Über das Scheitern der Politik der USA im Nahen Osten

Kommet, ihr Hirten!

Der Nahost-Konflikt hat große Anziehungskraft auf »Vermittler« jeder Art. Doch die US-Regierung hat das Scheitern ihrer Politik einräumen müssen, weitergekommen ist der »Friedensprozess« in den vergangenen 20 Jahren nicht.

Vielleicht geht George Mitchell, der US-Sondergesandte für den Nahen Osten, einst als tragische Figur in die Geschichtsbücher ein, als jemand, der jene ewige Ereignislosigkeit und Redundanz verkörpert, die sich zum politischen Paradigma unserer Zeit entwickelt hat: Es herrscht rege ­Betriebsamkeit und doch passiert nichts.
Zwei Jahre nachdem Präsident Barack Obama die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ins Zentrum der Nahost-Strategie der USA gerückt hatte, musste Außenministerin Hillary Clinton nun deren Scheitern zugeben. Man insistiere fortan weder auf einer Verlängerung des Siedlungsbaustopps noch dränge man die Beteiligten, direkte Verhandlungen weiterzuführen. Dazu sagte Rob Malley, Nahost-Direktor der International Crisis Group: »Die US-Regierung ist zu dem Schluss gekommen, dass es zu keinem Abkommen mit den Israelis kommen würde, und selbst wenn, wäre nicht klar, ob die Palästinenser es akzeptieren würden. Und selbst wenn sie es akzeptieren würden, wäre nicht klar, was nach 90 Tagen passieren würde.«

Also wird Mitchell einmal mehr in den Nahen Osten fliegen, um Gespräche mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas zu führen. Diese Konsultationen haben das bescheidene Ziel herauszufinden, ob man fortan die indirekten Gespräche als parallel talks oder proximity talks wieder aufnehmen könne. Denn, so sagte Hillary Clinton, der Glaube einiger Beteiligter, man könne den Konflikt nun aussitzen, weil die wirtschaftliche Lage und die Sicherheit sich verbessert hätten, sei falsch. Ein Satz, der genau so auch schon vor 20 Jahren hätte fallen können.
Damals begann mit der Konferenz von Madrid der »Friedensprozess«, der zur Unterzeichnung der Osloer Abkommen führte. Die USA stehen in etwa da, wo sie bereits vor 20 Jahren standen, nur ohne die damals herrschende Aufbruchsstimmung, als von der Schaffung eines New Middle East die Rede war. Derzeit überlegt man bestenfalls noch, wie der Status quo zu erhalten wäre. Dutzende von Gipfeltreffen wurden absolviert, eine »Road Map« löste die andere ab. Wie oft schon stand man angeblich kurz vor irgendeiner Einigung?
Nun beginnt alles wieder von vorn. Kaum hatte Clinton ihre Erklärung abgegeben, vergaß man bei der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), dass man in den zehn Monaten zuvor täglich beteuert hatte, alles drehe sich um den Siedlungsbau. Man betonte stattdessen, niemals einem Abkommen zuzustimmen, dass nicht die »Rückkehr« aller palästinensischen Flüchtlinge nach Israel vorsehe. Diese Forderung kann Israel, will es nicht die staatliche Existenz aufgeben, niemals erfüllen.
Derweil kam eine »Forschergruppe« der PA zu dem Ergebnis, dass die Klagemauer nicht Teil des jüdischen Tempels gewesen sei, sondern zur al-Aqsa-Moschee gehöre. In Gaza zelebrierte die Hamas, weiterhin völlig zerstritten mit der Fatah, ihren 23. Geburtstag mit der Ankündigung, man werde so lange kämpfen, bis das »Land zwischen Meer und Fluss« ein islamischer Staat sei.

