Vorabdruck aus »Brunnenstraße 3, Berlin

Ist so viel Scheiße, aber musst du Hoffnung haben

In seinen Geschichten aus der Gentrifizierungshölle Berlin streift Frank Sorge beiläufig auch Fragen der Ökonomie und der Gastronomie.

Wintertraum
Der Rosenthaler war zugeschneit, eine optische Verbesserung. Essensreste, Pommesschalen und Bierflaschen waren mit einer hübschen weißen Schicht bedeckt, auch die Zeitungsverkäufer und Abowerber waren eingefroren. »Endlich mal ein paar Statuen auf dem Platz«, lobte ich, »endlich mal ein schöner Platz.«
Ich wühlte im Schnee nach den Paketen der Verkäufer und Werber, konnte aber die einzelnen Zeitungen und Hefte nicht voneinander lösen. Zwei vereiste Bündel schleifte ich hinter mir her und schob sie in meinen Hausflur. Aus dem Keller holte ich die Handsäge und raspelte ein paar Zentimeter Tageszeitung und ein Stück Zitty ab, die ich mir unter den Arm klemmte. Es gab für alles eine Lösung.
Die parkenden Autos waren mit überdimensionierten Eiern aus Schnee beschneit, und die Brunnenstraße sah ein bisschen wie eine mit Tannenbäumen gesäumte Allee aus. Die Hand­säge nahm ich mit, konnte ich bestimmt noch gut gebrauchen. Schon im Weinbergspark wurde ich fündig, ein Dealer und ein Kunde waren mitten im Geschäft steifgefroren. Ich sägte die Hand ab, die das Gras hielt, und steckte sie in die Tasche. Die Hand mit dem Geld konnte ich eigentlich auch mitnehmen, fiel mir auf. Guckte grad keiner, und gleich war sowieso Schnee über die Sache gefallen. Also ritsch-ratsch und beide Hände links und rechts in die Hosentaschen zum Vorwärmen, die Zeitungen unter den Achseln wurden auch langsam weicher.
Oh, da stand grad die Straßenbahn, bemerkte ich und schlidderte über die Straße. Prallte an die Seitenverkleidung und stieg schnell ein. Es gab sogar einen Sitzplatz. Drei Minuten später stand sie immer noch, also ging ich nach vorne und klopfte beim Fahrer an die Scheibe. Keine Reaktion, aber das Plexiglas war so kalt, dass mein Fingergelenk dran kleben blieb. Gut, dass ich die Handsäge mitgenommen hatte.
Tunkte die frische Wunde einmal in den Schnee auf der Straße und formte einen dicken Schneeball um den Stumpf. Ich lief weiter, In­validenstraße.

