Das philosophische System des türkischen Außenministers

Ontologische Hierarchien

Während Europa hofft, dass sich in der Türkei ein aufgeklärter Islam herausbildet, verkündet der türkische Außenminister ein philosophisches System, in dem der Islam an die Stelle der Aufklärung tritt.

Ahmet Davutoglu hat jüngst der Zeitschrift Turkish Review, die von der Zaman Mediengruppe herausgegeben wird, ein Interview gegeben, das mancherorts als stark europakritisch wahrgenommen worden ist. Die Internetzeitschrift Timeturk fasste den Text zusammen und gab ihm die Überschrift »Davutoglu: Europa wird zerstört werden«. Ähnlich lesen sich die Auszüge, welche die religiös orientierte Zeitung Yeni Safak, die wie die Zaman-Gruppe der Regierung nahe steht, zugänglich machte. In Deutschland zitierte Die Welt einige Sätze mit anti-europäischer Tendenz. Liest man das Interview als ganzes, kommen einem jedoch Zweifel, ob sich der geschickte Diplomat wirklich so offen verächtlich über die Europäer äußern wollte. Vieles relativiert er sogleich wieder, überdies ist das auf Türkisch geführte Gespräch nicht allzu geschickt ins Englische übersetzt worden. Es gewährt aber trotzdem einen aufschlussreichen Einblick in die Gedankenwelt des Konstrukteurs der neuen tür­kischen Außenpolitik. Außerdem ist es ein Dokument für ein Bewusstsein geistiger Überlegenheit gegenüber Europa, das bei islamisch geprägten Intellektuellen allmählich an die Stelle des rein religiösen Ressentiments zu treten scheint.
In dem Interview wird Davutoglu gefragt, ob er ein »Khaldunianer« sei. Obwohl er daraufhin die Eigenständigkeit seines Denkens betont, ist der Einfluss, den der arabische Geschichtsphilosoph Ibn Khaldun auf ihn ausgeübt hat, unverkennbar. Ibn Khaldun betrachtet die Geschichte als einen Prozess ständiger Veränderung, der dennoch bestimmten Regeln folgt und aus zyklischen Wiederholungen besteht. Die Wiederholung der geschichtlichen Abläufe, den Aufstieg und Fall von Stämmen, Dynastien und Staaten, sieht er in der menschlichen Natur begründet. Ein zentraler Begriff ist für ihn die asabija, was sich am ehesten mit »Gefühl der Zusammengehörigkeit« übersetzen lässt. Wenn mit einer historischen Erscheinung, etwa der frühen islamischen Gemeinschaft, eine starke asabija einhergeht, ist sie historisch erfolgreich.
Davutoglu ersetzt asabija durch »Selbstwahrnehmung«, worunter er insbesondere die »Selbstwahrnehmung von Kulturen« (self-perception of civilisations) versteht. Dennoch hat seine Neubestimmung des Begriffs keine individualpsychologischen Züge, sondern beschreibt wie asabija ein Verhalten in größeren Gruppen. Außerdem fasst Davutoglu den Geschichtsprozess, der bei Ibn Khaldun eine Geschichte von Religionsgemeinschaften und Stämmen ist, als Geschichte der Kulturen auf. Für die Beziehung der Kulturen untereinander sieht er viele Möglichkeiten, auch die einer »fruchtbaren Interaktion«. Ausdrücklich wendet er sich aber gegen den von Samuel P. Huntington geprägten Begriff des clash of civilisations und gegen ein hegelianisches Geschichtsverständnis.
Dem Khaldunischen Denken ist die Vorstellung von einem Ende der Geschichte fremd. Deswegen kritisiert Davutoglu auch Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte infolge einer Überwindung des Totalitarismus durch den Liberalismus. Gewiss hat niemand heute das Gefühl, die Geschichte sei zum Stillstand gekommen. Doch mit der Ablehnung von Fukuyamas Idee kann auch die universale Bedeutung der Aufklärung geleugnet werden, auf der das liberale Denken beruht. Eine solche Tendenz lässt sich auch bei Davutoglu erkennen, wenn er schreibt: »Heute haben wir einen Punkt erreicht, an dem das westliche Paradigma und die ihm zugrundeliegende Philosophie der Aufklärung alles gesagt haben, was sie sagen können.« Man bedenke, dass dies der Außenminister eines Landes sagt, das die Vollmitgliedschaft in der EU anstrebt. Dafür soll die Türkei weiter »demokratisiert« werden. Zu einer solchen »Demokratisierung« gehören jedoch Pressefreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit etc., die ohne den Prozess der Aufklärung undenkbar wären.
