiter des Instituts für Demokratie und Menschenrechte der päpstlichen Universität Perus ist Lerner ein unbequemer Mahner für die Aufklärung und Ahndung der Verbrechen. Folgerichtig arbeitete auch er in der Kommission, die mit der Realisierung des Museums betraut ist.

Das ist der sozialdemokratischen Regierung von Alan García quasi in den Schoß gefallen. Initiiert wurde das Projekt nämlich von deutscher Seite. Die Idee entstand im Zusammenhang mit einem Besuch der ehemaligen deutschen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Sie besuchte im März 2008 die von der Wahrheitskommission konzipierte Ausstellung »Yuyanapaq« in Lima. Dieser Ausstellung, die insgesamt 1 700 teils illegal geschossene Fotos und rund 15 000 Zeitzeugenberichte umfasst, wollte man einen dauerhaften Rahmen geben. So entstand die Idee eines Museums, in dem auch die Datenbank mit 59 000 dokumentierten Fällen von Menschenrechtsverbrechen untergebracht werden sollte. Bei der peruanischen Regierung kam die Idee, für deren Realisierung knapp zwei Millionen Euro von deutscher Seite zugesagt wurden, allerdings nicht ganz so gut an. So erklärte Perus Verteidigungsminister Ántero Flores-Aráoz im März 2009 öffentlich, die Regierung habe andere Prioritäten. Das Geld sei besser in Schulen, Straßen und Krankenhäuser investiert. Ein diplomatischer Fauxpas, der bezeichnend ist, denn auch Lerner ist immer wieder aus dem Dunstkreis der Militärs als linker Nestbeschmutzer bezeichnet worden – wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Im Frühjahr 2009 änderte die Regierung schließlich ihre Politik und gewann Mario Vargas Llosa, der dieses Jahr den Literaturnobelpreis bekommen hat, für den Vorsitz der Kommission, die das Museum konzipieren soll. Bis September dieses Jahres hatte es auch den Anschein, als sei das Projekt auf einem guten Weg, denn schließlich ist das Grundstück gefunden, ein Entwurf für das Gebäude liegt vor, nur das inhaltliche Konzept fehlte noch.
»Das ist aber der eigentliche Streitpunkt«, meint Lerner. »Grundsätzlich gibt es zu wenig Bereitschaft, diese dunklen Kapitel unserer Vergangenheit aufzuarbeiten«, kritisiert er. Die vergangenen Wochen geben ihm Recht, denn seit Mitte September steht Präsident Alan García ohne seinen prominenten Vorsitzenden der Museumskommission da. Mario Vargas Llosa verabschiedete sich von dem Projekt, nachdem die Regierung das Gesetz 1 097 auf den Weg gebracht hatte. Ein Gesetz, das Verfahren gegen Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen einschränken sollte und das auch im direkten Interesse des Präsidenten lag.
Einige der Massaker wurden von den peruanischen Militärs während der ersten Amtszeit von García (1985 bis 1990)  verübt– folglich trägt der amtierende Präsident die politische Verantwortung dafür. Das war auch Mario Vargas Llosa bekannt, als er am 13. September das Gesetz als »schlecht verkleidete Amnestie« bezeichnete und den Posten des Vorsitzenden der Museumskommission quittierte. Für Alan García ein äußerst peinlicher Moment, denn rund sechs Wochen später sollte die feierliche Grundsteinlegung für das Museum erfolgen. Wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Briefes bat García die Parlamentarier, das umstrittene Dekret zurückzunehmen. Eine direkte Reaktion auf den Brief des Schriftstellers und die internationale Kritik an Garcías Regierung und ein Etappensieg für einen ehrlichen Umgang mit der peruanischen Geschichte.