Ich brauch ’ne Brille

Ein Nachbar im sanierten Hinterhof gegenüber hatte ein Sweatshirt Größe XXL mit dem Aufdruck »Schwabenpower« zum Lüften aus seinem Fenster gehängt. Ich geriet in Aufruhr, jetzt gingen sie zu weit.
Ich stellte mir vor, wie er gestern damit in einem Club gesessen hatte oder in der Kneipe. Auf der Tanzfläche im Kaffee Burger hatte er mit dem wippenden Oberkörper in Übergröße Frauen angetanzt, die schwere Rumkugel entwickelte eine Eigendynamik. Ein tanzgieriges und blutjunges Luder aus Niederschwelme-Obersbach reagierte, Massenträgheit. Sie straffte vereinzelte Fetzen über dem schwellenden Mädchenleib und lächelte in lustvoll ekstatischer Weise auf der Tanzfläche gegenüber. Sie blinzelte kurz mit den verschlafenen Augen zum Marketing-Assistant mit dem Schwabenpower-Sweater hinüber und machte eine logische Untersuchung: »Genial sexy, so ein Bauch. Endlich mal ein richtiger Mann hier in der Stadt. Da ihm schon Berlin gehört, kann er auch mich haben. Quod erat demonstrandum.« Und so nahm die Evolution ihren Lauf, die Neue Mitte wurde erfunden. Die verdrängten Berliner zogen in Flüchtlingstrecks erst Richtung Pankow, dann verlor sich ihre Spur.
Der baumelnde Pullover am Fenster hing nicht nur da, um auszulüften, er sollte das Künstler- und Studentenpack im unsanierten Haus gegenüber verhöhnen.
»Euch kriegen wir auch noch saniert«, schien er zu spotten, während er frech im Wind baumelte, »wir verdoppeln eure Miete, wir streichen die Fassade, wir setzten doppelt verglaste Vakuumfenster ein. Und amerikanische Einbauküchen.«
Aber halt! Das fragliche Kleidungsstück drehte im Wind und es kam mir vor, als stünde doch etwas ganz anderes darauf. Das zweite Wort sah eher nach Puppe aus oder Pappe.
»Scharfe Puppe?«
Wer wohnte in der Wohnung gegenüber eigentlich, fragte ich mich und musste zugeben, es nicht zu wissen. Sie war viel zu weit oben, um ordentlich reingucken zu können. Bei einer »scharfen Puppe« könnte sich das ja vielleicht lohnen, ins Dachgeschoß zu umzuziehen. Als der Pullover jetzt so nach links flatterte, konnte es aber eigentlich auch »Shawarma-Pampe« heißen. Oder »Schwester Pupe«. Brauchte ich tatsächlich mal eine Brille? Oder hatte nur mein Gehirn durch hastigen und hemmungslosen Schwarzteekonsum Schwierigkeiten mit der Datenverarbeitung bekommen?
Schon gestern war ich fünfmal an der Tafel vom Morocco-Falafel vorbeigelaufen, an der die Spezialitäten des Tages angeschrieben waren, und hatte mich immer gefragt: »Kaffee Togo? Kaffee Togo? Kaffee Tansania? Kaffee Kongo? Was soll das? Und warum in einem Marokkanischen Imbiss? Kaffee Togo? Was haben die Marokkaner mit Togo zu tun?«
Auch andere komische Dinge ereigneten sich. Letztens lief ich durch den Weinbergspark, eine ominöse Gestalt guckte mich fragend an und ich sagte: »Nein, danke, ich brauche gerade nichts.« Als ich mich umdrehte, sah ich plötzlich, der hatte ja eine grüne Uniform an und starrte mir ungläubig und verdattert hinterher, als hätte er gerade eine Kuh vorbeifliegen sehen. So auffällig verkauft er doch gar nichts, dachte ich und ging einkaufen.
Seit einer Weile schon arbeitete das Mädchen, das die Regale einräumte und in das ich mich verliebt hatte, nicht mehr hier. Was mir aber erst letzte Woche auffiel, als mir Herr Meyer bei den Milchprodukten anbot, mir seine Telefonnummer zu geben, und wir könnten ja mal was zusammen trinken gehen, ich würde ihn immer so nett anlächeln.
Vielleicht brauchte Ehemals-Adlerauge-Sorge doch eine Brille? Beim Optiker um die Ecke waren alle Brillen der Auslage aber hässlichen Kürbissen aufgesetzt. Die grün und gelb gefleckten, pusteligen Dinger sahen jetzt aus wie menschliche Schrumpfköpfe, denen man eine Brille auf die Knollennase gesetzt hatte. So wollte ich aber nicht aussehen, wie ein Kürbis. Was war das für eine Werbung, dachte ich und ging schnell weiter in den Blumenladen, um Briefmarken zu kaufen. Zunehmend verwirrt wollte ich durch den Beate Uhse nebenan nach Hause und wunderte mich, warum plötzlich der Hausflur so bunt war. Hatten die Schwaben schon zugeschlagen?
Ich wartete auf einen windstillen Moment, kniff die Augen zusammen und visierte die Schrift auf dem Pullover an. »Schwarze Pumpe«, stand da. Die Kneipe um die Ecke also, und da kam auch schon ein Mann ans Fenster, der bestimmt dort kellnerte, und holte den ausgelüf­teten Pullover.
Die »Schwarze Pumpe« war definitiv keine schwäbische Kneipe. Namensgeber war die Kohlengrube in der Lausitz und sie verkauften ihr Bier hier schon kurz nach der Wende. Meine derzeitige Sehkraft machte mir Angst, Schlieren und schwarze Punkte wanderten vor die Pupillen, verschmierte Mückenreste. Vielleicht würde es besser werden, wenn ich mal die Fenster putzte.
Ich ging also in die Küche und fragte die Katze, wo die Putzmittel stehen, wobei ich meiner verdutzten Mitbewohnerin den Kopf kraulte und ihr eine drei Zentimeter lange Wurst-Vitaminpaste unter die Nase hielt. Mit einem schmerzenden Kiefer ging ich runter zum Morocco und bestellte einen starken Kaffee Togo. Vielleicht brauchte ich doch eine Brille, dachte ich, während ich der Obstschale das Geld gab.

