Ägypten und Tunesien. Ein Revolutionsvergleich

Kairo ist nicht Tunis

Die Lage in Ägypten ist eine andere als in Tunesien, doch die Gründe für das Aufbegehren der Bevölkerung ähneln sich sehr. Ein Revolutionsvergleich.

Das Graffito »Game over!« schmückte nach dem Sturz des Präsidenten Ben Ali viele Mauern in Tunis. Und während man noch das Ende des einen Despoten feierte, wackelte schon der Stuhl des nächsten: Keine vier Wochen, nachdem Ben Ali ins Flugzeug nach Saudi-Arabien gestiegen war, trat Hosni Mubarak zurück, nach 30 Jahren war auch für ihn das Spiel aus. Jahrelang geschah in der arabischen Welt so gut wie nichts (von Stellvertreter- und Bürgerkriegen abgesehen), wie eingefroren schienen die Verhältnisse, und plötzlich, auch von westlichen Geheimdiensten völlig unerwartet, folgten zwei Revolu­tionen innerhalb nur eines Monats.

Und nicht etwa Oppositionsparteien, frustrierte Offiziere oder gar organisierte Islamisten lehrten die Herrscher das Fürchten, sondern ein völlig neuer Akteur, der bislang in dieser Form zwischen Rabat und Amman nicht einmal in Erscheinung getreten war. Die gesellschaftlichen Erschütterungen wurden ausgelöst von einer neuen Genera­tion von Jugendlichen, meist gut ausgebildet, oft arbeitslos und mit den modernen Kommunika­tionsmitteln gut vertraut, die sie für eine rudimentäre Selbstorganisation nutzen. Zwar war vorher in jedem Bericht über die Region zu lesen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung in ihren Zwanzigern sei und der arabisch-islamischen Welt aufgrund der demographischen Entwicklung Gefahr drohe. Nur hieß es in der Regel dann auch, diese Jugend sei weitgehend unpolitisch, nach innen gekehrt und nicht organisiert. Das ist sie jedoch mitnichten, wie sich bereits im Sommer 2009 auf den Straßen Teherans herausstellte, als Millionen meist unter 30jähriger die Machthaber der Islamischen Republik Iran herausforderten.
Es seien, meint Olivier Roy, Autor mehrerer Standardwerke über den politischen Islam, in dem vergangene Woche in Le Monde erschienenen Essay »Post-islamistische Revolution«, die gleichen Jugendlichen, die nun in Ägypten demonstrierten. Sie bedienten sich eben nicht des alten politischen Repertoires in der Region: »Die Slogans sind alle pragmatisch und konkret (›Hau ab‹, ›erhal‹); sie berufen sich nicht auf den Islam, wie ihre Vorgänger in Algerien es Ende der achtziger Jahre getan haben. Sie drücken vor allem eine Ablehnung der korrumpierten Diktaturen und eine Forderung nach Demokratie aus.« Weder vom Islamismus noch vom panarabischen Nationalismus, jenen zwei Hauptideologien, die in der Region über Jahrzehnte dominiert hätten, versprächen sich diese Jugendlichen noch eine bessere Zukunft. Ihr Protest fände in einem säkularen Raum statt, auch wenn sie nicht unbedingt laizistisch seien. Vor allem aber fehle ein die arabische Welt bislang prägendes Element: »Die Verschwörungstheorien sind auf Zimmerlautstärke gestellt: Die Vereinigten Staaten und Israel (oder in Tunesien Frankreich, das dennoch Ben Ali bis zum Schluss unterstützt hat) werden nicht mehr als die Ursache des Unglücks der arabischen Welt bezeichnet.«
Passend zu dieser Beobachtung veröffentlichte Abdulateef al-Mulhim, ein pensionierter saudischer Admiral, in der Zeitung Arab News ein flammendes Plädoyer gegen antiisraelische und andere in der Region so verbreitete wie beliebte Verschwörungstheorien: »Wir müssen endlich aufhören zu glauben, dass die ganze Welt sich gegen uns verschworen habe.« So unterschiedlich die Demonstranten in Ägypten und Tunesien, in Algerien und Jordanien auch erscheinen, dieser Wunsch nach Normalität scheint sie zu einen. Vorbei die Zeit, in der Staatschefs und auch Oppo­sitionelle einmütig erklärten, »westliche« Modelle von Demokratie, die universelle Gültigkeit von Menschenrechten, all dies gelte für die islamisch-arabische Welt nicht.
Noch die beeindruckendsten Massendemonstrationen alleine reichen allerdings nicht aus, um repressive Herrschaftssysteme in derart kurzer Zeit relativ friedlich zu stürzen. Dies hat sich im Iran gezeigt: Dort hielt das Regime monatelang stand, und am Ende gelang es mittels Terror und Repression, die Protestbewegung zu unterdrücken und von der Straße zu bringen. In Tunesien und auch in Ägypten ließen die dort herrschenden Regimes gewisse gesellschaftliche Institutionen unangetastet, gewisse Freiräume bestehen: Das Militär war nicht in die herrschende Partei inkorporiert, der Umgang mit Gewerkschaften und Streiks in den vergangenen Jahren flexibler als zuvor, auch waren, in engsten Grenzen, andere Parteien zugelassen, Zugang zum Internet und zu internationalen Medien nicht völlig unmöglich.
Erst angesichts solcher, wenn auch kleiner Freiräume konnte sich eine gesellschaftliche Dynamik entfalten, die Gilles Kepel, Politologe und Autor zahlreicher Bücher über die arabische und islamische Welt, kürzlich in Le Monde beschrieb: Ausschlaggebend für Tunesien sei ein Zusammenschluss städtischer Mittelklassen und der Gewerkschaftsbewegung in Tunis mit der Bewegung der armen städtischen Jugendlichen aus Zentraltunesien gewesen – ein Bündnis, das Ben Alis auf die Polizei gestütztes Regime zunächst isolierte und dann zusammen mit dem Militär, dessen Offizierskorps mit den protestierenden Mittelschichten sympathisierte, stürzte. »Die Kraft der urbanen Mittelschichten in einem Land mit zehn Millionen Einwohnern, die Ausbildung vieler ihrer Sprecher in Frankreich und ihre Anhänglichkeit an eine laizistische Interpretation der Demokratie geben ihnen Trümpfe für den Wahlkampf in einem Land, in dem die Gesetze und die Verfassung neu zu schreiben sind«, re­sümiert Kepel die sich entfaltende politische Revolution und ergänzt: »Von ihrer Fähigkeit, der armen Jugend Perspektiven zu bieten, hängt es nun ab, ob sie sich an der Spitze der revolutionären Bewegung halten, angesichts der radikalen Erschütterung der gesellschaftlichen Hierarchien, zu der die Enterbten spontan streben, und angesichts des kulturellen Bruchs, zu dem die Islamisten tendieren.« Aber diese haben in Tunesien derzeit nicht viel zu melden, anders als in Ägypten sind sie bislang aus den losen Oppositionsbündnissen, die die Revolution ermöglichten, ausgeschlossen.