Man kann Davutoglu sicher auch so verstehen, dass es ihm nicht um die Verdrängung der Aufklärung, sondern um deren Weiterentwicklung geht. Das würde zum Schlagwort der »fortgeschrittenen Demokratie« passen, das Ministerpräsident Tayyip Erdogan geprägt hat, ohne es irgendwie mit Inhalt zu füllen. Andererseits klingen Davutoglus Worte auch wie ein Echo auf die Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad über den Verfall der liberalen Gesellschaften.
Davutoglu stammt aus einer sehr religiösen Region der Türkei, und man kann vermuten, dass er sich von dem neutralen Begriff asabija nicht ohne Absicht abgewendet hat, um die Kulturen, zu denen er auch die islamische rechnet, ins Zentrum zu rücken. Überdies zieht er eine scharfe Trennlinie zwischen dem Islam und allen übrigen Religionen: »In der Tat haben alle Kulturen, außer der islamischen Kultur, immer Gott, den Menschen und die Natur auf der gleichen ontologischen Ebene betrachtet. Ich habe das als ›ontologische Nähe‹ (ontological proximity) bezeichnet.« Den Gegensatz zwischen ontolo­gischer Nähe und »ontologischer Hierarchie«, die nur dem Islam eigen sei, verbindet Davutoglu mit seiner psychologischen Umdeutung von Ibn Khalduns Geschichtsphilosophie: »Soziale Sys­teme werden von der Psychologie definiert, die auf diesem ontologischen Paradigma beruht.« Auf diesem Weg wird die Religion, anders als bei Ibn Khaldun, zum entscheidenden Faktor bei der Bewertung sozialer Systeme. So bekommt der Islam zugesprochen, was der Aufklärung implizit abgesprochen wird, eine universale Geltungskraft.
Davutoglu hütet sich, von Islamisierung zu sprechen. Stattdessen gebraucht er den Begriff des Monotheismus. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass für Muslime der Islam die einzige monotheistische Religion ist. Das Christentum in seiner bisherigen Gestalt wird von Muslimen wegen der Gottessohnschaft hingegen nicht als monotheistisch anerkannt. Für das künftige Europa prophezeit Davutoglu indessen, »dass christliche Bewegungen mit starken monotheistischen Tendenzen aufblühen werden.« Erstaunlich ist auch hier die Nähe zu Ahmadinejad, der seine Religion unter dem Etikett »Monotheismus« der Uno-Vollversammlung empfohlen hat, indem er sagte: »Monotheismus, Gerechtigkeit und Menschenliebe sollten die Pfeiler der UN seien.« Davutoglu ist natürlich nicht Ahmadinejad. Welchen Typus von Islam er empfehlen würde, geht aus seinen Worten nicht hervor.
Problematisch bleibt, dass Davutoglu »soziale Systeme«, und damit wohl auch Staaten, letztlich auf Religion gegründet sieht. Auf der Trennung zwischen Staat und Religion aber muss Europa bestehen, schon weil nur so das Zusammenleben verschiedener religiöser Gemeinschaften, atheistischer und agnostischer Gruppen, möglich ist. Die Türkische Republik hat bisher die Religion dem Staat untergeordnet und dem Staat selbst eine pseudoreligiöse Verehrung entgegengebracht. Der Staat wurde so zum Religionsersatz, zugleich aber zum Schutzherren für die Mehrheitsreligion des sunnitischen Islam, zu Lasten aller anderen Gruppen. Das Auftreten Erdogans und seiner AK-Partei ist ein Symptom für die Erosion des alten Systems. Es ist keineswegs klar, wohin der künftige Weg der Türkei führt. Zu hoffen bleibt, dass die Aufklärung für ihn weiter richtungsweisend sein wird.