Bienensterben
In der Tram saß ich hinter zwei Jugendlichen, die sich über Autodiebstähle unterhielten und die nächste Absturzparty mit vielen Bitches planten. Sie waren laut und hampelten herum, vermutlich verhinderten nur die Bewährungsauflagen, dass sie während ihres Gesprächs die Kopfstütze der vorderen Sitze abrissen, den Stempelautomaten von der Stange traten und die Fenster mit Pflastersteinen zerkratzten.
Neben uns am Fenster sirrte plötzlich eine verirrte Biene vergeblich von innen gegen die Scheibe. Der am Fenster Sitzende zuckte zusammen, der weiter entfernt Sitzende forderte den schnellen Tod durch einen Handkantenschlag und gab schlaue Ratschläge zur Ausführung. Der andere aber hatte Respekt vor dem Insekt. Hatte er vielleicht vom großen Bienensterben gehört? Entweder das oder die Angst vor dem Stich war zu groß, er öffnete das Kippfenster in Reichweite. Das Bienchen erkannte blitzschnell die Lage und verließ die Tram.
Die Gangster lehnten sich zurück, entspannten sich und waren das erste Mal seit fünf Minuten still. Ich konnte nur ihre Hinterköpfe sehen, aber ich glaube, sie freuten sich einen Moment lang, dass sie dem kleinen Tier zur Freiheit verholfen hatten. Und das geschah mitten im brutalen Wedding.

Quastenflosser
Ich war zu Besuch bei meinen Eltern in Neukölln und es klingelte überraschend an der Tür. Mein Vater wurde ermahnt, nichts zu kaufen oder sich nicht zu lange von den Zeugen Jehovas das Ohr abkauen zu lassen. Tatsächlich schien es sich um einen solchen Versuch seelischer Versklavung zu handeln, aber wir konnten es nicht genau sehen und hören.
»Quastenflosser«, rief mein Bruder Richtung Flur, um klarzumachen, dass wir aus dem Wasser gekommen waren, und zwar vor wirklich langer Zeit. Mein Vater kam zurück.
»Und? Die Zeugen?«, fragten wir.
»Nein, das waren Katholiken.«
»Katholiken?«, wiederhole ich ungläubig, »an der Haustür?«
»Und was wollten sie?«
»Na, über Jesus reden.« Wir gähnten kollektiv, dann schaufelten wir Erdbeeren mit Sahne.
»Und was hast du gesagt?«, fragte meine Mutter.
»Dass wir Protestanten sind.«
»Wenn die irgendwann an die Haustür kommen, trete ich aus«, warf ich ein.
»Auch wenn dir der Pfarrer nur zum Geburtstag gratulieren will?«
»Kommt drauf an, ob er dann auch von Jesus redet.«
»Aber das ist sein Beruf.«
Überall auf der Welt klopfte es in diesem Moment an den Haustüren oder ans Wellblech der Hütte, überlegte ich. Menschen öffneten skeptisch und blickten in das mild lächelnde Gesicht eines Seelenvertreters. Mir schauderte.
Was passierte eigentlich, wenn die Katholiken an die Tür eines Zeugen-Jehova-Haushalts klopften?
»Kommen Sie doch rein. Ja, wir haben Zeit, der nächste Weltuntergang ist erst in ein paar Wochen angekündigt.«
Wusste der Papst davon? Und was würde Jesus machen, wenn er aus seinem Mittagessen geklingelt an der Haustür ein missionarisches Rentnerpärchen vorfände? Ginge er überhaupt an die Tür?
»Letzte Woche waren schon die anderen da«, erzählte meine Mutter.
»Wer?«
»Na, die Ordentlichen.«
»Ach ja, die Mormonen.«
»Men in Black«, ergänzte mein Bruder.
Vor vielen Jahren hatte ich mal welche eingeladen, um zu wissen, wie so ein erstes missio­narisches Gespräch verlief. Zwei junge Männer im Anzug malten Strichmännchen auf ein Blatt Papier, einen Kreis darum, und das sollte dann irgendwas über Gott aussagen. Erstaunt musste ich feststellen, dass diese Mormonen überhaupt nichts zu sagen hatten. Sie redeten, aber sie sagten nichts. Ihre Kinder würden zu verklemmten Evolutionsleugnern erzogen werden und ihr heiliges Buch war ein gruseliges Machwerk des sagenumwobenen Gründers aus dem 19. Jahrhundert. Obwohl es ziemlich schlecht geschrieben ist, glaubten sie, dass Gott selbst der Autor war – es stand bei mir nur umgedreht im Regal. Trotzdem ich ihnen deutlich gemacht hatte, dass das mit uns nichts wird, brachten sie mir eine Woche später selbstgebackenes Zimtbrot vorbei. Ich habe es natürlich nicht angerührt, es war mit Gedanken vergiftet.

