Die Rolle ägyptischer Ultras bei den Protesten

Brot und Spiele? Nein, danke!

Bei den Massenprotesten gegen Hosni Mubarak haben ägyptische Fußball-Ultras eine wichtiger Rolle gespielt. Sie sind gut organisiert, entschlossen und im Straßenkampf erprobt. Damit wurde eine Tradition fortgesetzt, die begründet wurde, als die britische Kolonialmacht das Spiel ins Land brachte.

Am 8. Februar, drei Tage vor dem Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak, gesellte sich ein prominenter ehemaliger Fußballer zu den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Nachdem er ungezählte Hände geschüttelt und Dutzende Menschen umarmt hatte, bestieg der Mann ein Podest, griff sich ein Mikrofon und skandierte immer wieder: »Revolution bis zum Sieg«, gefolgt von einem tausendfachen Echo der Mubarak-Gegner.
Der Einpeitscher war kein Geringerer als Nader El-Sayed, vielleicht der bekannteste und beliebteste ägyptische Torhüter aller Zeiten. Zwischen 1992 und 2005 bestritt der heute 38jährige insgesamt 110 Länderspiele für die Nationalmannschaft, bei den olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona war er Kapitän der ägyptischen Auswahl. Zudem wurde er als einziger Torwart gleich zweimal, nämlich 1998 und 2000, beim Afrika-Cup zum besten Schlussmann des Turniers gewählt.
Nicht wenige derjenigen, die El-Zayed auf dem Platz der Befreiung in der ägyptischen Hauptstadt einen begeisterten Empfang bereiteten, hatten ihm bereits zu seinen aktiven Zeiten als Fußballer im Stadion zugejubelt. Denn unter den Demonstranten befanden sich etliche Fans und Ultras vor allem der Kairoer Erstligaclubs al-Ahly und al-Zamalek, für die der Torhüter gespielt hatte. Die Bedeutung dieser Anhänger bei den Protesten gegen Hosni Mubarak war erheblich, wie etwa der bekannte ägyptische Blogger Alaa Abdel Fattah in einem Interview mit dem Fernsehsender Al-Jazeera deutlich machte: »Sie haben eine größere Rolle gespielt als jede politische Gruppe.«
Bei den Auseinandersetzungen mit den Schergen Mubaraks seien vielfach Ultra-Taktiken angewendet worden, berichtete der Fußballjournalist Davy Lane, der die Kämpfe vor Ort beobachtet hatte: »Es gab ausgewählte Steinewerfer, Spezialisten für das Umwerfen und Anzünden von Fahrzeugen sowie Versorgungs­teams, die präzise wie ein Uhrwerk laufend Munition lieferten.« Die Versorgung von Verletzten, die Kontrolle der Zugänge zum Platz und die Entfernung von Abfällen sollen ebenfalls von Ultras mitorganisiert und mitbetrieben worden sein.
Überraschend ist das nur auf den ersten Blick, wie James M. Dorsey befindet. Der aus Deutschland stammende Journalist ist seit über 30 Jahren als Korrespondent im Nahen Osten tätig, hat unter anderem für das Wall Street Journal, die New York Times und NBC News gearbeitet und wurde dreimal für den Pulitzer-Preis nominiert. Zudem betreibt er ein Blog mit dem treffenden Namen »The Turbulent World of Middle East Soccer«, auf dem er täglich Berichte und Analysen zum Fußballgeschehen in der Region veröffentlicht. Wegen seiner umfangreichen Kenntnisse und Erfahrungen ist er derzeit vor allem bezüglich der Geschehnisse in Ägypten und der Rolle der Fußballfans darin ein gefragter Mann. »Der Fußball bringt Gefühle hervor, die genauso tief sind wie religiöse Empfindungen«, sagte Dorsey der Jungle World. Deshalb sei dieser Sport in Ägypten wie im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika »per definitionem politisch« und für autoritäre Regimes »sowohl ein Werkzeug als auch eine Bedrohung«.
