Über den Beginn des »Superwahljahres« in Hamburg

Die Plakate machen weiter

Mit der Hamburger Bürgerschaftswahl hat am vergangenen Sonntag das »Superwahljahr« begonnen. Für die Grünen könnte es schwieriger werden, als sie noch vor ein paar Wochen dachten.

Wer hätte das gedacht, die SPD kann noch Wahlen gewinnen! Sogar mit absoluter Mehrheit, zumindest an Sitzen. Selten hat die Wahl in einer einzigen Stadt für so viel Euphorie innerhalb der in den vergangenen Jahren arg gebeutelten Sozialdemokratie gesorgt. Nach ihren triumphalen 48,3 Prozent bei der Hamburger Bürgerschaftswahl träumt sie bereits wieder von alter Volksparteiherrlichkeit. Mancher in der Partei glaubt sogar, mit den gescheiterten Rezepten aus der Ära Gerhard Schröders auch jenseits des hohen Nordens nun wieder reüssieren zu können. Das könnte sich jedoch als fataler Irrglaube erweisen.
Mit Olaf Scholz, dem neuen sozialdemokratischen Strahlemann, feiert der Schröderismus in Hamburg seine Wiederauferstehung. »Das ist nicht nur die alte Hamburger Traditionssozialdemokratie im Bündnis mit den Pfeffersäcken, das ist auch Gerhard-Schröder-Schule, minus Schröders Freibeutertum«, beschreibt Ulrike Winkelmann im Freitag den betont wirtschaftsfreundlichen Kurs des Wahlsiegers. Geschickt besetzte er die Lücke in der sogenannten politischen Mitte, die die CDU mit ihrer Abkehr von dem Konzept einer modernen »liberalen Großstadtpartei« ihres langjährigen Frontmanns Ole von Beust geschaffen hat. Sein dröges sozialdemokratisches Parteifunktionärstum, das dem früheren Bundesarbeits- und Sozialminister einst den Spitznamen »Scholzomat« eingetragen hatte, konnte er dabei als Zeichen von Solidität, Verlässlichkeit und »Pragmatismus« verkaufen.

Dass der ehemalige dogmatische Stamokap-Juso mit dieser Masche erfolgreich war, verdankt sich jedoch lokalen Besonderheiten. Denn die CDU machte es ihm mit ihrem unsympathischen und ungelenken Spitzenkandidaten Christoph Ahlhaus mehr als einfach. Dessen völlig unzeitgemäße Rückbesinnung auf den »konservativen Markenkern« musste zwangsläufig zum Absturz ins 20-Prozent-Ghetto führen, aus dem sein Vorgänger von Beust die Christdemokraten mühsam herausmanövriert hatte. Diese Rückkehr in längst aufgegeben geglaubte ideologische Denkformen, wozu nicht zuletzt die Nominierung des Anführers der Schulreformgegner, Walter Scheuerl, für die Bürgerschaft gehörte, kann auch als Dementi dafür gewertet werden, jemals ernsthaft als Gesamtpartei hinter dem schwarz-grünen Experiment gestanden zu haben. Damit beraubte sie sich allerdings auch von vornherein jeglicher Möglichkeit, längerfristig macht auszuüben.
Der SPD gibt ihr Hamburger Ergebnis neue Hoffnung auf künftige Erfolge, aber die könnte nach der Wahl in Sachsen-Anhalt schnell wieder verpufft sein, wenn sie dort wie prognostiziert nur mit knapp über 20 Prozent weit abgeschlagen hinter der CDU und der Linkspartei landet. Von der Schwäche der Christdemokraten konnte auch die FDP profitieren, die dank der Stimmen früherer CDU-Wähler mit 6,6 Prozent ihr siebenjähriges außerparlamentarisches Jammertal verlassen konnte – ein Glücksfall für Guido Westerwelle. Der Parteivorsitzende würde allerdings einen großen Fehler begehen, wäre er nun ernsthaft der Ansicht, die Krise seiner Partei sei nun überwunden. Denn der Stimmenanteil der Union hat sich mit ihrem Sturz von 42,6 auf 21,9 Prozent beinahe halbiert. Dass die FDP von denen der CDU verlustig gegangenen Wähler nur rund zwei Prozent gewinnen konnte, zeigt, dass es weiterhin schlecht um sie bestellt ist. Zudem könnte bei den Freidemokraten schnell wieder Frustration einsetzen: Zurzeit liegt sie in Sachsen-Anhalt bei fünf Prozent und muss um ihren Parlamentseinzug zittern.