Rezession
Nach der letzten Wurfsendung dieser Art entwickelte ich die These, dass man genau die Werbepost bekommt, die man auch verdient. Damals erreichte mich am Rosenthaler Platz eine Broschüre, die mir weismachen wollte, dass mich ein koffergroßes Massenspektrometer nachhaltig gegen Terroristen schützen kann. Und außerdem, dass aus 10 000 Euro ganz schnell eine Million werden können, sollte ich mein Geld an die richtige Kontonummer überweisen.
Auch der Wohnort spielte eine Rolle; mit derlei Angeboten rechnete ich also durch meinen sozialen Abstieg in den Wedding nicht. Weit gefehlt.
»Die Rezession droht«, stand auf dem gelbschwarzroten Heftchen.
»Goldaktien kaufen – JETZT!«
»Lieber Investor«, wurde ich angesprochen und klimperte gespannt mit den drei verbliebenen Centstücken meines Barvermögens in der Hosentasche, »es ist sehr wahrscheinlich, dass wir uns im Jahresverlauf inmitten einer scheußlichen Rezession befinden.«
Ich wusste zwar mit dem Wort umzugehen, guckte aber doch nach: Eine Rezession liegt vor, wenn eine Wirtschaft zwei Quartale nacheinander nicht wächst oder sogar schrumpft, bei einer längeren Rezession nennt man sie Depression. Alles bekannt so weit, Konjunkturen verlaufen der Theorie nach in Kontraktionen aus Aufschwung und Rezession. Die Phasen sind langfristig verursacht und lösen sich ab.
»Aber das heißt nicht: Aussteigen aus dem Markt. Nein, keinesfalls. Kluge Investoren machen auch dann Geld, wenn der Markt abrutscht.«
Ich legte meine Pistole in den Schrank zurück, vielleicht war ja doch noch was möglich. Gold.
»Denn Gold steigt im Wert, wenn der Markt einbricht.«
Gold glitzerte auch, besonders in der eigenen Vorstellung, und die Aussicht auf Gold hatte ganze Kulturen vernichtet. Gold befand sich jetzt in unseren Computern, und es würden nicht die letzten Computer bleiben. Der schlimmstmögliche Schwiegersohn auf der Broschüre empfahl mir, in eine Goldmine in Peru zu investieren, »mit laufender Produktion«.
»Aber klein wird das Unternehmen nicht mehr lange sein«, versprach er fachmännisch, »so aggressiv wie das erfahrene Management die Expansion vorantreibt.«
Schon als König Midas vor mehr als 2 600 Jahren die kleinen Bröckchen aus Silber und Gold aus dem Fluss vor seiner Haustür fischte, wurde eine Gruselgeschichte daraus – kurz darauf schlug man sich des Materials wegen in ganz Griechenland die Köpfe ab, und eigentlich ist die Geschichte des Goldes in diesem Punkt immer die gleiche geblieben.
Warum war der Broschüre nicht gleich eine steril eingepackte Schreibfeder beigelegt, die scharf genug war, sich ausreichend Tinte für eine Unterschrift aus dem Unterarm zu ritzen?
Als Kind der Achtziger konnte ich in Fällen moralischer Unrast problemlos den langhaarigen Musiker im Kopf aufrufen, der mir im stolprigen Deutsch aus dem Fernseher erklärte, dass die Regenwälder bald von diesem Planeten verschwinden würden, wenn wir nicht gegensteuerten. Und da ging es nur um Bananen oder Hamburger. Aus Sting wurde Krombacher, die Wüsten wuchsen weiter und die einfachsten und größten Goldvorkommen unserer Welt waren längst geplündert. 50 bis 100 Tonnen Erde mussten in den verbliebenen Regionen umgewühlt und oft mit gigantischen Mengen Zyanid getränkt werden, um gerade mal die Goldmenge eines Eherings zu gewinnen.
»Suchen Sie nach einem sicheren Hafen in unsicheren Zeiten?«, stand auf der Broschüre.
»Der Bär brummt«, direkt darunter.
Und: »Gold – der neue Bullenmarkt«.
Was aber bei näherem Hinsehen wirklich in der Broschüre stand, war der Aufruf, gemeinsam in den Krieg zu ziehen. Der Beitrag für die Kriegskasse war erstaunlich gering, passte also doch zum Wedding. Ein Euro und 28 Cent war der letzte dokumentierte Schlusskurs. Sechs Wochen später war die Aktie um explosive fünf Cent angestiegen.
Die Landkarten der Broschüre markierten die Lage der Mine in Peru und die angrenzenden Minen anderer Unternehmen. Jeder der Orte war durch ein schwarzes oder rotes Fadenkreuz markiert, hier waren also die Offensivstellungen. Darunter war ein Bild grün gestrichener Transportfahrzeuge der Nummern 97, 92 und 87. Man suggerierte einen ganzen Fuhrpark, voll einsatzbereit, den ganzen vergifteten Schutt, der mal eine Landschaft war, wieder über das Schlachtfeld zu verteilen. Früher schüttete man noch Salz auf die Felder, nur eine Atombombe wirkte jetzt effektiver als aggressiver Goldabbau. Die Generäle der Schlacht tüftelten derweil an den nächsten Zielen, schon im vergangenen Jahr hatte man »mit einer Performance von durchschnittlich 56,4 Prozent den Vogel abgeschossen«. Das konnte man wahrscheinlich wörtlich nehmen.
Man baute außerdem auf die wachsende Wirtschaftskraft Indiens und Chinas und kalkulierte schon mal den Kriegsgewinn: »Rechnet man die instabile politische Lage in den Goldpreis ein, könnte dieser leicht explodieren.«
Keiner von ihnen wusste aber wahrscheinlich, wie das Gold überhaupt entstanden war, während sie Südamerika Wunden zufügten, die man auch aus dem Weltall sehen konnte.
Wie tragisch aussichtslos erschienen allein die jahrhundertelangen Versuche der Alchimisten, Gold zu erzeugen, vor dem Wissen, dass es nur in den Supernovae besonders großer Sterne entsteht, wenn in gigantischen Explosionen herumsausende Elementarteilchen die nötige Menge von 79 Protonen für ein kleines Goldatom zusammensammeln. Das legt dann eine wirklich sehr lange Reise bis in eine Zahnfüllung zurück. An dem allergeringsten Teil seiner Geschichte haben wir als Menschen mitgeschrieben, nicht mit gutem Stil und mit peinlichem Schlusssatz bislang. Ganz eindeutig.
Ich verbrannte die Broschüre nicht, ich scannte sie ein.