Die Fußball-Ultras, die es in Ägypten erst seit 2007 gebe, hätten eine Schlüsselrolle bei den Protesten gegen Mubarak eingenommen, so Dorsey weiter, »weil sie als eine der ganz wenigen Gruppen in Ägypten über organisatorische Erfahrungen mit logistischen Herausforderungen bei öffentlichen Großveranstaltungen und mit Konfrontationen auf der Straße verfügen«. Offiziell bezeichneten sich die organisierten Fans von al-Ahly, dem ägyptischen Rekordmeister, dessen Fanbasis von Dorsey auf 50 Millionen Menschen geschätzt wird, zwar als »unpolitisch«, doch sie hätten auch erklärt, ihren Mitgliedern stehe es selbstverständlich frei, »an den Protesten teilzunehmen«. Zahlreiche im Straßenkampf sowohl mit verfeindeten Fangruppierungen als auch mit der Polizei erprobte Ultras – nicht nur von al-Ahly, sondern auch vom Erzrivalen al-Zamalek – seien diesem verdeckten Aufruf nachgekommen und hätten schließlich entscheidend dazu beigetragen, den Tahrir-Platz gegen die brutalen Angriffe der Anhänger Mubaraks zu verteidigen.
Zudem hätten sie damit an eine alte Tradition angeknüpft, denn die engen Verbindungen zwischen dem Fußball und der Politik in Ägypten reichten bis zum frühen 20. Jahrhundert zurück, als die britische Kolonialmacht das Spiel im Land einführte. Im Zuge dessen entstanden die Clubs al-Ahly und al-Zamalek, die sich seitdem spinnefeind sind. »Während al-Ahly sich als nationalistischer, antikolonialer, antibritischer Verein verstand, wurde al-Zamalek von ägyptischen Verbündeten der britischen Kolonialmacht und von Anhängern der Monarchie gegründet«, erläutert James M. Dorsey. Spielen die beiden Clubs gegeneinander, kommt es im Publikum regelmäßig zu Ausschreitungen. Doch das Ziel, Mubarak zu stürzen, stiftete eine bis dato nicht gekannte Einigkeit zwischen den Ultra-Gruppen.
Für die Spieler und Funktionäre der Kairoer Großvereine gilt das hingegen nicht, zumindest nicht in diesem Maß. Der ägyptische Fußballverband hatte kurz nach dem Beginn der Großdemonstrationen bis auf Weiteres alle Profispiele abgesetzt, um den Fußballfans so eine Plattform für den Protest zu entziehen. Gleichzeitig war diese Entscheidung ein Eingeständnis der Schwäche des Mubarak-Regimes. Die Vereinsführung von al-Ahly schlug sich diskret auf die Seite der Demonstranten, indem sie die Fußballpause begrüßte. Man könne noch nicht wieder zur Normalität zurückkehren, hieß es zur Begründung.
Manuel José da Silva, der 64jährige portugie­sische Trainer der Erstligamannschaft, erklärte sogar offen seine Sympathie: »Es tut mir leid, dass ich nicht an den Demonstrationen teilnehmen kann, weil ich dafür inzwischen zu alt bin. Was die ägyptischen Revolutionäre tun, ist großartig.« Bei al-Zamalek hingegen drängte man sehr bald auf eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs, um zu zeigen, »dass unser Land stark ist und zum normalen Leben zurückkehrt«, wie der Sportdirektor des Vereins, Hassan Ibrahim, vier Tage vor Mubaraks Abtritt sagte. Sein Spieler Ahmed Hossam alias »Mido« hingegen, 54facher ägyptischer Nationalspieler, nahm an den Protesten teil, wie auch al-Zamaleks Trainer Hossam Hassan.
Wie sehr die Autokraten und Diktatoren im Nahen Osten den Fußball als Katalysator für Proteste gegen ihre Herrschaft fürchten, sieht man aber nicht nur in Ägypten, sondern auch in Algerien und Libyen, wo der Spielbetrieb ebenfalls auf unbestimmte Zeit eingestellt wurde. Das Prinzip »Brot und Spiele« funktioniert längst nicht mehr. Schon gar nicht dort, wo sich Fußballfans auch als politische Subjekte definieren.