»Den fordern Menschenrechts- und Opferorganisationen in Peru ein«, sagt Neri Gómez von der Menschenrechtsorganisation »Frieden und Hoffnung«, die im ganzen Land tätig ist und ebenfalls in Ayacucho präsent ist. Die Organisation bietet psychologische Hilfe bei der Bewältigung von Traumata, aber auch rechtliche Hilfe bei der Exhumierung von Opfern. Zuletzt haben die Anwälte der Organisation im August die Ausgrabung von 40 Opfern eines Massakers durchgesetzt, das vor 25 Jahren in dem Dorf Putka verübt wurde. Am 25. Dezember 1984 massakrierten dort Armeeangehörige und bewaffnete Bauernmilizen Dutzende von Menschen. Dabei wurde kein Unterschied zwischen Männern, Alten, Frauen und Kindern gemacht, bis auf zwei Personen wurde das gesamte Dorf umgebracht. Derartige Fälle sind es, die in Peru bis heute auf Aufklärung warten. »Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, die Angehörigen Klarheit über den Verbleib ihrer Verwandten erhalten, entschädigt werden und endlich einen Platz des Gedenkens bekommen«, fordert Alarcón ebenso wie Lerner. Doch die Chancen dafür stehen nicht allzu gut, wie die langwierigen Streitigkeiten um das »Museum der Erinnerung« in Lima zeigen.

Anfang November legten Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel und Präsident García den Grundstein für das »Museum der Erinnerung«. Als »klares Zeichen für Versöhnung« bezeichnete Niebel das Projekt. Der peruanische Präsident, dessen Amtszeit im Sommer kommenden Jahres endet, sieht in dem Museum hingegen »eine Schule des Denkens, um die Intoleranz zu verbannen, die immer zu Gewalt und Tod führt«. Er versprach auch, dass bis zum Juli kommenden Jahres das Gebäude im Stadtteil Miraflores stehen werde. Doch damit sei es nicht getan, kritisiert Lerner. »Dieser Schule fehlt es bisher an Lehrbüchern, sprich an einem echten Konzept, um aus dem Gebäude einen Ort der Debatte, der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, aber auch einen Ort der Erinnerung und der Trauer zu machen.« Diese Aufgaben sollte das Museum erfüllen, das makabrerweise an der Avenida del Ejercito, der »Straße des Heeres«, entsteht und nur einen Steinwurf entfernt von einer Kaserne liegt. Hehre Ansprüche, aber bisher ist vollkommen unklar, was wie in dem Museum ausgestellt und welche didaktische Aufgabe es haben wird.
Ein Problem, das auch der derzeitige Präsident der Museumskommission, Fernando de Szyszlo, nicht lösen kann. Der Künstler begrüßt, dass die Militärs immerhin bei der Grundsteinlegung anwesend waren, befürchtet allerdings, dass die Präsidentschaftswahlen 2011 erst endgültig über die Zukunft des Projekts entscheiden werden. »Sollte Keiko Fujimori mit ihrer Partei Fuerza 2011 die Wahlen gewinnen, bedeutet das nichts Gutes für das Museum«, sagte der 86jährige abstrakte Künstler der Tageszeitung La Republica. »Das wäre die Rückkehr in die Kleptokratie.« Und möglicherweise das Ende für das Museum, denn es ist unstrittig, dass der Fujimori-Clan kein Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte hat. Erklärtes Ziel der Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Kenya Fujimori ist es, ihren Vater zu rehabilitieren. Was die Aufarbeitung der Vergangenheit angeht, sei das das Schlimmste, was passieren könnte, meint Salomón Lerner. Er hat sich schon vor Monaten entnervt aus der Museumskommission zurückgezogen und hat wenig Hoffung, dass in Peru ein ähnlich engagiertes Projekt wie im Nachbarland Chile zustande kommt. Dort hat die Regierung ihr eigenes Museum initiiert, konzipiert und finanziert. In Peru muss der Anstoß von außen kommen und wird nur halbherzig verfolgt. »Das ist beschämend«, kritisiert Lerner.
In Ayacucho wird die Anregung von außen ausdrücklich begrüßt. »Ohne die Hilfe von außen würden wir weder über die Vergangenheit, die Verbrechen und Greuel, sprechen noch dafür kämpfen, in Ayacucho eine alte Kaserne zum Ort des Gedenkens zu machen«, betont Adelina García Mendoza und deutet auf eine Karte der Region, wo mit kleinen Fähnchen die Orte markiert sind, an denen Massaker stattfanden. »Die Vergangenheit holt uns doch immer wieder ein.«