Einblick in meine Lidl-Akte
17.07 Uhr – Frank S. betritt den Markt an der Müllerstraße. Zweiter Besuch dieser Woche, aber zwei Stunden früher als Dienstag. Die Hose könnte mal wieder in die Wäsche, und man sollte ihm Werbung der Friseure im Umkreis zustellen. Er wirkt müde.

17.08 Uhr – Frank S. wühlt in der rechten Hosentasche. Er blickt zum Hinweisschild »Nicht ohne Wagen einkaufen« und zögert nicht, das Gebot zu missachten und ohne durch die Drehtür zu gehen. Zieht generell nur in einem von fünf Fällen einen Wagen.

17.10 Uhr – Frank S. zögert kurz an den Spirituosen, er betrachtet eher die Preisschilder der Weinsorten als die Etiketten. Er geht ohne eine Flasche weiter zum Gemüse.

17.11 Uhr – Frank S. kauft die günstigsten Strauchtomaten, reißt aber penibel alles Grüne ab, damit es nicht mitgewogen wird.

17.13 Uhr – Frank S. sucht hinter den vorderen Milchpackungen nach Milchpackungen mit längerem Haltbarkeitsdatum. Er bringt die Anordnung durcheinander und bemerkt nicht, wie ein Kunde in seinem Rücken wartet und einen Moment später entnervt weiterfährt.

17.15 Uhr – Frank S. bekommt offenbar eine SMS, aber es stellt sich doch nur als Warnton zum Akkuladestand heraus. Möglicherweise ein Hinweis auf unbezahlte Stromrechnungen. Er blockiert derweil den Gang, eine Kundin mit Wagen kommt mehr als zehn Sekunden lang nicht an ihm vorbei.

17.19 Uhr – Frank S. stapelt Spaghetti (günstigstes Produkt), Hackfleisch gemischt (Sonderangebot) und ein Paket H-Sahne auf seinen angewinkelten linken Arm. Nach einem kurzen Blick auf den Preis legt er die H-Sahne zurück und nimmt eine frische Packung aus dem Kühlregal. Preisunterschied: vier Cent. Offenbar keine Veränderung des Einkommens in den letzten vier Monaten.

17.21 Uhr – Frank S. steht an der Kasse und sieht der zahlenden Kundin Patrizia M. vor ihm auf den Hintern. Fazit: Gewohnt geschäftsschädigendes und ignorantes Verhalten des Kunden Frank S. bei minimalem Umsatz ohne akute Steigerungstendenz. Ungebührliches Verhalten gegenüber anderen Kunden, hohes Risiko von Warenverlust, erhöhter Nachbereitungsbedarf an den Regalen. Empfehlung: Hausverbot.

Score

Mein Leben war doch ein Computerspiel, ich wusste es.
»Das tut mir leid, da können wir nichts machen. Ihr Score ist zu niedrig«, erklärte mir der Bankangestellte. Wir sahen auf ein paar nüchterne Zahlen auf dem Bildschirm.
»Mein Score?«
»Ja, ein Wert für die Eingänge, das bedeutet, Sie haben zu geringe Einnahmen.«
»Das weiß ich selbst, sonst wäre ich nicht hier.«
»Und Sie sind selbständig?«
»Künstler.«
»Sie haben ja auch kein Geschäftskonto.«
»Ich bin Mikrounternehmer.«
»Mikrounternehmer?«
»Oder besser Nanounternehmer.«
»Naja, wie ich schon sagte: Ihr Score ist zu niedrig. Aber handeln Sie das mit Ihrer Stammfiliale aus, da lässt sich bestimmt was machen.«
Die war weit weg am Rosenthaler Platz und die BVG streikte. Es schneite außerdem, ich speicherte meinen Spielstand.