Die von Wikileaks veröffentlichten vertraulichen Äußerungen diverser arabischer Politiker belegen, dass deren Hauptsorge nicht das »Land zwischen Meer und Fluss« ist. In der Tat geben solche »Geheimdokumente« einen unverfälschten Eindruck, allerdings unter der Voraussetzung, dass man sie quellenkritisch liest. Schließlich gehört es in der Region noch mehr als anderswo zur politischen Sitte, dass man intern ganz anders spricht als zur Öffentlichkeit. Dort ist nämlich der Platz für die Verschwörungstheorien, den Antisemitismus und die wehleidigen Klagen über den Westen, in den prowestlichen arabischen Staaten nicht weniger als im Iran oder in Syrien. Dieses double speak hat schon der Heroe des Panarabismus, der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser, vor 50 Jahren beherrscht, und immer noch gibt man sich im Westen völlig überrascht darüber, wie verwickelt Politik im Nahen Osten doch zu sein scheint.
Die medienanalytischen Großkampftage, die das Feuilleton zu Ehren Wikileaks abhielt, haben es wieder gezeigt: Lieber befasst man sich mit kontextfreien Metafragen, als den Blick auf Reales zu richten. Gibt es jetzt keine Geheimnisse mehr? War das nun gar das Ende der klassischen Diplomatie? Oder wird nun alles nur noch geheimer? Doch es bedarf keiner Enthüllungen, um zu verstehen, wie sich die politischen Verhältnisse im Nahen Osten entwickeln. Sie perpetuieren sich nicht nur auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung, sie werden auch instabiler. Das ist zwar auch nichts wirklich Neues, doch die außenpolitische Ziellosigkeit der Regierung Obamas und der daraus resultierende Rückzug der USA hinterlassen ein immer größeres Vakuum. Das ist kein Problem der politischen Moral, sondern eine sehr reale Frage nach den künftigen Konflikten in der Region.
Ein eher undramatisches Beispiel dafür bietet die neueste Idee der palästinensischen Führung und ihrer Freunde weltweit, die umstandslose Ausrufung eines eigenen Staats. Das löst zwar kein Problem, schon gar keines der betroffenen Menschen, aber immerhin, diese Initiative ist noch nicht auf 20 Gipfeltreffen zerredet worden. In Ländern, die mindestens 10 000 Kilometer entfernt sind, also vornehmlich im Südamerika des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und linksliberaler Regierungen, stößt man sogar auf großes Wohlwollen. Vorige Woche verkündete der bolivianische Präsident Evo Morales, man erkenne den »palästinensischen Staat« in den Grenzen von 1967 an. Brasilien, Argentinien und Uruguay waren vorausgegangen.
Aufgegriffen wurde die Idee von der umstandslosen Anerkennung eines palästinensischen Staats jedoch auch von einer Gruppe verrenteter europäischer Politiker, darunter Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker. Man mag dereinst das vorgerückte Alter als Erklärung für das agile Engagement anführen. Immerhin, die Idee ist originell im Vergleich zu den bisherigen abgegriffenen Schlagworten, die vermutlich auch der härteste Antizionist im Westen langsam nicht mehr hören kann. Außerdem fordert sie der palästinensischen Seite nichts ab, sie kostet nichts und zielt gegen Israel. Das dürfte für einen längeren propagandistischen Nachhall sorgen.
Zweifelsohne werden bei Wikileaks weiterhin mehr oder minder amüsante Enthüllungen zu lesen sein, die über die tatsächlichen politischen Veränderungen aber wenig aussagen. Mit einer hilf- und planlosen Politik werden die USA weiter Einfluss verlieren. Das iranische Regime wird dies zu nutzen versuchen, doch müssen seine Emissäre der Hizbollah auch mitteilen, dass man auch bei den Waffenlieferungen für die libanesischen Brüder sparen müsse – die Sanktionen fordern ihren Preis. Die Oligarchie Ägyptens, der traditionellen Regionalmacht der arabischen Welt, ist mit ihrem Machterhalt vollauf beschäftigt, während die AKP-Regierung die Türkei auf dem Weg zur neuen Regionalmacht wähnt.
Die Antwort auf die wichtigste Frage wird sich in der amerikanischen Diplomatenpost nicht finden: Wie lange hält sich die »Islamische Republik Iran« noch in ihrer bisherigen Form, und wie werden die Kommuniques zwischen Gaza und dem Hauptquartier der Hizbollah lauten, wenn ein regime change vollzogen worden ist? Auf jeden Fall folgten dann Ereignisse, die nicht mit einer Diplomatie im Stil Mitchells zu verwalten wären.