Aber nicht nur deshalb stellt sich die Situation in Ägypten anders dar. Ein Bündnis zwischen rebellierenden Jugendlichen und urbanen Mittelklassen fällt dort angesichts der Massenarmut in den riesigen Banlieues weit weniger ins Gewicht als in Tunesien. Und die ägyptische Armee war im Unterschied zur tunesischen sowohl direkt an der politischen Macht als auch der Wirtschaft und ihren Gewinnen beteiligt; dies mag auch ihr Schwanken Ende der vergangenen Woche zu erklären helfen – Mubarak stürzen oder stützen, das war die Frage, die den Generalstab beschäftigte.
Entsprechend unübersichtlicher als in Tunesien ist die Situation nach dem Sturz Mubaraks. Die Armee ist eine der wenigen Institutionen, die im ganzen Land präsent ist – neben den Gewerkschaften, die insbesondere im Nildelta eine Renaissance erleben, und den Muslimbrüdern mit ihrem dichten Netz an karitativen Vereinigungen und ihrer Kontrolle über die Mehrheit der Berufsverbände, die sich aber über ihre politische Strategie uneinig sind. Einige von ihnen würde sich wohl an einer auch vom Militär geführten Übergangsregierung beteiligen, während an­dere noch von einem islamischen Staat und der Sharia träumen. Und während die Frauenbewegung im weithin säkularisierten Tunesien Druck macht für die vollständige Gleichheit von Frauen und Männern und eine komplette Trennung von Religion und Politik, ist unklar, welche Rolle solche Forderungen nach Emanzipation in Ägypten spielen werden.
In Tunesien zieht sich derzeit durch alle gesellschaftlichen und politischen Institutionen der Konflikt mit den Anhängern des Ancien régime, die noch viele Schlüsselpositionen innehaben. Auf der anderen Seite macht das Land beeindruckende Fortschritte. So wurden etwa in einem der ersten Dekrete der neuen Übergangsregierung die Todesstrafe abgeschafft sowie die Pressefreiheit und andere bürgerlichen Grundrechte garantiert. In Ägypten verläuft der gesellschaftliche Umbruch weitaus heftiger, es ist nicht ausgemacht, welche Kräfte welche Bündnisse schließen und sich durchsetzen werden.
»Die Forderung nach Demokratie stößt also überall in der arabischen Welt auf die gesellschaftliche Verankerung der Klientelnetzwerke jedes Regimes«, meint Olivier Roy. Und er beschreibt damit gesellschaftliche und ökonomische Probleme, die noch enormes Konfliktpotential bergen und über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu Spannungen und Konfrontationen führen werden. Schließlich befanden sich fast alle Gesellschaften im Nahen Osten und Nordafrika im Zustand einer verordneten Starre. So ist sich Roy auch sicher, dass dieser Prozess lang und chaotisch werde. Aber, so schließt er, und man möchte nur hinzufügen, möge er doch Recht behalten: »Wir sind nicht mehr auf dem arabisch-muslimischen Sonderweg.« Denn sollte der Wunsch nach dem Ende dieses Sonderwegs, der Wunsch nach Normalisierung, der sich in den Tagen des Umsturzes sowohl in Tunesien und Ägypten als so wichtigstes, vielleicht wichtiges Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Demonstranten erwies, Bestand haben und nicht vom nächsten ideologisch motivierten Massenwahn abgelöst werden, so bestände in der Tat die große Chance, dass ­einige der wichtigen mit diesen Revolutionen verbundenen Hoffnungen nicht enttäuscht werden.