Indische Blackbox

Eine Blackbox bezeichnet ein System, von dem nur das äußere Verhalten, Input und Output, betrachtet werden kann. Entweder man weiß nicht, wie die Blackbox arbeitet, oder man möchte unabhängig davon ein Urteil treffen. Genau eine solche Blackbox ist der Inder um die Ecke gegenüber den Höfen.
Nun dachte ich, längst alles, was möglich ist, beim Inder erlebt oder wenigstens alle Varianten von Inder-Erlebnissen gehört zu haben. Weit gefehlt. Der Sonderfall, der sich eben zugetragen hat, verdient es, erwähnt zu werden: Wir hatten nicht viel Zeit, aber eine Stunde sollte ja reichen. Wir setzten uns nach draußen und waren die einzigen Gäste bislang. Die Kellnerin kam heran und brachte uns die Karten. Dann holte sie ein Essenspäckchen aus dem Restaurant, stieg in ein Auto und musste offenbar ausliefern. So weit, so gut – das kannte ich schon – der Oberkellner nahm stattdessen unsere Bestellung auf.
»Alu Gobi«, sagte meine Freundin.
»Okay, Alu Gobi.«
»Ich nehme Biryani.«
»Welches Fleisch?«
»Mit Lamm, bitte.«
»Okay, Lamm Biryani.«
»Ja, und zwei Mango Lassi«, ergänzte ich. Bald kamen die Lassi und scharfer Knabberkram, die Kellnerin war noch unterwegs.
Während der nächsten halben Stunde kamen viele weitere Menschen in das Restaurant, manche bestellten, fuhren wieder weg und kamen wieder, trugen ihr Essen nach Hause. »Dauert noch einen kleinen Moment«, wurden wir beruhigt, die Kellnerin hatte sich wohl auch verfahren.
Sie kam mit wehenden Fahnen zurück, noch eine Viertelstunde verging, und gerade auf un­sere letzte Minute Geduld brachte sie das Essen an den Tisch, etwas Grünes und etwas Rotes. Von Biryani keine Spur, und keines von beiden sah nach Alu Gobi aus.
»Ja, aber was ist denn das, was Sie da mithaben?«, fragten wir freundlich.
»Irgendwas mit Fisch«, sagte die Kellnerin.
»Das haben wir nicht bestellt.«
»Welche Nummern haben Sie denn gesagt?«
»Keine Nummern«, dieses Problem wussten wir schon zu vermeiden.
»Und was hatten Sie bestellt?«
»Alu Gobi«, sagte meine Freundin.
»Und was ist das?«, fragte die Kellnerin.
Zuerst wussten wir nicht, was wir antworten sollten. Dann blieb uns nichts anderes ­übrig. »Kartoffeln und Blumenkohl mit Curry.«
Sie durchwühlte daraufhin mit dem Löffel beide Gerichte und suchte Blumenkohl oder Kartoffeln. Ich fragte erneut, was sie denn eigentlich da in der Hand hätte, vielleicht würden wir das ja auch nehmen. Um das zu klären, trug sie beide Teller noch einmal zurück ins Restaurant.
»Mit Käse gefüllte Kartoffeln und ein Fischgericht.«
Mehr wusste sie nach ihrer Rückkehr immer noch nicht.
Wir sagten »Dankeschön« und »Auf Wiedersehen«. Ich bezahlte die Mango Lassi und nicht mal jetzt zog das Restaurant die Notbremse und gab die Getränke aus, immerhin war eine Stunde vergangen. Was hier zwischen Input und Output passiert war, wusste niemand. So viel war sicher.