Am interessantesten ist allerdings der Blick auf die Grünen. Auch wenn sie die leichte Steigerung von 9,6 Prozent auf 11,2 Prozent als Erfolg zu verkaufen suchen, ist ihr Abschneiden in Wahrheit ein Desaster. Schlechter hätten sie kaum in das »Superwahljahr« starten können. Nach den hohen Umfragewerten der vergangenen Monate sind sie unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Zum einen ist der bescheidene prozentuale Zugewinn gegenüber 2008 in hohem Maße der deutlich geringeren Wahlbeteiligung geschuldet. Zum anderen darf nicht ausgeblendet werden, dass schon das Ergebnis der vorangegangenen Bürgerschaftswahl für die Grün-Alternative Liste (GAL) ein außergewöhnlich schlechtes war, weit entfernt von den Werten, die sie mit 13,5 und 13,9 Prozent noch Mitte der neunziger Jahre erreichte. Damals bewegte sie sich in jener Sphäre, in der die Grünen ansonsten in vergleichbaren Großstädten wie Berlin, Köln, Frankfurt oder München anzutreffen sind.
Die GAL hat die Quittung ausgestellt bekommen für ein völlig verkorkstes schwarz-grünes Experiment, das kaum grandioser hätte zum Scheitern gebracht werden können. Bis zur Selbstverleugnung hatte sie zweieinhalb Jahre lang alle christdemokratischen Zumutungen stoisch ertragen. Nicht einmal, dass die CDU mit Christoph Ahlhaus ausgerechnet ein Mitglied einer schlagenden Verbindung zum Nachfolger Ole von Beusts erkor, hatte sie schockieren können. Dass sie dann in der Hoffnung, von den bundesweit hohen Umfragewerten der Partei zu profitieren, mit der von GAL-Fraktionsvorsitzenden Jens Kerstan verkündeten inhaltsfreien Begründung (»Wir sehen nicht mehr, dass diese Koalition die Kraft hat, wichtige Zukunftsprojekte für Hamburg zu stemmen«) Ende November vergangenen Jahres doch noch die Koalition aufkündigte, war ein allzu durchschaubares Manöver. Zumal sich die GAL umgehend den Sozialdemokraten als williger und anspruchs­lo­ser Mehrheitsbeschaffer andiente. Mit einer selbst­bewussten Politik der Äquidistanz, die manch grüner Parteistratege so gerne propagiert, hatte das jedenfalls nichts zu tun. Eher mit einem allzu offensichtlichen Opportunismus, wie man ihn sonst nur von der verachteten FDP kennt. Zum Glück für die Grünen ist ihr Kalkül nicht aufgegangen. Denn wenn der Wahlgang für sie am vergangenen Sonntag etwas Positives gebracht hat, dann ist es paradoxerweise die absolute Mehrheit für die SPD: Jetzt brauchen sie sich wenigstens nicht als Juniorpartner vom Wahlsieger Olaf Scholz demütigen lassen. Was der von »Öko« und anderem »Gedöns« hält, hatte er bereits im Wahlkampf unmissverständlich zu verstehen gegeben.
Verständlicherweise versuchen die Grünen wie auch die CDU, das Hamburger Ergebnis als rein regionales abzutun. Das ist nicht ganz unberechtigt, ähnelt doch die Bürgerschaftswahl eher ­einer Kommunal- als einer Landtagswahl, und es sind in erster Linie lokalpolitische Gründe, die zum miserablen Abschneiden der GAL geführt haben. Die Folgen werden die Grünen allerdings bundesweit zu spüren bekommen – bis hin zur Landtagswahl im September in Berlin, für die Renate Künast wohl jetzt schon ihre Ambitionen auf den Posten der Regierenden Bürgermeisterin begraben kann. Angesichts von Umfragewerten, die vor wenigen Wochen noch bei 23 Prozent lagen, sah sich die Partei gleichauf mit der SPD und auf dem Weg zur Volkspartei. Inzwischen liegen die Grünen wieder unter 20 Prozent, ein Abwärtstrend, der durch die Wahl in Hamburg weiter befördert werden wird. Zumal für sie auch bei der nächsten anstehenden Landtagswahl am 20. März in Sachsen-Anhalt nicht viel mehr als der Einzug ins Parlament zu holen sein wird. Derzeit prognostizieren ihnen die Demoskopen sieben Prozent.
Auch in ihrer Hochburg Baden-Württemberg, wo eine Woche später gewählt wird, sind ihre Aussichten inzwischen nicht mehr ganz so glänzend. Mitte Dezember, auf dem Höhepunkt der Stuttgart-21-Proteste, lagen die Grünen in den Umfragen bei 29 Prozent und damit weit vor der SPD. Sie hofften gar auf den ersten grünen Ministerpräsidenten. Mittlerweile sind sie auf 23 Prozent gefallen und müssen befürchten, doch noch von der SPD überrundet zu werden. Eine Chance, an die Regierung zu kommen, dürften sie nur noch im Fall des Einzugs der Linkspartei in den Landtag haben. Denn nur dann könnte es möglicherweise nicht mehr für Schwarz-Gelb reichen – und die Grünen bekämen vielleicht die Gelegenheit, sich der CDU als Koalitionspartner andienen zu dürfen.
Wie auch bei den parallel stattfindenden Wahlen in Rheinland-Pfalz ist es indes fraglich, ob es die Linkspartei ins Parlament schafft. Nach den jüngsten Umfragen von TNS-Emnid steht sie in beiden Ländern mit derzeit fünf Prozent auf der Kippe. Dass sie überhaupt eine Aussicht hat, in die Landtage in Mainz und Stuttgart einzuziehen, ist erstaunlich angesichts der Turbulenzen um den Lebensstil ihres Parteivorsitzenden Klaus Ernst und die Kommunismus-Äußerungen der Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch sowie den personalpolitischen Schwierigkeiten insbesondere im rheinland-pfälzischen Landesverband.