Gotteslästerung

Heiligabend, ein Uhr nachts. Ich ging die Seestraße hinauf, aber an meiner Wohnung vorbei. Ich musste noch gucken, ob bei Heikos Echsen nebenan das Licht aus war. Wenn das Licht noch nicht aus war, würde ich das Licht ausmachen. Licht an, Licht aus. Eine einfache Aufgabe, die normalerweise von Zeitschaltuhren erledigt wurde. Die hatten aber einen extrem hohen Krankenstand, manche waren überfordert, fast jeden Tag gab es einen elektronischen Herzstillstand, deshalb brauchte es einen Nachtwächter. Da der eigentliche Nachtwächter aber für ein paar Tage außerhalb der Stadt war, brauchte es einen Ersatznachtwächter. Ich war der Ersatznachtwächter. Wenn die Nacht noch nicht da war, obwohl sie sollte, würde ich dafür sorgen, dass es Nacht wurde.
An der Ampel über die Lüderitzstraße winkte mir ein junger Mann, ob ich eine Zigarette für ihn hätte, er würde sie auch bezahlen. In seiner Handfläche lag eine gelbe Münze.
»Ich habe nur Drehtabak.«
»Is’ egal, kann ich auch drehen.«
»Schon okay, kein Problem«, sagte ich und wühlte den Tabak aus der Tasche, »aber ich will kein Geld.«
Er war empört: »Ey, komm mir nicht so, wenn du mein Geld nicht nimmst, fühle ich mich schlecht. Das geht nicht, du musst das Geld nehmen, weißt du? Ich hab’ hier gutes Geld, und wenn ich es dir nicht gebe, Alter, dann fühl’ich mich wie ein Penner, weißt du?«
20 Cent gleich 60 Lindendollar, rechnete ich Pi mal Daumen um. Na, wenn er unbedingt wollte.
»Weißt du schon, meine ich nicht so mit Pennern, aber hey: Du musst unbedingt das Geld nehmen, weißt du?«
Ich gab ihm ein Blättchen und eine Tabakfüllung, da drehte er sich halb weg.
»Warte mal, ist ein bisschen wenig.«
»Hey nein, lass … «
»Und hier noch der Filter.«
»Okay, gut, ey, ist genau richtig. Du weißt doch genau, wie viel du immer nimmst.«
»Ja, aber erst mit dem Filter ist es okay.«
»Okay, ey, du bist so voll korrekt, Mann.«
Ich ließ die 20 Cent in den Tabakbeutel rutschen. Das machte ich nie, warum steckte ich die Münze nicht in die Tasche?
»Du bist voll selten, ey, voll krass, voll nett, weißt du, wie ich meine, weißt du, sonst so …  Du bist voll freundlich, ich danke dir, Mann.«
»Kein Problem.«
Er streckte die Hand aus, wir schüttelten, dann kam er wieder näher.
»Weißt du, ich bin auch nicht so hier so ein Muslim oder so.«
»Okay.«
»Nein, weißt du, ich glaube nicht daran, ist doch alles Scheise, guter Muslim, so’n scheise Allah.«
Er würgte den Namen des Gottes von ganz unten hoch, ließ ihn in der Kehle verklumpen, gurgelte ihn Buchstabe für Buchstabe nach oben. Ich war beeindruckt.
»Nein, weißt du, glaube ich wirklisch nicht so Scheise, ich bin Christ!«
Um Himmels willen, dachte ich, welcher Film lief jetzt. Seit wann gab es im Wedding Freikirchen, und wo? Womöglich gleich um die Ecke, was machten die da? Würde er gleich noch die Evolution leugnen?
»Ich glaube an Jesus, weißt du?«
Sprachlosigkeit auf meiner Seite. Aber jeder musste seine eigenen Erfahrungen machen, dachte ich nur, und wer Allah aus dem Kopf geräumt hatte, konnte es auch mit Jesus aufnehmen. Dann schüttelte er zum dritten Mal meine Hand.
»Ey, pass gut auf dich auf, Mann, sind eine Menge komische Leute hier, weißt du? Mansche voll krank, aber weißt du, bin ich so froh, dass du so korrekte Typ bist, ey. Können wir hier einfach so reden, keine Probleme, andere sind nicht so, weißt du?«
»Ich weiß.«
»Frag ich nach eine Zigarette, gehen sie gleich weg so, schnell weg, nur Beispiel, aber du bist nicht so, ich wünsche dir eine gute Nacht, weißt du, ist so viele Scheiße, aber musst du immer Hoffnung haben«, er pochte auf seinen Oberkörper in Herzgegend, »wir sind alle gleich, Mann! Weißt du, wie wir: Stehn so und quatschen und alles ist okay. Entschuldige, wenn ich so rede, aber meine ich so, verstehst du schon. Du siehst halt so besser aus und so, pass auf, weißt du? Komm, ich geb’ dir noch mal die Hand, will dir nicht Zeit stehlen, aber du bist so voll korrekt. Ich danke dir für deine Freundlichkeit, Habibi.«
Er schüttelte wieder meine Hand. »Weißt du, ich bin Christ!«
»Ich bin Atheist«, sagte ich.
»Ist noch besser«, sagte er.
Ich ging die Seestraße weiter, er in die andere Richtung. Er winkte.
Das Türschloss der 101 war zum Kotzen. Fünf Minuten ruckelte ich, bis es endlich nachgab, dann schaute ich kurz in den Hof Richtung Schuppengetier. Die Nacht war in vollem Gange, für Echsen und Menschen zugleich.

Hallesches Tor
Ich hatte nicht bemerkt, dass mich das Kind in der U-Bahn wohl schon längere Zeit anstarrte. Gleich musste ich umsteigen und klappte daher mein Buch zu, Schloss Gripsholm, Balsam für das innere Ohr. War es ein Junge oder ein Mädchen? War er zehn oder sie sieben? Und was bewegte es, mir jetzt unvermindert in die Augen zu starren? Ich stand auf und ging Richtung Tür, Kind und Mutter vor mir, die ebenfalls aussteigen wollten. Ich sah einen Zopf unter der Mütze hervorkommen, also wohl doch ein Mädchen.
»Mama?«, sie zog ihr am Ärmel, die Mutter sah sie an. »Kannst du eigentlich lesen?«

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Frank Sorge: Brunnenstraße 3, Berlin. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2011. 168 Seiten, 12,95 Euro. Das Buch und das Hörbuch erscheinen dieser Tage. Den Autor kann man jeweils donnerstags bei den Brauseboys in Berlin-Wedding seine Geschichten vortragen hören.