Auf die Linkspartei dürfte ihr Abschneiden in Hamburg eine stabilisierende Wirkung haben. Hätte sie den Wiedereinzug verpasst, wäre das für sie einer Katastrophe gleichgekommen, die das Gesamtprojekt infrage gestellt hätte. Die ist ihr erspart geblieben. Auch wenn Lötzsch von »großer Freude und Zufriedenheit« spricht: Einen Grund zum Jubeln gibt es trotzdem nicht. Schließlich hätte die lokalpolitische Ausgangsposition für die Linkspartei kaum besser sein können: Sowohl die SPD als auch die GAL sind in den vergangenen Jahren deutlich nach rechts gerückt. Doch den Platz im linken Spektrum, den sie dadurch freimachten, haben die moderaten und beinahe »sozialdemokratischen« Vertreter der Hamburger Linkspartei nur unzureichend besetzen können. Dabei hätten sie eigentlich davon profitieren müssen, dass mit Olaf Scholz ausgerechnet ein ausgewiesener Schröderianer und Hartz-IV-Verfechter für die SPD als Spitzenkandidat antrat, dessen politische Ansichten sich nur in Nuancen von denen des bisherigen CDU-Bürgermeisters Ahlhaus unterscheiden. Trotzdem konnte die Linkspartei nicht dazugewinnen, sondern verharrte stattdessen mit 6,4 Prozent bei ihrem Ergebnis von vor zweieinhalb Jahren. In absoluten Zahlen verlor sie sogar Stimmen.
Wer schon unter solchen günstigen Bedingungen wie in Hamburg sich darüber freuen muss, als fünftstärkste Partei überhaupt wieder ins Parlament eingezogen zu sein, der kann nicht ernsthaft behaupten, im Westen fest verankert zu sein. Immerhin hat sich durch die Hamburg-Wahl die Ausgangsposition für die Linkspartei nicht verschlechtert. Da alles dafür spricht, dass die »Linke« bei der nächsten Wahl in Sachsen-Anhalt ziemlich erfolgreich sein wird – zurzeit liegt sie hier mit 27 Prozent deutlich vor der SPD – könnte der Schwung ausreichen, um auch bei den darauffolgenden Wahlen in diesem Jahr gut abzuschneiden.